Journal Dienstag, 22. August 2023 – Josephine Tey, The daughter of time
Mittwoch, 23. August 2023 um 7:57Diese Aufnahme von mir als knapp Achtjährige macht etwas mit mir. Ich mag dieses Mädchen und ich frage mich, wo die Frau ist, die dieser Blick, dieses Körperbewusstsein versprachen einmal zu werden. Selbst bin ich irgendwann in eine andere Richtung abgebogen, aus jedem Kind können ja die unterschiedlichsten Erwachsenen werden. Aber irrationalerweise vermisse ich diese Frau schmerzlich, ich hätte sie gern kennengelernt.
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Ein sehr anstrengender Tag. Den ich wie jedes Jahr am liebsten übersprungen hätte, aber so funktioniert das Leben nicht, genau das nehme ich ihm ja übel.
Nochmal Balkonkaffee in der Dämmerung, die Luft bereits bedrohlich warm. Wie geplant nahm ich das Rad in die Arbeit, um bei Bewegung im Freien meinen Kreislauf nicht zu sehr mit der Hitze zu strapazieren.
Emsiger Arbeitsvormittag, der Aufbruch zum Mittagstermin wäre mir gemächlicher gelungen, hätte ich ihn nicht 30 Minuten zu früh gestartet. Musste also diese Zeit vorm Enthaarungsladen totschlagen, kaufte halt und aß zu Mittag ein Laugenzöpferl, die 30 Minuten reichten leider nicht, um den Ärger über meine eigene Blödheit zu veratmen. Vielleicht sollte ich dankbar sein, dass so meine Grundgereiztheit des Tages wenigstens ein Ziel hatte. Grundgereiztheit plus Hitze nahmen mir Appetit: Als mein Magen gegen fünf doch schon wieder knurrte, wurde ich böse.
Das Wachs war diesmal sehr heiß gewesen, meine Beine brannten noch bis in den späten Feierabend. An dem ich mit vollverkrampftem Gemüt durch Föhn-heiße Sonne nach Hause radelte, Zwischenstopp im Vollcorner für nötige Einkäufe.
Daheim Herrn Kaltmamsell mit kurzem Anknurren signalisiert, dass Abstand ratsam war. Jetzt galt es noch, den Abend rumzukriegen. Der Ernteanteil war weggegessen, absichtlich schnell und effizient, damit wir die letzten Sommerabende für Draußengastronomie nutzen konnten. Bei Lokalsondierung am Vorabend hatten wir festgestellt, dass drei Stationen auf unserer Wunschliste für unter der Woche gerade wegen Urlaubs geschlossen waren: Schnitzelgarten, Melina, Pizza bei Il Ritrovo an der Lindwurmstraße. Ich hatte also in meine umfassendere Restaurantliste “Mal ausprobieren” geklickt und in der fußläufig erreichbaren Goldmarie reserviert (wundervoller Name, Speisekarte erfreulich Gemüse-lastig).
In meiner gestrigen Verfassung hatte ich darauf überhaupt keine Lust, hatte aber die Reservierung per automatischer E-Mail-Nachfrage bereits bestätigt und wollte mich GEFÄLLIGST NICHT SO ANSTELLEN (das ist der Tonfall, den ich in dieser Verfassung mir gegenüber drauf habe).
Bis dahin (es war nur noch ein später Tisch nach acht zu haben gewesen) schlug ich die Zeit mit Maniküre, Yoga-Gymnastik, Romanlesen tot. Mit Herrn Kaltmamsell spazierte ich die Lindwurmstraße entlang zum Restaurant, er lenkte mich mit Beobachtungen zu seiner derzeitigen Lektüre ab, Bov Bjergs Der Vorweiner; es stellte sich zu meiner Überraschung heraus dass, Bov und Herr Kaltmamsell viel gemeinsame Lese-Vergangenheit haben müssen.
Nächste Ablenkung: Alkohol.
Ich suchte uns einen burgenländischen Gemischten Satz Aus den Dörfern von Rosi Schuster aus der kleinen, ausgesuchten Weinkarte aus: Wundervoll würzig und rauchig. Tat seine medizinische Wirkung (endlich ein Stückchen Entspannung) – und passte überraschend gut zu meiner Vorspeise, einer mächtigen Artischocke (die berüchtigt schwer mit Wein zu kombinieren ist – merken).
Herr Kaltmamsell aß gebratene Semmelstoppelpilze auf Sauerteigbrot.
Hauptgang war für Herrn Kaltmamsell ein Bollito misto (Tafelspitz, Polpette und Zunge vom Rind), ich aß sehr gute Linguine alla Norma.
Daheim nur noch ein wenig Schokolade und kurze Planung des nächsten Tags: Ich hatte mir frei genommen, um einen der letzten Sommertage für einen Ausflug auf den Chiemsee zu nutzen.
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Ein ganz hinreißender britischer Krimi, veröffentlicht 1951. In Josephine Teys fünftem Roman aus der Reihe um einen Inspector Grant beschränkt sie seinen Wirkungsradius auf ein Zimmer: ein Krankenzimmer, in dem der Inspector nach einem Unfall liegt. Ihm ist schrecklich fad, so versorgt ihn eine Freundin, Marta, von Beruf Theaterschauspielerin, mit Drucken historischer Portraits: Grant ist besonders gut darin, Menschen ihre Persönlichkeit am Gesichtsausdruck abzulesen – und bleibt an einem Portait von Richard III. hängen; er sieht in seiner Wahrnehmung so ganz anders aus, als was Briten sofort zu ihm einfällt. Und so beginnt er zu ermitteln, woher diese Diskrepanz kommt, ob die schlimmen Dinge, die man sich über Richard erzählt (u.a. Bruder und zwei kleine Neffen umgebracht), überhaupt stimmen.
Das ist ganz großartig erzäht: In Zeiten vor Internet muss der Ermittler auf Bücher zurückgreifen und vergleicht einige Darstellungen des relevanten historischen Abschnitts, von Zeitgenossen über historischen Roman bis Kindergeschichten. Er befragt mit nahezu derselben Erntshaftigkeit wie Zeugen anfangs das Krankenhaus-Personal, wie diese die Zusammenhänge aus dem Schulunterricht in Erinnerung haben – und was sie von dem Portraitierten halten. Einges davon widerspricht sich, manches widerspricht belegbaren Fakten.
Unterstützung bekommt er von einem Doktoranden am British Museum, der für Grant Quellen sucht und prüft. Schnell geht es nicht nur um Richards Geschichte, sondern überhaupt um die Diskrepanz zwischen wirkmächtigen Geschichten, die als “historisch” angesehen werden, und überprüfbaren Fakten. Indirekt führt der Roman wundervoll vor, wie Quellenarbeit in der Geschichtswissenschaft funktioniert. Oder investigativer Journalismus.
Die wenigen Live-Figuren des Romans sind lebendig und glaubwürdig gezeichnet, allerdings auch über die personale Erzählweise und Grants Sicht mit Hang zum Misogynem. Als Easter Egg lässt Josephine Tey sich selbst auftauchen: Marta berichtet bei ihren Besuchen immer wieder von einer Theaterautorin, die sie dazu bekommen möchte, ein Stück für sie zu schreiben, die aber schon wieder statt dessen irgendeinen Krimi schreibt. (Josephine Tey ist das Pseudonym von Elizabeth Mackintosh, die unter einem anderen Pseudonym Theaterstücke verfasste.)
Und wie so oft in Genre-Literatur erfährt man Zeithintergrund eher aus Versehen, unter anderem:
– Dass in damaligen Krankenhäusern das Pfegepersonal im Haus wohnte (und es keine verheirateten Krankenschwestern gab).
– Dass in den Patientenzimmern geraucht wurde.
– Dass Patient*innen damals im Krankenhaus geheilt wurden und erst dahezu genesen entlassen. (Das hatte ich tatsächlich vergessen: Dass die “blutige Entlassung” Folge der letzten Gesundheitsreformstufe mit ihren Fallpauschalen war.)
Der Titel des Romans bezieht sich übrigens auf ein Sprichwort, das ihm vorangestellt ist:
Truth is the daughter of time.
(Ganz schön optimistisch.)
Herr Kaltmamsell hatte den Krimi schon vor drei Jahren gelesen und dazu gepostet, mit völlig anderen Schwerpunkten als ich.
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Zuguck-Fußball interessiert mich auch weiterhin nicht, egal von wem gespielt. Aber mich interessieren Mechanismen, die Frauen unterdrücken. Zum Beispiel der Übergriff gegen eine spanische Nationalspielerin. Nora Hespers analysiert für sportschau.de:
“Fußball-WM: Ein Kuss als Machtdemonstration”.
…warum sie sich nicht gewehrt hätte? Ihre Antwort: “Was hätte ich denn tun sollen?” Ja, was hätte sie tun sollen? Rubiales, dem Verbandschef vor den Augen der Weltöffentlichkeit eine Ohrfeige verpassen? Hätte sicherlich für ein großes Hallo gesorgt.
Aber wahrscheinlich ging es ihr, wie es vielen Frauen in diesen Situationen geht: Sie war schlicht überrumpelt. Denn eigentlich, so könnte man meinen, sollten Frauen gerade im Rampenlicht vor derartigen Übergriffen sicher sein. Sind sie aber nicht. Und das sagt viel darüber aus, was Männer für “normal” halten, was sie sich erlauben können – und Frauen eben nicht.
Überrumpelung gemischt mit dem innigem Wunsch, das sei gerade einfach nicht passiert. Und wenn ich so tue, als sei es nicht passiert, geht es vielleicht weg.
Weil ein großer Teil der Menschen immer noch denkt, das sei “ja nicht so schlimm” und “nur ein Kuss, da muss man kein Drama draus machen”. Es geht nicht um den Kuss. Es geht um das Machtgefälle. Und in diesem Machtgefälle ist dieser Kuss ein Akt der Gewalt. Allein schon deshalb, weil der Kopf von Hermoso so festgehalten wird, dass sie dem gar nicht ausweichen kann.
die Kaltmamsell
6 Kommentare zu „Journal Dienstag, 22. August 2023 – Josephine Tey, The daughter of time“
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23. August 2023 um 8:44
Liebe Frau Kaltmamsell,
beim Lesen frage ich mich, was den 22.8. zu einem Tag macht, den Sie gerne überspringen würden…? Sie müssen nicht antworten, wenn es Ihnen zu persönlich ist.
Übrigens ein wirklich schönes Foto von der Achtjährigen!
Beste Grüße und danke wieder einmal für die Einblicke in Ihr Leben!
23. August 2023 um 8:47
Was für ein nettes Mädchen, diese Achtjährige.
Bei mir hat es sehr sehr lange gedauert, bis die Fünfjährige wieder sichtbar wurde, bis ich wieder mit einer Selbstverständlichkeit im Jetzt leben konnte. Das Leben hatte es mir ganz schön ausgetrieben.
23. August 2023 um 9:58
Wenn Josephine Tey gefallen hat, kann ich “The Man In The Queue” und “Brat Farrar” von ihr empfehlen.
23. August 2023 um 10:15
Wenn ich versuche, mir die Kuss- Situation mit umgekehrten Geschlechter- Rollen vorzustelln (was mir übrigens nicht gelingt), wird mir die Absurdität der Situation noch klarer.
Von mir gibt es ein Foto mit 14, bei dessen Betrachtung es mir ähnlich ergeht. Ich frage mich, wo dieses frühere Ich geblieben ist, wann und warum es mir abhanden gekommen ist.
23. August 2023 um 11:00
Nora Hespers hat einen Mastodon-Account und ergänzt dort die Aussagen ihres Sportschau-Artikels, z.B. dieser Thread.
24. August 2023 um 9:31
Was für spannende Gedanken zu dem Foto der Achtjährigen (die btw der Schwester einer Freundin von K2 zum Verwechseln ähnlich sieht)
Ich habe ein Foto von mir mit ungefähr 12 (muss nochmal schaun), mit dem es mir ein bisschen ähnlich geht, wobei ich glaube, dass ich auf Umwegen eine Frau geworden bin, die sich diese 12jährige hätte vorstellen können.