Archiv für November 2023

Journal Donnerstag, 2. November 2023 – Ampel-Kybernetik und Karsten Dusse, Achtsam morden

Freitag, 3. November 2023

Die Nacht ein wenig zerstückelt, außerdem war der Schlaf zu früh zu Ende.

Auf dem Weg in die Arbeit (trocken, kühl, aber nicht kalt) fiel mir wieder auf, dass ich in letzter Zeit im Stadtverkehr auf vertrauten Strecken besonders viel renne: Um Grünphasen von Fußgängerampeln zu erwischen, von denen ich weiß, dass sie besonders kurz sind, die Rotphasen dazwischen aber besonders lang. Auch ein Symptom von Auto-zentrierter Verkehrsplanung – zumal ich den Verdacht habe (Prüfen durch Forschung erwünscht), dass dieser Rhythmus Fußgänger*innen verstärkt dazu verführt, einfach bei Rot zu kreuzen (es sind alles Übergänge mit reichlich Lücken im Autoverkehr). Weiterer Gedankengang: Worauf basieren die unterschiedlichen Konzepte von Fußgänger-Grün an Straßenkreuzungen? Ich kenne unter anderem aus England die Version, dass alle Fußgängerampeln einer Kreuzung gleichzeitig Grün anzeigen, das habe ich in Deutschland noch nie erlebt. Liest hier eine Ampel-Kybernetikerin mit?

Über den Tag sehr unangenehme Kreuzschmerzen, eigentlich im ganzen Unterleib, gern bemühtes Bild: Das Gefühl, mittendurch zu brechen. (Wenn die Gyn fragt, ob mir mein beachtlich großes Myom Probleme bereitet: “Woher soll ich wissen, ob die Unterleibschmerzen von den LWS-Bandscheiben, von der Hüfte, von Blähungen oder vom Myom herrühren?”)

Mittags holte ich wieder Äpfel auf dem Markt am Georg-Freundorfer-Platz, neben den saftigen Nicoter von der Vorwoche einige Pinova: Dunkles Fruchtfleisch, würzigere Süße – kann ich mir auch gut im Kuchen vorstellen. Mittagessen: Pumpernickel mit Butter, Granatapfelkerne mit Joghurt.

Nach Feierabend nahm ich für Besorgungen eine U-Bahn in die Innenstadt. Ich hatte mich auf einen Spaziergang und Schaufenstergucken gefreut, doch es regnete heftig und ich sah unterm Regenschirm beim Pfützenslalom wenig. Kaufhaus, Eataly, Norma.

Ich kam in eine leere Wohnung heim, Herr Kaltmamsell war verabredet. Häuslichkeiten, Yoga-Gymnastik. Als Abendessen machte ich den frisch geholten Postelein aus Ernteanteil an, wärmte den Rest Linsen mit Pasta vom Vorabend auf. Nachtisch Schokolade.

Achtsam morden von Karsten Dusse ausgelesen – was übrigens physisch ein bisschen anstrengend war: Die aus der Bibliothek heruntergeladene Datei war kaputt, zum einen zeigte sie keinen Lesefortschritt an (blieb immer auf 0%), zum anderen ging sie beim Öffnen nicht auf die zuletzt gelesene Stelle, sondern sprang immer zurück auf die Titelseite. Im musste mir also immer gut merken, welches das zuletzt gelesene Kapitel gewesen war; zum Glück gab es überhaupt Kapitel, diese zum Glück mit gut merkbaren Überschriften, und es gab anfangs ein Inhaltsverzeichnis, von dem aus ich in Kapitel springen konnte.

Bis zuletzt gefiel mir diese mindestens so gut perfide literarische Umsetzung der Achtsamkeits-Mechanismen und -Sprache wie die Tatortreiniger-Folge “Sind Sie sicher?”. Ein Anwalt, der in der Kanzlei, in der er arbeitet, mit großem Aufwand den Mafia-Mandanten betreut, wird von seiner genervten Ehefrau und Mutter seiner kleinen Tochter zum Achtsamkeits-Coach geschickt – und wendet das Gelernte auf seinen Beruf an. Mit tödlichem Ausgang für den Mandanten.

Vom Twitter-originellen Humor der Krimi-Komödie habe ich ja bereits geschwärmt, ich prustete immer wieder unvermittelt. Außerdem macht sich Dusse mit der Stimme seiner Hauptfigur Björn zwar über viele aktuelle gesellschaftliche Erscheinungen in Deutschland lustig, doch ohne sich darüber zu erheben: Der Erzähler ist Teil dieses Blödsinns.

Und ich mochte sehr, wie Figuren beschrieben werden. Zwar gibt es schon auch Klischees, doch dann tauchen auch solche Leute auf:

Sascha war neunundzwanzig Jahre alt. Er war nicht sonderlich groß, aber drahtig gebaut. Er wirkte verschmitzt, verschlagen und immer einen Tacken ungepflegt. Nicht dreckig, aber so, als sei er vor zehn Minuten aus dem Bett gesprungen, würde unter seiner Kleidung noch einen Superhelden-Schlafanzug tragen und müsste sich noch kämmen und die Zähne putzen.

Und ich weiß sofort, was er meint.

Zudem habe ich noch nie eine Folterszene mit so guter komischer Wendung gelesen. Einen gelungenen Auftritt haben auch: Der Schweigefuchs beim Mobster-Treffen, nützliche Drohnen und Kindergartenplätze als die wirkungsvollste Schwarzmarktwährung seit Zigaretten auf dem Berliner Alexanderplatz 1946.

Ich habe schon sehr lang keine so gelungene Unterhaltungsliteratur mehr gelesen.

Journal Mittwoch, 1. November 2023 – Allerheiligen überm Tegernsee

Donnerstag, 2. November 2023

Yep, das war zu viel Alkohol am Vorabend gewesen, ich wachte trotz reichlich begleitendem Wasser mit Kopfweh und Kater auf. Und das wird wieder passieren: Wenn ich dann mal wirklich Lust auf Alkohol habe und die Gelegenheit, viele spannende Weine kennenzulernen, dann möchte ich das auch nutzen.

Für gestern hatten Herr Kaltmamsell und ich eine Wanderung geplant, weil erstens beide Zeit (das ist bei einem Vollzeit arbeitendem Lehrer an einem Feiertag nicht selbstverständlich), zweitens schönes Wetter angekündigt. Ausgesucht hatte ich den südlichen Tegernseer Höhenweg, weil der nicht allzu lang ist und wir ihn noch nicht im Herbst gegangen waren.

Wir nahmen einen Zug nach Tegernsee um elf, der sehr gut gefüllt war, manche mussten stehen. In Tegernsee ließen wir den Strom an Wanderer*innen vor, setzten uns erst noch auf einen Cappuccino in ein Café. Der tat mir wirklich gut: Nach starker Müdigkeit auf der Fahrt (der Kater) wurde ich jetzt munter. Die Landschaft war in diesem Licht und zu dieser Jahreszeit ein Genuss.

Blick nach Bad Wiessee und auf die Klinik, die mich nach der Hüft-TEP Reha-versorgt hatte.

Blick nach Rottach-Egern.

Eine Herde kleiner, sehr langzotteliger Rinder mit langen Hörnern, von denen einige die Hörner aneinander ausprobierten.

Kurz nach zwei Brotzeit in Rottach-Egern auf einem Bankerl an der Rottach: Ein Apfel und die Quarktasche, die ich frisch am Bahnhof gekauft hatte. Obwohl die erste Mahlzeit des Tages, war das zu viel gewesen, ich fühlte mich überfressen.

Gut zwölf Kilometer in gut drei Stunden.

Der Zug zurück nach München war schon 15 Minuten vor Abfahrt knallvoll, wir waren froh um bequeme und stabile Stehplätze. Doch ich hatte ja meine aktuelle Lektüre dabei, Achtsam morden von Karsten Dusse, und freute mich über die Gelegenheit, darin länger am Stück zu lesen. Ich bin immer noch ausgesprochen angetan, bei dieser Art Humor hätte man noch vor wenigen Jahren anerkennend gefragt: “Der ist doch bei Twitter!” Weil zumindest in meiner Timeline diese (vorgebliche) Weltsicht und Scherze typisch waren.

Daheim Häuslichkeiten und eine Runde Yoga-Gymnastik. Als Nachtmahl servierte Herr Kaltmamsell auf meinen Wunsch LINSEN, diesmal Beluga-Linsen mit Pasta.

Ganz köstlich. Nachtisch mit Herzen-Sterne-Brezen – die gehen ja nur in Dreier-Einheiten.

§

Mayim Bialik versucht zu vermitteln, wie sie sich als Jüdin seit dem 7. Oktober fühlt, wie sich wahrscheinlich sehr viele Juden in den USA (und auf der ganzen Welt) fühlen, die erleben müssen, dass nach dem Hamas-Massaker Tausende Menschen in ihrer Heimat und an ihren Heimat-Universitäten die Auslöschung des jüdischen Volks fordern. Ich mag mir nicht ansatzweise vorstellen, wie das ist.
Hier ihr Video auf instagram.

via @eliyahhavemann

Journal Dienstag, 31. NovemberOktober 2023 – Trigonometrie mit Weinbegleitung

Mittwoch, 1. November 2023

Zu früh aufgewacht, ich nutzte die Zusatzzeit zum Nägellackieren.

Auch bei Regen freue ich mich am Ausblick aus unserer Wohnung. Unterm Schirm in die Arbeit.

Im Büro nach Langem mal wieder eine Tätigkeit, die mich in genau dem richtigen Maß forderte. Ich war so konzentriert, dass ich mich zum weiter entfernten Mittagscappuccino überreden musste, auch zum Mittagessen (Auberginenröllchen, Pumpernickel mit Butter, Granatapfelkerne – die in dieser Crowdfarming-Lieferung deutlich leichter zu pulen sind als in den vergangenen Jahren). Am Nachmittag war ich durch, fühlte mich wie nach einer besonders guten Sporteinheit.

Nach Feierabend marschierte ich auf direktem Weg nach Hause (und merkte, dass ich die Lieblingstweets/-tröts für Oktober vergessen hatte – wird halt Ende November eine Doppelfolge): Ich war mit Herrn Kaltmamsell zu feinem Abendessen auswärts verabredet, vorher wollte ich gerne noch eine Runde Yoga-Gymnastik turnen. Das klappte.

Ich hatte vor zehn Tagen einen Tisch im Pure reserviert: Stand auf meiner Liste mal zu probierender Restaurants, und auf die griff ich zurück, weil die Lokale, auf die wir eigentlich Lust gehabt hätten, für den Abend vorm Allerheiligen-Feiertag alle bereits ausgebucht waren.

Eine U-Bahn brachte uns schnell hin, wir sahen überraschend viele Halloween-Maschkerer.

Die Wirtsleute begrüßten uns herzlich, wir bestellten das 5-Gang-Menü aus der Chef’s Choice mit Weinbegleitung. Zum Einstieg gab’s ein Glas extrem trockenen Cava, die nächsten Stunden schlemmten wir.

Nachdem wir einander über die Ereignisse des Tages informiert hatten, inklusive Hintergrund aus den Tagen zuvor, sprachen wir lange über Mathematik. Mal wieder bedauerte ich, dass ich mich in der gymnasialen Unterstufe nicht ausreichend ins Üben und Lernen gehängt hatte, denn diese Grundwerkzeuge des Rechnens fehlten mir später, um in Mathe wirklich Spaß zu haben (ich war interessiert und hatte mittelgute Noten, scheiterte aber immer wieder daran, meinen Lösungsweg auch durchzurechnen). Und so wünschte ich mir spätestens zur Berentung eine*n Personal Trainer*in für Mathe: Jemand, die mir dieses Werkzeug draufschaffte und eintrainierte, um dann nochmal die spannensten Seiten der Trigonometrie und Algebra mit mir durchzuspielen. So weit entfernt zur Berentung kann ich mir auch vormachen, dass ich heute eher zu der geistigen Anstrengung bereit bin, die das kostet, als zu Schulzeiten.
(Bei dieser Gelegenheit erinnerte ich mich daran, wie auf meinem ersten Flug in die USA 1992 ein US-amerikanischer Professor mir über ca. zwei Stunden die Chaostheorie erklärte, das muss ich mal genauer erzählen.)

Gruß aus der Küche war ein Bällchen Käse-Brandteig Gougères – wie auch viele andere Details von der servierenden Claudia De Luca liebevoll erklärt.

Zur geflämmten Lachsforelle mit Apfel, Kohlrabi, Radieschen, Buttermilch Dashi, Dill gab’s einen überraschend hellen und frischen Burgunder: Cardonnay „Les Saussots” Domaine Chavy-Chouet.

Die Entenbrust mit zweierlei Mais und fermentierten Pflaumen wurde begleitet von einem katalanischen Garnacha Familia Nin Ortiz – der sich als genau so untypisch herausstellte, wie er uns von Patrick Fischbacher angekündigt worden war: Ich hätte ihn blind eher vom Neusiedler See vermutet.

Mittlerweile erklärte mir Herr Kaltmamsell, der ein wenig beleidigt war, dass ich nicht ihn als Personal Mathe-Trainer engagieren wollte, Grundzüge und Nutzen der Trigonometrie, die Winkel zwischen Daumen und Zeigefinger nutzend. Übergang zu Kurvendiskussion via Sinus und Kosinus.

Zu Roggen-Schlutzkrapfen mit Spitzkrautfüllung, Fonduta, Spinat und Sultaninen bekamen wir aus der Magnum-Flasche einen ungewöhnlichen Italiener eingeschenkt: Die Cuvée 2016 Riné Cantrina aus der Lombardei bestand nämlich hauptsächlich aus Riesling, der den Geschmack auch dominierte.

Der Weinknaller des Abends hatte zum Hauptgang seinen Auftritt: Aus Kampanien kam Primalaterra von Azienda Agricola Salvatore Magnoni. So dicht und gleichzeitig leicht mit Kirsche, Lorbeer, Wacholder, Pfeffer und einem Blumenmeer in der Nase und am Gaumen (ich erinnere mich noch bis zum Schreiben jetzt an Geschmacksdetails) hatte ich schon lang nichts mehr getrunken.

Und er machte sich ganz ausgezeichnet zur geschmorten Lammkeule und Merguez mit Kürbiscreme, grünen Bohnen, Kumquat (super Kombi), Harissa-Jus.

Schon beim Reinkommen hatte ich die Vitrine mit hochinteressant aussehendem Käse registriert; zum Abschluss entschieden wir uns folglich für einen Käseteller mit Birnen-Chutney und Pain d’Espice (sehr würzig).

Im Glas dazu ein elsässischer Gewürztraminer Steingrubler, der sich in Kombination mit dem Käse wunderbar entfaltete.

Herr Kaltmamsell kämpfte bereits seit einiger Zeit mit schweren Augenlidern, wir schafften es aber noch gut zurück zur U-Bahn und nach Hause.