Journal Donnerstag, 31. August 2023 – Ewald Frie, Ein Hof und elf Geschwister
Freitag, 1. September 2023 um 6:17Das war nur eine sehr kurze Vorschau auf Wetterbesserung, nachts hatte es wieder ordentlich geregnet.
Beim ersten Klogang bekam ich aber noch den Vollmond zu sehen.
Ich ging unter dunkeldüsterem Himmel und in warmer Jacke in die Arbeit, zumindest regnete es jetzt nicht.
Emsiger Vormittag, gegen die Bürokälte brauchte ich wieder Strickjacke über Pulli. Statt Mittagscappuccino huschte ich für Obstkäufe auf den Markt am Georg-Freundorfer-Platz – wobei das Huschen an der Schlange am Gärtnerei-Stand jäh endete: Die drei Kundinnen vor mir hatte vielfältige Erzählungen, Wünsche, Anliegen, denen die Verläuferin sehr herzlich und sorgfältig entgegen kam. Mit dem Ergebnis, dass ich meinen Kauf auf ein Kilo Zwetschgen für Wochenend-Kuchen beschränkte, um meine Mittagspause nicht zu sehr zu überziehen.
Zu essen gab es am Schreibtisch einen Kanten selbst gebackenes Brot, außerdem Mango (aromatisch aber Strickprojekt-inspirierend fasrig) mit Sojajoghurt.
Mittel-geschäftiger Arbeits-Nachmittag. Auf dem Heimweg (kalt, aber trocken, am Himmel blaue Flecken) steuerte ich wie geplant einen Weinladen in der Westendstraße an (zufällig entdeckt beim vorbeilaufen, eine deutlich sichtbare Lieferung vom burgenländischen Weingut Pittnauer hatte damals die Ausrichtung des geschlossenen Geschäfts verraten): Wir 2 lieben Wein. In deren Sortiment hatte ich nämlich online sowohl den Pittnauer Dogma Rosé als auch den roten Preisinger KalkundKiesel entdeckt. Ich nahm je zwei Flaschen mit und traf dabei auf die namensgebenden 2, Sabine und Tina; eine erfreuliche Begegnung, ich komme wieder.
Daheim erstmal die schon wieder ausgefallene Süddeutsche auf der Website moniert (mache ich erst abends, wenn ich wirklich, wirklich sicher bin, dass sie nicht mehr kommt), mich noch mehr geärgert, als ich für die Reklamationssseite zustimmen musste, dass meine Daten für Werbezwecke verwendet werden, ohne Opt-out-Möglichkeit (gleich mal per Kontaktformular gemeckert).
Dann die Abschlussfolge Yoga-Gymnastik Adriene “Move” geturnt – ich hatte sie vom 30. auf den 31. August verschoben. Abendessen aus frisch geholtem Ernteanteil: Blattsalat, Tomaten, Gurke mit Haselnussmus-Dressing (ein großartiger Kniff). Zum Sattwerden noch gekochte Eier und ein wenig von der Schinkenkrakauer, die uns einer unserer beiden polnischen Putz-Herren mitgebracht hatte. Nachtisch Schokolade.
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Ewald Frie, Ein Hof und elf Geschwister, nach drei autofiktionalen “Romanen” dieses Jahr also die Familiengeschichte eines universitären Historikers, Fakten- und Quellen-basiert – sehr gerne gelesen.
Bei allem Historikertum schafft Frie erst einmal einen menschlichen, persönlichen Bezug: Er steigt mit den einzigen drei Familienfotos ein, von 1947, 1960 und 1969, inklusive Geschichte der Aufnahmesituation.
Seine Methodik macht Ewald Frie anfangs transparent:
Das ist ihm gelungen: Genau diese Mischung macht das Buch in meinen Augen so einzigartig und charmant.
Die Struktur, die Frie seiner Erzählung durch Großkapitel gibt:
– “Familie, Bauernschaft und Dorf”
– “Die Jahre meines Vaters” (der deutlich älter als die Mutter war)
– “Die Jahre meiner Mutter”
– “Auszug”
– “Nachwelten”
Vieles in den historischen Beschreibungen des Hof-Alltags sagte mir etwas, zum Beispiel die Fachsprache des Viehhandels – ich habe in meinen Lokalredaktionszeiten Ende der 1980er, Anfang der 1990er immer gerne die Landwirtschaftsspalte verantwortet.
Doch am spannendsten waren für mich die Unterschiede zu dem Wenigen, was ich an landwirtschaftlicher Struktur kenne: Bayern unterscheidet sich völlig von Westfalen. So konnte mich überraschen, dass es im Münsterland einen Unterschied zwischen Hof und Dorf gab: Die titelgebenden elf Kinder wuchsen auf einem von vielen alleinstehenden Höfen auf, kamen kaum in Kontakt mit anderen Familien, ins Dorf musste eigens gefahren werden, und das geschah nur zum Kirchgang am Sonntag. In meinem Bayern waren Landwirtschaft und Dorf deckungsgleich, eine Ansammlung von Höfen ergab ein Dorf, Einsiedlerhöfe waren eine so große Ausnahme, dass sie eine eigene Bezeichnung bekamen. Doch so wie ich das in der Vergangenheitsform schreibe (Dörfer bestehen auch in Bayern nur noch zu einem Bruchteil aus Landwirtschaft), beschreibt Frie eine vergangene Struktur: Schon die jüngeren der elf Geschwister (unter anderem er selbst) mussten dank technischem Fortschritt nicht mehr so viel auf dem Hof arbeiten und sein, engagierten sich in Gemeinde und Vereinen, hatten eine Gemeinschaft außerhalb der Familie. Auch war mir nicht bewusst, wie neu die Selbstorganisation der Jugend in Verbänden und Vereinen ist: Sie begann erst im Nachkriegs-Deutschland.
Frie beschreibt und analysiert die strukturellen wie die sozialen Veränderungen seiner Herkunftsgegend, ihre gesellschaftlichen und politischen Ursachen (u.a. hätte ohne die Einführung von BAföG Anfang der 1970er niemand von den elfen mehr als Volksschule und Ausbildung absolvieren können, keiner und keine studieren; ohne staatliche Förderprogramme gäbe es den Frie-Hof seit Jahrzehnten nicht mehr), aber auch die menschlichen und ganz individuellen Auswirkungen auf die Familienmitglieder.
Viel Raum nimmt die sich verändernde Rolle von Frauen auf dem Hof ein, die mir in diesen Details neu war. (Passt hervorragend zu dem Buch, das von Helen Rebanks gestern erschien: The Farmer’s Wife, und das ich seit Bekanntwerden auf meiner Leseliste habe.)
Im letzten Kapitel “Nachwelten” denkt Frie darüber nach, ob diese Bildungs-Entwicklung der Kinder einen “Aufstieg” darstellt – er bezweifelt das: Er besitze “kein Land, kein Haus, keine Tiere, keine Apfelbäume, keine Feuerstelle” wie seine Eltern. Und auch nicht das Fachwissen seines Vaters zu Vererbungsqualitäten von Bullen, nicht dessen Ansehen auf DLG-Schauen, könne nicht das Wetter aus dem Zug der Wolken und der Farbe des Sonnenuntergangs ablesen. Sein Vorschlag: “Umstieg statt Aufstieg?”
Ein zeitspezifisches Detail in der Danksagung:
Die Idee zu diesem Buch gab es schon lange. Die Zeit, es zu schreiben, gab es, als coronabedingte Reise-, Kontakt- und Archivbeschränkungen ein anderes, bereits auf dem Weg befindliches Forschungsprojekt stoppten.
Das ist dann das zweite mir bekannte Werk, das es nur wegen Corona gibt. Das andere ist der gestern erschienene Roman Prophet von Helen Macdonald und Sin Blaché, gemeinsam im Corona-Lockdown geschrieben. (Ebenfalls auf meiner Leseliste.)
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Annette Dittert, Leiterin des ARD-Studios in London, fasst die aktuelle Lage Großbritanniens für Blätter für deutsche und internationale Politik zusammen, sachlich und belegt. Wieder keine Überraschung dabei, dennoch wichtig.
“Geisterschiff Großbritannien: Verdrängen ohne Ende”.
4 Kommentare zu „Journal Donnerstag, 31. August 2023 – Ewald Frie, Ein Hof und elf Geschwister“
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1. September 2023 um 8:06
Danke für die Frie-Rezension. Ich habe es auch gerne gelesen und teile die meisten Deiner Beobachtungen! Bemerkenswert finde ich die These vom Um- statt Aufstieg, die ich hier völlig zutreffend finde angesichts der offenbar reflektierten und auch artikulierten Art, in der diese Familie über sich selbst spricht bzw. gesprochen hat.
1. September 2023 um 8:34
Das Frie-Buch muss ich auch noch unbedngt lesen. Denn meine Mutter ist auf einem sehr ähnlichen Hof nur wenige Dutzend Kilometer entfernt aufgewachsen. Zu einer ähnlichen Zeit.
Ich bin sehr gespannt auf den Abgleich zwischen dem erlebten dort und der Geschichte meiner Familie.
1. September 2023 um 9:57
Vielen Dank für diese Buchempfehlung!
Meine Leseliste wird immer länger.
1. September 2023 um 10:09
Bei einem Freund kurz vor der dänischen Grenze in der Landwirtschaft aufgewachsen, habe ich nochmal andere Varianten als in Bayern und im Münsterland wahrgenommen, was die Sozialstruktur betrifft.