Journal Dienstag, 26. März 2024 – Larissa Kikol, Signed

Mittwoch, 27. März 2024 um 5:58

Besser geschlafen, aber zu früh aufgewacht.

Weil es zudem weder etwas zu bloggen noch zu räumen gab, kam ich sehr früh in die Arbeit.

Leider ist wieder Frierwoche im Büro, ich arbeitete im Wolljanker. Nach einigen Besprechungen ging ich raus ins Westend auf meinen Mittagscappuccino.

Später Mittagessen am Schreibtisch: Mandarine, Apfel, Sojajoghurt mit Mango.

Arbeitsnachmittag auch mit Unerfreulichem, ich hielt mich an Symptombekämpfung. Nach Feierabend ging es raus in schöne Luft, aber eher kühl.

Herr Kaltmamsell verbrachte den Abend aushäusig, ich musste schon wieder selbst für mein Nachtmahl sorgen – hatte aber schon Montagabend dafür eingekauft. Erst Wäscheaufhängen, Yoga-Gymnastik (eher verärgernd: ich mag es nicht, vom half moon überrascht zu werden und erst gesagt zu bekommen, dass es dorthin geht, wenn ich bereits ein Bein heben soll), dann briet ich Schalotte, Knoblauch, Champignons mit Thymian, löschte mit Noilly Prat ab, das ergab mit Crème fraîche und Fussiloni ein Nudelgericht – sehr schmackhaft.

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Larissa Kikol, Signed. Unterwegs mit der 1UP-Crew und Moses&TapsTM

Larissa Kikol hat ein Buch über Graffiti geschrieben, den weiterhin illegalen Teil der Streetart. Die Terminologie entnehme ich indirekt, es gibt für die vielen Unterarten von Streetart keine offizielle Terminologie mit allgemein anerkannten Definitionen – das gehört aus meiner Perspektive sogar genau so, wer sollte bitte über die Definitionen bestimmen? The elders of streetart? Ich gucke mir auch legale und offizielle Streetart gerne an, z.B. Murals, die sorgfältig und mit reichlich Zeit entstanden. Aber allein der Zeitdruck und die logistischen Rahmenbedingungen von Graffiti machen halt doch einen Unterschied.

Kikol ist promovierte Kunstwissenschaftlerin, doch das ist weit entlegener Hintergrund ihres Buchs: Im Vordergrund stehen ihre Recherche und die Graffiti-Künstler*innen. Sie schreibt in einem Tonfall, den ich von besonders lesenwerten Blogs kenne und mag. Dazu gehört auch, dass sie sich als Beteiligte sichtbar macht. Und es interessiert mich wirklich, wenn sie sich am Tag einer Aktion mit einer schlecht heilenden Verletzung am Arm rumplagt. Was sie sich als Brotzeit für Aktionen einsteckt. Überhaupt beschreibt sie viele Mahlzeiten detailliert, das mochte ich, Essen und Trinken sind ihr offensichtlich wichtig.

Thema ist auch das Schreiben des Buchs selbst:

Der Lektor hat Unrecht, Kikol hat Recht: Das gnadenlose Zitieren scheinbar langweiliger Dialoge bei Graffiti-Aktionen holte mich in die Schilderung erst richtig rein.

Kikol gibt auch die Teile ihrer Interviews wieder, in denen sie zurückgefragt wird, welche Art Buch das eigentlich werden soll. Sie antwortet, sie sei sich noch nicht sicher. Am Ende des Buchs entscheidet sie sich: „Es sind so viele Kurzgeschichten, eher eine Art Reisebericht.“

Eine persönlich Art von Buch ist es geworden, z.B. taucht zwischen liebevollen Betrachtungen über ihren Herkunftsort Bergisch Gladbach Akademisches über Geheimsprachen auf. Kikol wird als Journalistin sichtbar, als Forscherin, als Berlinerin, als überaus neugierige und wohlwollende Menschenfreundin. Sie schreibt viel über konkrete Begegnungen, nicht nur über die mit Graffiti-Künstler*innen oder Menschen aus der Kunst-Szene.

Das Ergebnis ist eine offene und durch die Geschichten sehr transparente Materialsammlung, keine akademische These. (Es gibt aber saubere Endnoten mit den zitierten Quellen.)

Larissa Kikol beschreibt die vielen, vielen Facetten der Grafitti-Szene – die eben genau keine ist. Die Künstler*innen haben ganz unterschiedliche Beweggründe für ihre Arbeit, von rein ästhetischen über künstlerische bis politische oder gar aktivistische. Und anderen macht es einfach denselben Spaß, mit dem Leute ins Basketballtraining gehen. Manche sind nur in ihrer Wohnumgebung aktiv. Typischer aber ist es, dass sie reisen, teilweise sogar weit. (Dass ich die “Yellow Fists” vor einigen Jahren und bis heute in mehreren Städten sah, ist also kein Zufall: Sie sind alle von Kripoe.)

Eine zentrale und bemerkenswerte Figur ist der Graffiti-Künstler Moses: Besonders in Erinnerung blieb mir, dass er mal eine S-Bahn detailgetreu umlackierte

in einem Rotton, der sich fast nur um eine Nuance von dem Originalrotton unterschied. Dann wartete er ab, wann es jemandem auffiel.

Ein Roman ist das nicht. Aber auch kein klassischer Journalismus. Ich fremdle ja sehr mit den Verbot des “Ich” mit der traditionellen Forderung, Berichterstatter*innen müssten hinter dem Gegenstand ihrer Bericht verschwinden. Das kommt meiner Ansicht nach einer Lüge nahe: Jeder Bericht ist gefärbt durch Wahrnehmung und Hintergrund der Rechercheure. Je ausführlicher diese Recherche, desto relevanter werden meiner Überzeugung nach der Prozess und die Personen dahinter. Zwar tun das manche Journalist*innen seit Jahren, doch ich lese bis heute launiges Kolumnen-Geläster ihrer Kolleg*innen, es gehe denen in erster Linie um Selbstdarstellung.

Egal, es ist halt, was es ist. In Signed hat der Prozess der Recherche denselben Stellenwert wie die Ergebnisse. Und so lernte ich eine Menge, unter anderem über die komplexe Logisitik, die hinter dem illegalen Umlackieren von Bahn- und S-Bahn-Waggons steht, hinter dem Bemalen von Häuserfassadenrändern und Brandmauern. Und über die Internationalität des Sprühens, über die zentrale Rolle der Dokumentation (und mit wie viel Schabernack die teilweise sichergestellt wird), über die engen Verbindungen zur Galeristenszene, auch über die verschiedenen Rollen während einer Aktion.

Das Nachwort enthält einen Schlüsselsatz: „Eine Sache, die mir wichtig war, war, nicht mehr zu schreiben, als ich erlebt hatte.“

Falls das bislang noch nicht klar wurde: Dicke Empfehlung. Und ich gucke mir Tags in München künftig viel systematischer an.

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Beachtenswerter Appell in der taz von Katrin Gottschalk:
“Übersehene Feministinnen”.

Die Omas gegen rechts sind derzeit die größte Frauenbewegung auf der Straße. Zeit wird es, sie auch in die politischen Diskussionsrunden einzuladen

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Einskunstlauf hatte ich schon lang nicht mehr geguckt. Und stellte jetzt fest, dass sich da eine Menge getan hat. Schaun Sie sich mal die atemberaubende Goldmedaillen-Kür von Ilia Malinin in Montreal an.
Was mich besonders fasziniert: Malinin wirkt durchgehend, als hätte er überhaupt keine Körperspannung – was unwahrscheinlich ist. Aber er scheint etwas sehr viel Komplexeres einzusetzen als Kraft.

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Apropos Sport: Wenn Ihr Fitnesstudio was taugt, bietet es auch Training für den Sommerurlaub an.

die Kaltmamsell

7 Kommentare zu „Journal Dienstag, 26. März 2024 – Larissa Kikol, Signed

  1. Franziska meint:

    Tränen in den Augen nach einem Eiskunstlaufvideo. Hatte ich auch noch nicht. (Wahnsinn!)

  2. Isa meint:

    Vielen Dank für den Link zum Eiskunstlauf. Das ist atemberaubend, was der junge Mann da macht!

  3. Sabine meint:

    Bei den Omas gegen Rechts muss ich immer daran denken, dass ältere Sterberegister belegen, dass die Anwesenheit von Großmüttern mütterlicherseits zu einer deutlich verringerten Kindersterblichkeit führte. Wer die älteren Frauen auf seiner Seite hat, übersieht sie vielleicht, hat aber bessere Chancen im Leben.

    Ich freu mich immer, wenn ich sie auf einer Demo sehe, unerschütterlich, entschlossen, zäh und gut gelaunt. In ein paar Jahren mach ich da mit.

  4. Joriste meint:

    Danke wie immer für die Erhellungen, Mitnahme, die klugen Gedanken und für die Links sowie die Buchempfehlung (hatte erst kürzlich an Sie gedacht, als eine junge Kollegin gegen Graffitis wetterte.)
    Das Allerbeste jedoch, als ehemals Dortwohnende: Bergisch Gladbach ohne Bindestrich! Tausend Dank dafür ;)

  5. kecks meint:

    Koordination ist Kraft ab einem gewissen Level des Könnens. Das ist das berühmte “Es schaut so einfach aus.” (Isses aber freilich nicht.)

  6. Barbara meint:

    Bin sehr neidisch auf Ehemänner, die sehr gut kochen können und es tatsächlich oft tun.

  7. Daniela meint:

    Ich würde mir die Kür so sehr nur mit Musik, ohne Sportkommentatoren wünschen – geht das nur mir so? Das holt mich total raus. Ballett gucke ich ja auch nicht mit „Anlauf zur PIROUETTE!!! 5-FACH!!!“ (I get it, I get it, es ist ein Sport, ich will aber so gerne einfach gucken und zur Musik darein versinken). Äh, was wollte ich sagen – genau, danke für den Link, auch mit Kommentaren: wunderschön.

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