Journal Samstag, 27. Januar 2024 – Alasdair Gray, Poor Things

Sonntag, 28. Januar 2024 um 7:44

Alasdair Gray, Poor Tings

Ich habe eine ganz persönliche Geschichte zu diesem ganz konkreten Buch. Als ich von einem neuen Film namens Poor Things erfuhr, dauerte es eine Weile, bis ich ihn der Romanvorlage von 1992 von Alasdair Gray zuordnete und damit einem meiner liebsten Papierbücher in unseren Regalen.

Der schottische Autor Bernard MacLaverty (u.a. Cal und Lamb) war 1993 zu Gast an der Uni Augsburg, wir Hiwis am Lehrstuhl für Englische Literaturwissenschaft kümmerten uns um seine Lesungen, waren Teil der geselligen Runden im Anschluss. Dabei erzählte er von seiner Freundschaft mit dem schottischen Schriftsteller Alasdair Gray, zeigte und empfahl dessen Roman Poor Things, unter anderem weil er von Gray selbst illustriert war und MacLaverty für das Titelbild Modell gesessen hatte.

Ich bestellte diese Hardcover-Ausgabe im örtlichen Buchhandel (also beim Pustet) – und wartete viele, viele Wochen darauf. Vor Internet-Zeiten waren Lieferungen aus dem Ausland umständlich, in diesem Fall handelte es sich auch noch um einen Direktimport, doch ich wollte unbedingt genau diese Ausgabe. Sie kostete mich laut Bleistifteintrag auf dem hinteren Innenblatt satte 56 Mark – zur Einordnung: das war damals ein Fünftel meiner Monatsmiete.

Doch das war es wert. Zwar sieht man auch in der Taschenbuchausgabe Grays Illustrationen und die vielen Bilder aus dem 19.-Jahrhundert-Klassiker Gray’s Anatomy (nachdem das Werk hier und in John Irvings Cider House Rules eine zentrale Rolle spielt, kaufte ich mir kurz darauf bei einem England-Aufenthalt ein günstiges Faksimile von einem Sonderangebotsstapel – in dem ich bis heute nachschlage, was mir da eigentlich gerade weh tut). Doch nur ein Hardcover hat ein Hard Cover unter dem Schutztumschlag, und das ist hier besonders schön.

Als ich das Buch jetzt aus dem Regal zog, fiel mir ein Zeitungsausschnitt darüber entgegen, in dem es “With filming about to start” heißt. Hat dann offensichtlich ein wenig länger gedauert.

Ich hatte kaum Erinnerungen an die Lektüre vor 30 Jahren und war jetzt positiv überrascht. Poor Things ist ein technisch sehr eigenwillig und opulent erzählter Roman. Wir haben Umberto Ecos “Natürlich eine alte Handschrift”: Laut der “Introduction” von Alasdair Gray besteht der Hauptteil der Geschichte in zufällig gefundenen Unterlagen, die eine Behörde in Glasgow als Abfall an die Straße stellte, nämlich “Episoes from the Early Life of a Scottish Public Health Officer by Archibald McCandless M.D.”

Erzählt wird darin aus der Perspektive von Archibald McCandless die Geschichte seines Freundes, des Arzts Godwin Daxter, der mit dem Wiederbeleben von Leichen experimentiert, darunter die einer jungen, hochschwangeren Frau, Bella Baxter: Er setzt ihr das Gehirn ihrer ungeborenen Tochter ein, sie lernt in atemberaubenden Tempo. Ein großes Stück der Handlung erfahren wir durch den Brief von Duncan Wedderburn, mit dem Bella durchbrennt und der sich von ihr in den Wahnsinn getrieben sieht. Fast dasselbe Stück Handlung bekommen wir dann nochmal von Bella erzählt, ebenfalls in Briefform, was sich ganz anders liest.

Nach diesem gefundenen Buch aus Selbstverlag enthält der Roman den Brief der Hauptfigur Bella: “A letter about the book to a grand- or great-grandchild by ‘Victoria’ McCandless M.D.” Sie nimmt praktisch alles an der eigentlichen Geschichte auseinander, erzählt die realen Hintergründe aus ihrer Sicht – eine weitere fiktive Version.

Und dann tritt nochmal der Autor der Introduction auf, Alasdair Gray, mit elaborierten Fußnoten, die angebliche historische Quellen als Belege für Details des zufällig gefundenen Manuskripts anführen, inklusive Kartenmaterial, erfundene Kipling- und Dickens-Zitate, aber auch Ausschnitten aus Victoria McCandless späteren Werken.

Die intellektuelle und gesellschaftliche Unbefangenheit Bellas in der Romanhandlung erinnerte mich an Diana Price (für Sie Wonderwoman) in der Verfilmung von 2017: Während Diana ohne die weibliche Prägung in Westeuropa Ende 18. / Anfang 19. Jahrhundert aufgewachsen war, wuchs Bella ja gar nicht auf. Und wenn sie Lust dazu hat, schreibt sie ihre Briefe halt seitenweise “wie Shakespeare”, also im Blankvers.

Das passt alles sehr gut zu dem, was ich über die aktuelle Verfilmung gelesen habe: Ein Rausch an erzählerischen Mitteln. Und heute Nachtmittag sehe ich mir die Umsetzung an.

§

Als mich um sieben die Kirchenglocken endgültig weckten, sah ich bereits einen hellen Schein am wolkenlosen Himmel: Die Tage werden wirklich länger.

Die Efeutute im Wohnzimmer hat einen Nebenjob als Vorhanghalter übernommen.

Deutlich vor zehn war ich durch mit Bloggen, Milchkaffee, Wasser, Schwarztee aus frischgefiltertem Wasser und radelte durch die kühle Sonne zum Olympiabad.

Nicht nur war meine Bahn gemäßigt beschwommen: Zum ersten Mal seit ich mich erinnere waren das alles reine Schwimmer*innen, niemand benutzte Geräte/Hilfsmittel/Spielzeug. Ich konnte also meine 3.000 Meter selbstvergessen durchziehen, kein Risiko von blauen Flecken (am Montag davor hatte ich mir vor lauter Rechtsschwimmen sogar Kratzer an rechter Schulter und Nasenseite am Bahnentrennplastik geholt). Und das auch noch mit Sonnenglitzer.

Zurückradeln auf direktestem Weg, wenn auch von zu 70 Prozent roten Ampeln gebremst. Zu Hause kümmerte ich mich umgehend um die Bagels, einige tunkte ich diesmal in Sesam.

Frühstück um zwei drei Bagels: Frischkäse/Tomate/Kresse, Guacamole, Frischkäse/Orangenmarmelade. Ganz frisch schmeckte das Gebäck eher nach Semmel als nach gummigem Bagel.

Nachmittag im sonnendurchfluteten Wohnzimmer mit Romanauslesen und darüber Schreiben, kurzer Siesta. Später wiederholte ich die Yoga-Gymnastik vom Vorabend, allerdings ohne das Rumliegen am Anfang und korrigiert: Ich hatte mich nicht verhört, Adriene sagt den Ausfallschritt mit Übergang zum Krieger zweimal fürs linke Bein an.

Zum Nachtmahl verarbeitete Herr Kaltmamsell die Hälfte des Ernteanteil-Blaukrauts auf meinen Wunsch zu einer Rotkohl-Apfel-Suppe (zufällig hatten wir noch gehackte Selleriestangen in der Gefriere).

Schmeckte ganz ausgezeichnet. Davor gab’s restlichen Prinzen-Prosecco mit Nüsschen, danach Schokolade.

Im Bett begann ich neue Lektüre, den Bildband Gabriele Conrath-Scholl (Hrsg.), August Sander, Meisterwerke – auch mit Halslicht keine bequeme Bettlektüre.

§

Auch in Wien wurde am Freitag gegen Rechtsextremismus demonstriert, verlesen wurde unter anderem ein Text von Literaturnobelpreisträgerin Elfriede Jelinek:
“Elfriede Jelinek: Ich höre ein Ungeheuer atmen”.

Sie haben Unterstützer mit Geld, und sie sammeln noch mehr, wie man im Brandenburger Landhotel am See sehen konnte, doch ihre Stimmen holen sie sich von denen, die sie entrechten und verarmen lassen wollen.

die Kaltmamsell

2 Kommentare zu „Journal Samstag, 27. Januar 2024 – Alasdair Gray, Poor Things

  1. Croco meint:

    August Sander, wie schön.
    Hier leben noch Menschen, die als Kinder von ihm fotografiert wurden.

  2. caille meint:

    “…Hard Cover unter dem Schutztumschlag, und das ist hier besonders schön”.
    In dem Zusammenhang eben darüber gestolpert, falls von Interesse:
    https://bsky.app/profile/john-self.bsky.social/post/3kk2gruhogr2a

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