Journal Dienstag, 28. Mai 2024 – Berlin 4, zweiter Tag re:publica24 und ostpreußisches Abendessen

Mittwoch, 29. Mai 2024 um 8:12

Nicht mehr ganz so gut geschlafen, früh aufgewacht – Letzteres kam mir entgegen, da ich noch nahezu den gesamten Vortag verbloggen musste.

Und als ich dann auch noch Zeit brauchte, nach meiner Arbeitsmail zu sehen und dort Probleme auftauchten, wurde der Morgen ein wenig hektisch. (Große Freude auch gestern: Der selbst gemachte Milchkaffee zum Start; dafür nehme ich die Exzentrik des Reisens mit Cafetera und Milchschäumer gern auf mich.)

Draußen hatte das Wetter umgschlagen, in Tröpfeln marschierte ich mit Herrn Kaltmamsell zur U-Bahn. Bis wir an die Schlange am Eingang zum re:publica-Gelände kamen, regnete es richtig, und die Schlange war sehr, sehr lang. Im kurzärmligen Kleid, ohne Jacke und Regenschirm war ich dafür überhaupt nicht ausgerüstet, wurde langsam feucht und schlecht gelaunt.

Aber! Jetzt halte ich endlich zwei Beobachtungen fest:
1. Der doofe Spruch, nach dem man in München Hauptbahnhof underdressed einsteigt und im selben Outfit in Berlin Hauptbahnhof overdressed aussteigt, passt überhaupt nicht mehr. Bei meinen Berlin-Besuchen der vergangenen beiden Jahre fiel mir auf, wie viele wirklich stylisch, kreativ und interessant gekleidete Menschen mir in Berlin begegnen, sehr viele angenehme und inspirierende Anblicke. (Andererseits ist Berlin diesmal eh komplett kaputt: Ständig ausgesprochen höfliche und aufmerksame Menschen mit Berliner Akzent, inklusive echter Entschuldigung von Herzen für ein versehentliches Anrempeln in der vollen U-Bahn.)
2. Junge Menschen auf der re:publica. Vor einigen Jahren befürchtete ich, dass die Veranstaltung mit uns alten Internet-Peoples sterben könnte. Doch laufen dort inzwischen wirklich viele Altersgruppen herum; ein bisschen mehr Junge wünsche ich mir noch auf den Bühnen.

Zu meiner verregneten Laune passte dann, dass die erste Veranstaltung, die ich mir notiert hatte, wegen Erkrankung nicht stattfand. Bockig setzte ich mich zum Zeitunglesen auf meinem Smartphone auf den Affenfelsen – wo dann ein Sonnenstrahl in Form der Urgesteins-Bloggerin dasnuf auftauchte: Ich freute mich sehr über Begegnung und Gespräch. (Das war zwar nicht unser Gesprächsthema, doch ich stellte gestern fest, dass es immer noch Frauen gibt, die das Konzept “Mental Load” nicht kennen – dasnuf hat dazu ein ganzes Buch geschrieben.)

Auf großer Bühne mit der Leinwand-Aufschrift "re:publica24" rechts ein Rednerpult, daran stehend ein Mann mit Brille

Mein Session-Tag startete mit dem Vortrag “Tyranny of the Minority: How Radical Minorities Threaten Our Free Society” von Daniel Ziblatt. Allerdings hatte ich mir etwas Anderes vorgestellt: Mit “Minority” war die weiße, christliche Bevölkerung der heutigen USA gemeint. Doch über die aktuellen poltischen Zustände in den USA und ihre strukturellen Ursachen hatte ich bereits einiges gelesen.

Große Bühne, auf der Leinwand der Buchtitel "Triggerpunkte", rechts davon geht gerade ein Mann mit einem Mikrofon hinter dem Rednerpult vor

Ich blieb gleich sitzen und hörte “Wie polarisiert ist unsere Gesellschaft?” des Soziologen Steffen Mau. Das Ergebnis von Forschung: Eher nicht, aber es gibt populistische Kräfte, die von einer Zuspitzung und von Triggern von Emotionen über irrelevante Details (Gendern, angebliche Vorschriften) profitieren.

Auf einer Bühne steht links ein Mann am Rednerpult, hinter ihm auf der Leinwand rechts das Passfoto eines Mannes, Text "Die autoritär-populistische Strategie"

Mit Mittagscappuccino in der Hand ging ich rüber in einen anderen Saal, dort sprach Max Steinbeis, Chefredakteur des Verfassungsblogs, über “Die Demokratie verteidigen: Ein Aufruf zu zivilem Verfassungsschutz”. Leider hörte ich hier nichts über Möglichkeiten zu zivilem Verfassungsschutz, Steinbeis deklinierte lediglich im Detail durch, welche Auswirkungen eine AfD mit Sperrminorität im Thüringer Landtag kurzfristig und langfristig haben kann. Der junge Mann auf dem Bildschirm hiner ihm ist der junge Viktor Orbán: An seinem Beispiel zeigte Steinbeis, wie und wo ein solches Vorgehen schonmal Erfolg hatte.

Sehr flache Bühne von der rechten Seite fotografiert, man sieht einige rote Sessel und dass Menschen darauf sitzen

Dann interessierte mich: “WDR Europaforum: Wie man’s macht…Wie macht man’s? Die Rolle der Medien angesichts des Drucks auf die Demokratie”. Auf der Bühne saßen Jörg Schönenborn (Programmdirektor WDR), Nadia Zaboura (Beraterin), Jan Hollitzer (Chefredakteur Thüringer Allgemeine), Anna Litvinenko (deutsch-russische Journalistin), moderiert von einer bissigen Vivian Perkovic.

Die Überraschung für mich: Die Medienmachenden sind sich der Risiken und Mechanismen von Populismus bewusst, wie ihre Medien intrumentalisiert werden können, ich hörte sehr reflektierte Äußerungen von Schönenborn und Hollitzer – und wunderte mich, dass sie dennoch immer wieder Nazis eine uneingehegte Plattform für die Ausbreitung ihrer Desinformation geben, für die Produktion von Material, das sie auf ihren eigenen Plattformen verzerrt verwenden können, und so zur Normalisierung von Rechtsextremismus beitragen.

Die nächste Stunde hatte ich frei, ich nutzte sie für eine schnelle Heimfahrt, um eine Jacke zu holen: Ich hatte den Vormittag über sehr gefroren. In der Ferienwohnung um halb drei Mittagsbrotzeit: Apfel, Pumpernickel mit Frischkäse.

Die nächste Session brachte mich zur abgelegensten Bühne der re:publica, der Park Stage hinterm Technikmuseum.

Eine Frau mit Mikrofon vor einem rednerpult, über ihr ein Sonnenschirm, rechts von ihr ein großer Bildschirm mit einer Präsentation

Unter einem Sonnenschirm gegen immer wieder Regentropfen sprach Miriam Vollmer über “Wie man den Gender Care Gap löst (und was das kostet)”.

Den Ursprung ihrer Idee hatte ich vor vielen Jahren in Echtzeit mitbekommen, wahrscheinlich auf Twitter (buhu!), jetzt hatte Miriam sie durchgespielt. Sie legte dar, wie unwahrscheinlich es ist, dass im privaten Bereich Kooperation und gerechte Care-Aufteilung ganz von selbst eintreten und empfahl, die Instrumente und Erfahrungen des Arbeitslebens zu nutzen. Besonderer Kniff (praktisch und lustig): Weil die Begriffe Mann/Frau oder Mutter/Vater so hinderlich befrachtet seien, verwendete sie als Beispielfiguren Tiger 1 und Tiger 2.

Ich fand Miriams Modell schlüssig, zumal sie (das “und was das kostet” ihres Vortragstitels) auch darauf einging, welche eventuelle unerwünschten Auswirkungen die Methode auf die Beteiligten und ihre Beziehung hat.

Auch für gestern müssen Sie sich Begegnungen, Gespräche, Umarmungen auf allen Wegen und zu jeder Zeit dazudenken, es gab reichlich.

Auf einer großen Bühne drei Menschen auf Stühlen

Abschluss meines zweiten Konferenztags: “Was wahr ist – Ein Gespräch zwischen Carolin Emcke und Claudia Kemfert”.
Claudia Kemfert vom Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung und Klimaexpertin diskutierte mit Philosophin Emcke und moderiert von Spiegel-Redakteur Jonas Schaible, wie Menschen dazu gebracht werden können, ihren Anteil an der Klimakatastrophe wahrzunehmen und Konsequenzen daraus zu ziehen. Sie wiesen beide auf die Bedeutung von positiven Utopien hin, die ein stärkeres Gewicht im Vergleich zu den apokalyptischen Dystopien der drohenden Katastrophe bekommen müssten. Carolin Emcke nutzte die Gelegenheit für eine leidenschaftliche Aufforderung, alle öffentlichen Diskussion zu verweigern, die “Pro und Contra” als Konzept haben: Dieser Ansatz mache Reflexion und Lösungssuche unmöglich, sondern führe immer zu einer Konzentration auf Abgrenzung, Angriff, Verhärtung.

Abschließend Applaus, der nur als “tosend” bezeichnet werden kann, im vollbesetzten großen Konferenzsaal.

Mittlerweile hatte ich mich wieder mit Herrn Kaltmamsell zur Heimfahrt verabredet. In der Ferienwohnung kurzes Ausruhen vor dem Nachtmahl: Ich hatte einen Tisch im Marjellchen reserviert, wir wollten ganz exotisch ostpreußisch essen.

Zwei Teller auf weißer Tischdecke, einer mit Fleischscheiben unter heller Sauce mit Salzkartoffeln, einer mit Fleischstücken in dunkler Sauce und mit Backobst auf der einen Seite, auf der anderen ein Hefekloß

So gab es gegenüber bei Herrn Kaltmamsell Schlesisches Himmelreich (Rauchfleisch mit Backobst und Hefeknödel) und bei mir Schmandschinken zu einem alkoholfreien Weißbier – wir waren beide sehr zufrieden. Auf Vorspeise hatten wir verzichtet, um noch Platz für Nachtisch zu haben.

Auf Tischdecke zwei breite, schmale Teller mit je drei grauen Klößen, dazwischen zwei Sahnehäufchen

Schlesische Mohnklöße, auch Mohnpielen genannt, erwiesen sich als weicher Teig mit Semmelbrot und Rumrosinen, schmeckten sehr gut.

die Kaltmamsell

7 Kommentare zu „Journal Dienstag, 28. Mai 2024 – Berlin 4, zweiter Tag re:publica24 und ostpreußisches Abendessen“

  1. Michael meint:

    ******************KOMMENTAROMAT**********************

    Made my day

    *******************************************************

  2. Anne meint:

    Oh, das Restaurant merke ich mir für den nächsten Berlinbesuch. Ich bekomme auch gerade wieder so ein bisschen re:publica-Heimweh (oder wäre es Fernweh), ich muss das einfach im nächsten Jahr wieder einplanen. Viel Spaß euch noch!

  3. Anita meint:

    Dass es das Marjellchen noch gibt…wie schön.
    Weckt Erinnerungen an meine Ausbildungs-und Studienjahre in (West-) Berlin 1986-1991, und an meine mittlerweile verstorbenen Eltern, mit denen ich bei jedem ihrer Besuche bei mir im Marjellchen war.
    Vielen Dank dafür !

  4. die Kaltmamsell meint:

    Danke Anne, ich würde mich sehr über eine Begegnung auf der nächsten re:publica freuen!

  5. Christian Kennerknecht meint:

    Sehr schön. Das ‘Marjellchen’ gibt es noch immer. Bin nie dort gewesen. Habe jedoch aufgrund meiner ostpreußischen Abkunft und Sozialisation davon gehört. ‘Bei uns Zuhause guckte immer ein Elch durch den Türspalt.’ Zitat Theweleit. Frei wiedergegeben.

  6. Christian meint:

    Sehr schön. Das ‘Marjellchen’ gibt es noch immer. Bin nie dort gewesen. Habe jedoch aufgrund meiner ostpreußischen Abkunft und Sozialisation davon gehört. ‘Bei uns Zuhause guckte immer ein Elch durch den Türspalt.’ Zitat Theweleit. Frei wiedergegeben.

  7. Sabine meint:

    Ich versuche gerade, zum Podcast Hopeful News wieder einzuschlafen (schöne Stimmen, keine verstörenden Themen) – und da wurde grad dieser Post erwähnt, mit sehr schmeichelhaften Worten! Um Minute 30 rum?

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