Journal Dienstag, 16. April 2024 – Reinhard Kaiser-Mühlecker, Wilderer – sehr kein Heimatroman
Mittwoch, 17. April 2024 um 6:20Eigentlich gut geschlafen, nach fünf allerdings nicht mehr, statt dessen mit steigender Unruhe Arbeitsdinge gewälzt (dass München im Juni und Juli voller Megakonzerte und Zuguck-Fußball ist, die Übernachtungpreise damit etwa auf Oktoberfest-Niveau steigen, erschwert meinen Job massiv), innere Joblisten erweitert – das taucht mal wieder in keiner Arbeitszeiterfassung auf.
Draußen Düsterkeit, die sich auch noch als regnerisch und nur wenig über Gefrierpunkt kalt erwies, ich musste umplanen: Zwar hatte ich beim Rauslegen der Kleidung für den Tag niedrigere Temperaturen einkalkuliert, aber keine Saukälte. Alles zurückgehängt/-gelegt, statt dessen Kaschmir-Hoodie zu schwarzer Hose und dicken Schuhen.
Auf dem Weg in die Arbeit brauchte ich meinen Schirm. Unter den Bäumen lagen Zweige und Äste, der Sturm war nachts wohl heftiger gewesen. (Und ich wunderte mich, dass nach dem Schneeburch und den Stürmen des Winters noch so viel Runterzuwehendes übrig war.) In den Nachrichten war sogar von “Unwetter” die Rede.
Nach emsigem Bürovormittag marschierte ich auf einen Mittagscappuccino im Westend. Auf dem Weg regnete es nicht mehr, aus dem Himmel aller Farben schien sogar manchmal die Sonne. Doch es windete sehr heftig, ich fürchtete um meine Ohrringe.
Wie erleichtert ich immer bin, wenn ich mein Mittagessen wirklich nur noch löffeln, gabeln, beißen brauche – und nicht erst noch schälen, schneiden, zubereiten. Den Gefallen tue ich mir am Vorabend echt gern. Diesmal: Ein Stück selbstgebackenes Brot, Orange und Mango mit Sojajoghurt.
Am Nachmittag stürmte es weiter, der Himmel durchlief alle Farben. Nach Feierabend genoss ich aber den Marsch nach Hause, bei dem mir der Wind die Haare zerzauste. Kurzer Einkaufsstopp im Drogeriemarkt, dann steuerte ich die Standl in der Sendlinger Straße an: Fürs Abendessen hatte ich mit Herrn Kaltmamsell Spargel vereinbart, von mir zubereitet.
Ich machte den Spargel wieder auf die Art, die mir in den vergangenen Jahren besser geschmeckt hatte als in Wasser gekocht: In Alufolie im eigenen Saft gegart, und mit Eierhacksauce, ich schrieb das Rezept diesmal auf.
Da ich am Standl zwischen Sendlinger- und Rosenstraße zwei Kilo im Angebot bekommen hatte, gab es sehr reichlich davon. Schokolade zum Nachtisch ging trotzdem.
Im Bett die nächste Lektüre begonnen, diesmal wieder auf Papier, weil Herr Kaltmamsell das Buch besitzt: Ruth Klüger, Katastrophen. Über deutsche Literatur.
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Reinhard Kaiser-Mühlecker, Wilderer
Das Buch, veröffentlicht 2022, packte mich vom unvermittelten Anfang an, der mich erstmal auf eine falsche Fährte lockte.
Doch dann bekam ich einen Landlebenroman in sehr unromantischer Form. Ich fand viel wieder, was ich vom Alltag in der Landwirtschaft weiß, von der Lebenswirklichkeit auf dem Dorf – die halt auch wie alles Individuelle nicht eine Lebenswirklichkeit ist. Es überraschte mich nicht zu erfahren, dass Reinhard Kaiser-Mühlecker selbst aus der Landwirtschaft kommt. Die Geschichte nimmt uns mit nach Österreich, das prägt die Art der Landwirtschaft mit Höfen, die ein Dorf bilden (seit Ein Hof und elf Geschwister weiß ich erst, wie anders Landwirtschaft im deutschsprachigen Raum auch sein kann). Die nächst gelegene Großstadt ist Salzburg.
Der junge Jakob bewirtschaftet den Hof seines Vaters, der in seinen Augen und auch belegbar ein Taugenichts ist, fast seinen ganzen Grund verkauft hat. Der Großvater, ein tüchtiger Landwirt, ist schon länger gestorben, die greise und abweisende Großmutter lebt im Obergeschoß des Hofs. Der Roman erzählt, wie Jakob versucht, diese Landwirtschaft am Leben zu halten, seinen Lebensunterhalt und den der Familie damit zu verdienen, mal mit Fischzucht, mal mit Milchwirtschaft. Es gelingt ihm erst, als Katja in sein Leben tritt, aus unerwarteter Richtung und auf überraschende Weise. Wir lernen auch Jakobs Geschwister kennen, Bruder und Schwester, manche Nachbarn, Hilfsarbeiter.
Das Besondere: Die Erzählstimme nimmt konsequent die Perspektive der Hauptfigur Jakob ein, nahezu als Gedankenstrom. (Dennoch sind Dialoge markiert, wird auch äußere Handlung beschrieben, der Roman ist also nicht schwierig zu lesen). Und Jakob ist ein sehr eigenwilliger Charakter, zerrissen, von Affekten getrieben, oft mit sich selbst überfordert, gleichzeitig ehrgeizig und verloren, zuwendungsbedürftig und hoffnungslos.
Und die Erzähltechnik macht sichtbar, wie Jakob bestimmten Erinnerungen ausweicht, manchen immer wieder, bis sie sich kurz vor Ende dann doch nach vorn ins Bewusstsein schieben, wir sie erfahren. Und dann eigentlich lieber nicht hätten wissen wollen. Nicht nur hier ist das Buch verstörend mit seinem Blick in Abgründe.
Jakob vertritt durchaus (meine) bäuerlichen Stereotypen: Misstrauen gegenüber Leuten aus der Stadt, Misstrauen gegenüber formaler Bildung, ständiges Misstrauen, übers Ohr gehauen zu werden. Und weiß halt doch, was getan werden muss. Seine Zerrissenheit war mir im Gedankenstrom sehr nachvollziehbar, sie ist es auch, die für mich Spannung erzeugte: Wird er ein bisschen Glück finden? Einmal nicht enttäuscht werden? Das hält sich die Waage mit intensiven Umgebungsbeschreibungen: Der Lärm der nahen Autobahn, die Sinnlichkeit einer Schneeschicht, die Betäubung der vierten Flasche Bier, das Animalische an Menschen – was in dieser Verbindung fast unweigerlich symbolische Bedeutungen herbeiassoziieren lässt.
Lese-Empfehlung – nur vielleicht nicht, wenn Sie Hunde sehr gern mögen.
Und für nach der Lektüre, weil sie die Handlung und alle Wendungen verrät, empfehle ich die Besprechung von Christoph Schröder in der Süddeutschen:
“Warten auf das Ende”.
Realismus also, eingebettet in ein ästhetisches Konzept, das auf Kargheit wie auf Klarheit basiert. Kaiser-Mühleckers Bücher zu lesen fühlt sich an, als würde man auf eine zu fest eingespannte Glasscheibe starren, auf das Knistern und Knacken hören und doch wissen, dass der Autor uns nicht die Last abnimmt, den erlösenden Knall herbeizuführen. Das ist menschlich erschreckend und literarisch bestechend.
§
Die Süddeutsche hatte gestern eine Seite Drei über Prof. Bruno Burger, der am Fraunhofer-Institut für Solare Energiesysteme ISE in Freiburg Zahlen und Daten zur Energieerzeugung in Europa erhebt und damit unter anderem Falschbehauptungen in der Politik widerlegt, immer wieder und möglichst auf den Plattformen, auf denen sie erscheinen (€, aber einen Tagespass wert):
“Zahlen, bitte”.
“Die Lüge ist immer schnell draußen”, sagt er. Aber die Korrektur der Lüge, das macht richtig Arbeit.”
Die Energy Charts des Freiburger ISE stehen im Web und sind öffentlich, Sie könnten auch selbst bei der nächsten Politiker*innen-Behauptung nachsehen:1
Energy-Charts.
Allerdings macht sich selbst Prof. Burger keine Illusionen:
„Heutzutage ist es völlig egal, ob man lügt oder nicht”, sagt Bruno Burger. „Es hat keine Konsequenzen.”
- Disclosure: Ich arbeite für denselben Arbeitgeber. [↩]
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