Journal Sonntag, 24. September 2023 – Zurück in München, Sigrid Nunez, A Feather on the Breath of God

Montag, 25. September 2023 um 7:40

Eher gute Nacht, diesmal hatte ich vor dem Lichtaus (nach Anti-Brumm-Einsprühen) nach der Quelle des Mosquito-Summens gesucht und mindestens eine erschlagen. Nur einmal von einem weiteren Summen direkt an meinem Ohr wach geworden.

Gepackt hatte ich schon am Abend davor, jetzt brachte ich die Ferienwohnung auf Ankunftszustand zurück, hinterließ im Küchenschrank Salz, Zucker, Roibuschtee.

Als ich in der Morgensonne vor die Tür trat, war es noch sehr frisch, ich genoss die strahlenden zehn Minuten Weg zum Bahnhof.

Abschied vom Wanderurlaub.

Die Zugfahrt (Umsteigen nur in Hof) verlief komplett reibungslos, ab Regensburg stiegen wie erwartet junge Bayern-Cosplayer*innen mit Bierflaschen in der Hand zu. Wir erreichten München pünktlich kurz vor halb zwei. Am Bahnhof besorgte ich Frühstück.

Herzen und Küssen des vermissten Herrn Kaltmamsell, Kofferauspacken, Wäschewaschen. Um halb drei gab es Frühstück.

Butterbreze, die Oktoberfest-Version. Zu meiner Überraschung passte sogar noch eine Zwetschgennudel dahinter, die Herr Kaltmamsell von einem Besuch bei seinen Eltern mitgebracht hatte.

Ruhiger Nachmittag mit Räumen und Lektüre. Unter anderem las ich meine Oktoberfestflucht vor fünf Jahren nach, beginnend mit der Anreise in den Westerwald. Bei einigen Posts erinnerte ich mich deutlich daran, was ich alles nicht geschrieben hatte – vor allem Menschliches, weil das zwar echt gute Geschichten waren, die Beteiligten aber erkennbar.

Heikles Thema Ferienwohnungbewertungen: Ich versuche ja für andere Interessenten hilfreiche Informationen einzubauen, ohne negativ zu klingen (gelernt beim Schreiben von Arbeitszeugnissen). Zum Beispiel 2022 über das Frieren in der Wohnung in San Sebastián: “Vermieterin stellte reichlich Decken für niedrige Temperaturen zur Verfügung” (Fingerzeig: die Heizung ließ sich nicht anschalten). Und jetzt über die Wanderwohnung: “Alle Räume der Wohnung supersauber bis in den letzten Winkel und mit Raumdüften versehen”. Ich hoffe, so nachfolgenden Mieter*innen die Möglichkeit zu geben, um Entfernung der Düfte zu bitten.

Abends eine Einheit Yoga-Gymnastik, sehr ruhig.

Herr Kaltmamsell sorgte für Abendessen: Gegrillte Maiskolben – hatten wir schon ewig nicht mehr gehabt. Und ein Stück Entrecôte. Ich mixte davor als Aperitif Negroni spagliato, aber mit mehr Prosecco – schmeckte mir besser.

Zum Essen machte ich einen spanischen Wein aus Navarra auf, Domaine Lupier, El Terroir 2017 – der schlecht geworden sein musste. Was auch immer damit passiert war (ich zog einen einwandfreien Naturkorken): Er schmeckte durchdringend nach Plastik, konnte man nicht wirklich trinken.

Nachtisch gab es auch: Herr Kaltmamsell hatte ein vor Monaten eingefrorenes Pastinaken-Püree in einen Parsnip Pie verwandelt.

Serviert mit Clotted Cream und Golden Sirup, schmeckte sehr nach Pastinake.

§

Sigrid Nunez, A Feather on the Breath of God behauptet nicht mal, “a novel” zu sein, ein Roman. Wieder eine autobiografische Geschichte, aber erzählt auf literarisch sehr hohem Niveau und mit einer ganz besonderen Stimme, zudem einer besonders präsenten Erzählstimme. Das brachte mich auf neue Gedanken über autofiktionales Erzählen: Es heißt ja, dass gute Geschichten nur denen passieren, die sie erzählen können; das bedeutet aber auch zu erkennen, was überhaupt eine gute Geschichte ist. Und wenn jemand Autorin ist, Schreiberin, Erzählerin – sieht sie es natürlich, wenn ihre eigene Biografie oder ihr eigener familiärer Hintergrund eine gute Geschichte ist. Wie im Fall eines Vaters mit chinesisch-panamaischen Wurzeln, als Kind mit der chinesischen Familienseite in die Vereinigten Staaten eingewandert, der als GI und Teil der Besatzungsmacht in Deutschland nach dem zweiten Weltkrieg an eine deutsche Frau geriet, mit ihr Kinder hatte und sie mit in die Vereinigten Staaten nahm.

Nunez erzählt diese Geschichte ihrer Familie in vier inhaltlich miteinander verwobenen Kapiteln, die jeweils als eigene Geschichten tragen; die ersten beiden, “Chang” über ihren Vater (der nie richtig Englisch lernte, mit zwei Jobs nie zu Hause war, dessen Hintergrund sie erst nach seinem frühen Tod erfragte), “Christa” über ihre Mutter (die sich sehr über ihr Deutschtum definierte, kreuzunglücklich in den USA und in ihrer Ehe war), erschienen zunächst auch als eigenständige Werke. Das dritte Kapitel “A Feather on the Breath of God” dreht sich dann um die Kindheit der Erzählerin, darin im Mittelpunkt ihre Zeit mit Ballettleidenschaft. Im vierten Kapitel “Immigrant Love” beschreibt Nunez ihr Verhältnis zu Männern am Beispiel der Affäre mit einem ihrer erwachsenen Englischschüler, einem verheirateten Russen, sehr weit weg von ihren sonstigen Lebensumständen.

Meine Ausgabe beginnt mit einer “Introduction” von Susan Choi, die ich wohlweislich erst nach der restlichen Lektüre las – eine gute Idee, denn sie ist auch erst danach sinnvoll. Choi schreibt unter anderem über ihr Leseerlebnis und wie wichtig es für sie war, jemanden mit ähnlicher Herkunft literarisch zu erleben.

Womit ich mich wiederum indentifizierte, war die Freiheit des Nirgends-dazugehören-müssens, die aus der Erzählstimme spricht: Eine vielfältig bunte Herkunft, in Nunez’ Fall beim Vater sogar ein wenig unklar, bietet die Möglichkeit, alle Community-Angebote abzulehnen. Während sonst das Gefühl, nirgends richtig dazuzugehören, fast immer als Schmerz, Mangel, Sehnsucht beschrieben wird, kenne ich es seit meiner Kindheit als etwas Positives, als Erleichterung – die ich hier bei Nunez zum ersten Mal auch literarisch reflektiert lese.

die Kaltmamsell

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