Journal Donnerstag, 23. November 2023 – Immer weniger, wer ich sein möchte

Freitag, 24. November 2023 um 6:36

Wieder recht gut geschlafen, ich genoss die Kombination aus kalter Raumluft und kuschligem Federbett ohne Schwitzen.

Draußen war es knapp über Frost kalt, erster Einsatz der neuen Winterjacke, dem gebrauchten Schnäppchen (ein Drittel des Neupreises) aus dem Internet.

Die Jacke passt, sitzt allerdings so körpernah, dass mit dickem Pulli die Ärmeleinsätze ein wenig knapp in der Achsel sind. Allerdings beteuerte Herr Kaltmamsell aus der Erfahrung mit dem Männermodell, dass die Jacke sehr wahrscheinlich nie einen dicken Pulli nötig machen wird. Auf dem Weg in die Arbeit erwies sich das langärmlige Shirt drunter als genau richtig. Meine Freude über die Geldersparnis ist ehrlich nicht so groß wie die über den Umstand, dass ich die Jacke aus zweiter Hand kaufen konnte.

Vor unserer Haustür passierte ich Verdi-Streikposten, Unikliniken werden gestern und heute bestreikt.

Ebenfalls vor unserer Haustür musste ich mich über mich selbst ärgern. Ein Mann fragte mich neben seinem Auto, wo es hier Parkplätze gebe, er habe einen Termin in der Klinik. Ich sagte ihm, dass ich selbst kein Auto hätte und hier wohnte, die denkbar am wenigsten Auskunftfähige sei. Eine andere Passantin zückte ihr Smartphone und begann für ihn Parkhäuser zu recherchieren.
Ärger über mich selbst, denn meine Reaktion war saublöd und half dem Frager überhaupt nicht. Mir war schnell klar, dass sie in dem Ärger über sein Ansinnen wurzelte: Ich unterstellte ihm Doofheit, weil er in die Münchner Innenstadt mit dem Auto gefahren war, ihm offensichtlich nicht in den Sinn gekommen war, dass irgendwas daran Probleme verursachen könnte. Nur ist halt wahrscheinlich, dass er in einem Umfeld lebt, in dem Mobilität mit eigenem Pkw die einzig denkbare ist. Und statt ihm auf dieser seiner Ebene lösungsorientiert zu helfen, z.B. indem ich nach nahen Parkhäusern suche, ließ ich meine Reaktion vom Dooffinden dominieren. Sehr wahrscheinlich werde ich immer mehr zur Vor-allem-Dooffinderin statt zu der immer verständnisvolleren Person, die ich viel lieber wäre. Ach menno.

Im Büro allgemeine Anspannung und Aufregung wegen einer wichtigen und komplexen Abendveranstaltung. Selbst hatte ich lediglich eine Rand-Funktion und konnte Anderes arbeiten – allerdings immer wieder von Abendveranstaltungs-Querschlägen unterbrochen.

Der Tag wurde strahlend sonnig, als ich mittags auf den Markt ging für Einkäufe (Äpfel, Käse), roch die Kälte nach Winter.

Ich hatte für meine dritte und damit letzte FSME-Impfung einen Arzttermin nächste Woche vereinbart, im Online-Kalender der super-technologisierten Hausarztpraxis-Kette. Selbstverständlich einen, der kompatibel mit meinen Arbeitszeiten ist. Gestern wurde auch dieser eigenmächtig verschoben (wie schon der für die Rezeptabholung im September), auf einen nicht-kompatiblen Zeitpunkt. Wozu, frage ich mich erneut, bieten sie dann überhaupt online konkrete Termine an? Das sollte ohnehin mein letzter Kontakt mit dieser Kette sein, jetzt habe ich sofort einen Anlass, eine andere Hausarztpraxis zu suchen.

Gestern Abend fand die jährliche Bürgerversammlung meines Wahlbezirks Ludwigsvorstadt-Isarvorstadt statt – hatte ich seit Wochen auf dem Schirm, doch in den vergangenen Tagen wurde mir auch immer klarer, dass ich dieses Jahr aussetzen würde: Ich hatte keine Energie dafür. Auch wenn die aufziehende Erkältung zurückhaltend mit Symptomen blieb.

Wegen der beruflichen Abendveranstaltung wurde es dann doch eher später, auf dem Heimweg nur ein kurzer Abstecher in den Drogeriemarkt.

Daheim wirbelte ich eine Runde geschäftig, dann gab’s Yoga-Gymnastik, nochmal die sportliche Folge 15 von Adrienes Programm “Home”.

Zum Nachtmahl verarbeitete Herr Kaltmamsell Teile des Radicchios aus frisch geholtem Ernteanteil zu ofengebackenen Bohnen mit Radicchio und Pesto.

Statt dem Basilikumpesto im verlinkten Rezept hatte er Ernteanteil-Grünkohl für ein Pesto aus der Lameng genutzt, insgesamt schmeckte das Gericht ganz ausgezeichnet und überraschend. (Wenn man einen Ersatz für den Parmesan im Pesto findet, wäre es sogar vegan.) Nachtisch Süßigkeiten.

§

Ein BBC-Artikel über den Forschungsstand zu Boviner spongiformer Enzephalopathie BSE, vulgo Rinderwahnsinn (und der Grund, warum ich in Deutschland kein Blut spenden darf: Anfang der 90er ein Jahr in UK gelebt).

“The Cows are Mad: Ten things we learned about Mad Cow Disease”.

Was mich überraschte:

There is still no definitive scientific explanation as to how humans came to be infected with vCJD. While the general consensus is that it came from eating infected meat, not everyone believes this – after all, vegetarians got vCJD too.

§

Eine wunderschöne Geschichte über die jugendliche Lektüre von Siegfried Lenzens Deutschstunde:
“Lenz”.

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Im Guardian ein Interview mit der einzigartigen Tilda SWINTON:
“‘I am all for strangeness’: Tilda Swinton on artistic integrity, acting and the afterlife”.

Sie sagt viele kluge und interessante Dinge, doch ihre Persönlichkeit steckt für mich in dieser Antwort auf eine Leserinnenfrage:

What is the best and worst thing about being a fashion icon?
Sarah McLeary, Dunbar
A fashion icon is in the eye of the beholder. There is no downside and the upside is a profound amusement.

die Kaltmamsell

26 Kommentare zu „Journal Donnerstag, 23. November 2023 – Immer weniger, wer ich sein möchte“

  1. FrauZimt meint:

    Puh, da lobe ich mir doch mal wieder meine Hausarztpraxis, die machen gar keine Termine mehr für Impfungen, einfach innerhalb der Sprechzeiten vorbeikommen und mit dem Impfpass wedeln und dann maximal 10 Minuten bis zum Pieks warten. (Weiterer Pluspunkt: kein StiKo-Gezicke bei der Corona-Auffrischung.)
    Bei den Insta-Foodies werden Hefeflocken sehr als vegane Parmesan-Alternative gehypt, das wollte ich gelegentlich mal ausprobieren.

  2. Neeva meint:

    Tja, die Arztpraxen. Hier gibt es eine Praxis mit einer sehr netten Hautärztin, bei der man am besten persönlich vorbeigeht, um einen Termin zu machen. Über die zentralisierte Seite und die auf eine Zentrale umgeleitete Telefonnummer ist es nämlich schlecht mit Terminen. Außer man probiert es über Wochen immer wieder. Ich schätze es ist schon wieder soweit, dass man in der Praxis bekannt sein muss…

  3. mareibianke meint:

    Das Doof-Finden nimmt auch bei mir immer größeren Raum ein. Genau wie Sie wollte und will ich so nicht sein. Hat es mich doch bei meinen Eltern schon extrem genervt, dass sie mit zunehmendem Alter immer verbiesterter wurden. Das will ich für mich auf keinen Fall und hoffe darauf, dass es hilft, mir diese Tendenzen bewusst zu machen und gegenzusteuern. Meine Tochter hat Instruktion, mich hinzuweisen, wenn ich in Richtung Negativismus drifte.

  4. Daniela meint:

    wichtig bei den Hefeflocken-als-Parmesanersatz ist die Kombi mit Cashewnüssen und etwas Salz, sonst wird das so komisch schmelzkäsig ohne. Aber den Cashew-Hefeflocken-Mix nimmt der Liebste gern als Reibekäse zu Pasta.

  5. streckenweise meint:

    Moment mal, der Herr hätte problemlos selbst das Internet nach Parkhäusern / Parkmöglichkeiten befragen können. Da er nicht spontan, sondern für einen Termin kam, sogar schon vorher. Warum jetzt Sie als Passantin das für ihn übernehmen sollten, erschließt sich mir nicht.

  6. die Kaltmamsell meint:

    Er bat einfach eine Fremde um Hilfe, streckenweise. Ich möchte jemand sein, die man um Hilfe bitten kann.

  7. Senor Verano meint:

    Den Selbst-Groll wegen des Parkplatzsuchenden kann ich in gewisser Weise nachvollziehen, ich helfe auch immer gerne, wenn ich nach dem Weg gefragt werde und zücke auch schnell das Smartphone. Zumal ich in jungen Jahren einmal den Fehler gemacht habe, fragende Auswärtige aus Versehen (Verwechslung!) zur völlig falschen Veranstaltungshalle am anderen Ende der Stadt geleitet zu haben (das hat mir noch einige Jahre ein schlechtes Gewissen beschert und ich versuche wohl heute noch, es wett zu machen).
    Andererseits, vielleicht ist es ein Trost, sehe ich es durchaus in der Verantwortung eines Fahrzeugführers, sich vorher über Parkmöglichkeiten am Zielort zu informieren – und habe den Verdacht, dass es sich im vorliegenden Fall beim Klinikum schlicht um einen Parkgebühren-Meider handelte. Da würde sich _mein_ schlechtes Gewissen sehr in Grenzen halten.

  8. Claudia meint:

    Wenn ich jemandem nicht helfe, weil ich das Motiv der Bitte nicht gut finde, muss ich kein so schlechtes Gewissen haben?Das ist eine spannende Frage.
    Wenn ich darüber nachdenke, wäre ich lieber eine Person, die hilft, ohne über die Gründe der Bitte zu urteilen, da ich nie ganz die Beweggründe meiner Mitmenschen verstehen könnte und auch gar nicht wollte. In der Realität schimpfe ich auch gerne erst einmal…

  9. Karin meint:

    Ich stimme Senor Verano zu – auch ein Mensch, der aus einer Gegend losfährt, die nicht/schlecht an den ÖPNV angeschlossen ist, kann sich zum Beispiel über Park and Ride Möglichkeiten informieren. man muss nicht mit dem Auto von Tür zu Tür fahren.

    Über das Helfen wollen nachgedacht: ich mache das irgendwie abhängig vom Sympathiefaktor – in diesem Fall hätte ich einem SUV Fahrer garantiert nicht geholfen und dabei nicht den Funken eines schlechten Gewissens gehabt, bei einem alten Mütterchen/Väterchen/einer Familie mit vielen Kindern in einem zerbeulten Kleinwagen wäre es evtl. anders gewesen. Wirft vermutlich auch kein gutes Licht auf mich, aber damit kann ich leben…

  10. Croco meint:

    Man darf Hilfe brauchen und danach fragen.
    Ich versteh Dich gut.

  11. Ina meint:

    Danke, Croco. Der Kommentar gibt mir nach denen von Karin, Senor Verano und Streckenweise wieder ein gutes Gefühl. Hilfe nach Sympathie und ausgerichtet nach dem Automodell oder der (hellseherischen) Überlegung ob jemand überhaupt um Hilfe bitten darf, nein, nicht meine Welt.

  12. Trulla meint:

    @ Karin:
    Bewundernswerter Durchblick! Blitzschnell allein anhand der Äußerlichkeiten zu erkennen, ob Hilfeleistung gerechtfertigt sein könnte oder versagt wird.

    Ja, man muss seine Vorurteile pflegen, es besteht sonst die Gefahr, sie zu verlieren!

  13. Sandra meint:

    Dem schließe ich mich an! Mangelnde Fahrkünste von Eltern machen sie immer gleich viel sympathischer.

  14. Sandra meint:

    Hey Karin, mein 6 Monate alter Säugling hat gerade schwer Corona. Wir waren kurz vor Krankenhaus. Unsere Kinderärztin fährt SUV. Am Donnerstag rief sie uns vor Feierabend an, um zu fragen, wie es meinem kleinen Sohn gehe. Erst dann fuhr sie mit dem SUV 50km bis nach Hause. Hier betreibt sie eine olle Praxis in einem Mietshaus. Gab wohl nichts anderes. Wir sind froh, diese sozial beim DRK engagierte, sehr liebevolle Ärztin zu haben. Ihr Schubladendenken sollten Sie dringend überdenken. Sie tun Menschen mitunter unrecht damit.

  15. Saumselig meint:

    Nun, ich habe den Eindruck,dass Sie eine Person sind, die man um Hilfe bitten kann. Eine Ausnahme bestätigt die Regel.

  16. Karin meint:

    Sorry, SUV ist für mich kein äußerliches Merkmal, sondern frei gewählt. Insofern schon aussagekräftig. Und dass diese Fahrzeuge aufgrund ihrer Konstruktion bei Unfällen häufiger zu schweren oder gar tödlichen Verletzungen führen (beim unfallgegner) ist erwiesen. Für mich sind das keine Fahrzeuge, die in den Stadtverkehr gehören. Und warum die Kinderärztin nicht mit einem anderen Wagen fahren kann, erschließt sich mir ebenfalls nicht. Auto ist halt offensichtlich die heilige Kuh, größer, schneller, besser.

  17. die Kaltmamsell meint:

    (Sieht hier noch jemand die Diskussion in geradezu Loriot‘scher Komik vom ursprünglichen Thema abdriften?)

  18. mareibianke meint:

    :-)

  19. engl meint:

    (ja!)

  20. iris meint:

    Nicht ganz astreine Vegetarier können durchaus mal Gelatine essen oder im Restaurant in der Form einer Bavaroise oder einer ähnlichen Cremespeise vorgesetzt bekommen. Die Gelatine wird ja aus Knochen gewonnen, an denen vielleicht auch mal Prione hängengeblieben sein können. (Ich bin auch ein gelatineessender Vegetarier.)

  21. Petra meint:

    Ob der Herr nicht auch noch selbst daran schuld war, überhaupt einen Termin im Krankenhaus zu benötigen? Gab es Hinweise auf Völlerei und risikoreichen Lebenswandel? :-)

    Alles gut, man schafft es halt nicht immer, sein bestes Ich zu sein.

  22. Anton meint:

    @streckenweise: Wir haben hier etliche sehr liebe Nachbarn, die eben nicht im Internet surfen können (zu alt, sie haben sich nie mit dieser für unsere Altersklasse so alltäglichen Technologie beschäftigt). Manchmal macht man auch Dinge, von denen man ahnt, dass sie problematisch sein können, schiebt diesen Gedanken aber beiseite, weil man z. b. Sorgen wegen des arztbesuchs hat (schwere Krankheit, deshalb den Kopf woanders und eben nicht bei park&eide etc). Ja, wenn man es logisch on aussen betrachtet, hätte der Herr vorher überlegen können. Es gibt aber sehr viele Gründe, weshalb er eben in dieser Situation war und nach Hilfe gefragt hat.

  23. Bobbie meint:

    Manchmal hilft es einen Moment innezuhalten, um nicht nach irgendwelchen Mustern zu reagieren. Und entscheiden zu können, wie man wirklich sein möchte.

  24. Helga meint:

    Tolles Vorzimmerfoto!!!

  25. Senor Verano meint:

    Ich sehe hier eher „Derailing“ (spätestens ab der SUV-fahrenden Ärztin, vielleicht auch schon vorher?). Aber der Loriot-Blick darauf schadet in der Tat nicht…

  26. Berit meint:

    Mir wurde in dem Zusammenhang das Buch “Alles Idioten?!” von Thomas Erikson empfohlen :) Verständnis aufbauen hilft ja meistens.

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