Journal Freitag, 3. Mai 2024 – Louise Erdrich, The Night Watchman
Samstag, 4. Mai 2024Louise Erdrich, The Night Watchman. Wieder erinnerte ich mich nicht, warum ich das Buch auf meine Leseliste gesetzt hatte, vertraute aber meinem früherem Ich – und kam so zu einem bereichernden Lese-Erlebnis.
Der Roman, 2020 veröffentlicht, spielt in den frühen 1950ern in einem Indianer-Reservat in Norddakota. Der titelgebende Nachtwächter Thomas gehört dem Rat der Chippewa an und erfährt vom Entwurf eines neuen “emancipation” bill, das alle Verträge mit Indianer nichtig machen und sie in die Gesellschaft “integrieren” soll – sie also auslöschen. Er versucht mit anderem Stammesmitgliedern, dieses bill zu verhindern. In diesem Rahmen werden Leben, Geschichte und Alltag einiger Stammesmitglieder und Weißer im Reservat erzählt, sprachlich zurückhaltend, mit nahezu neutral erscheinendem Blick und fast unsichtbarer Erzählstimme.
Im Mittelpunkt steht eigentlich Pixie, die Patrice genannt werden möchte: Eine junge, eigenwillige Frau, die in der neu eröffneten Fabrik arbeitet, mit ihrem Einkommen ihre Familie einschließlich alkoholkrankem Vater ernährt. Ihre große Sorge gilt der Schwester, die vor einiger Zeit in die Stadt gezogen ist und von der sie schon lange nichts mehr gehört hat.
Man könnte The Night Watchman als historischen Roman einordnen – aber hier störte mich das nicht, auch weil ich keine Bilder zu dieser Zeit im Kopf hatte. Zudem wurde nicht ein historischer Vorfall erschöpfend erzählt, auch nicht ein historisches Leben: In einem offensichtlich sauber recherchierten historischen Umfeld ist ein historisches Ereignis Anlass für eine Romanhandlung, die mich sehr fesselte.
Zu dieser besonderen Welt, von der ich wenig wusste, gehört auch ein wenig magischer Realismus aus der Kultur dieser Indianer heraus – den ich weder als romantisiert noch esoterisch empfand. Denn ist es wirklich so etwas anderes, ob nachts ein verstorbener Freund vorbei kommt und darauf hinweist, dass ein Kollege klaut – oder ob einem selbst klar wird, dass bestimmte Beobachtungen nur dann Sinn ergeben, wenn ein Kollege klaut? Und sind arme Menschen, die als Familien in Hütten weit voneinander entfernt wohnen, nicht schlicht darauf angewiesen, jede Veränderung in der Natur ihrer Umgebung zu deuten?
Als typische weiße Westlerin bin ich erheblich entspannter mit einer Art von Spiritualität, in der zum Beispiel Tote von Verwandten und Freunden auf ihrem letzten Weg begleitet werden müssen, damit ihre Geister zur Ruhe kommen. In der der Schlaf neben einem winterschlafenden Bären tiefe Ruhe verleiht. In der wiederkehrende Träume von abwesenden lieben Menschen echte Sorge auslösen können – als mit der meisten christlichen Spiritualität, die für mich als Angehörige dieser Kultur und mit meinen Erlebnissen belastet ist.
Was die Welt der Romanhandlung besonders macht, ist innerhalb der Romanhandlung Alltag: Wenn du eine weite Strecke zurücklegen musst, zum Beispiel in die nächste Stadt, und weder Auto noch Führerschein hast, dein Nachbar aber Pferde besitzt, dann reitest du halt in die nächste Stadt, klar.
Und mir wurde klar, dass im Grunde verlangt wurde und wird, dass sich die Indianer (und andere kolonialisierte Menschen z.B. in Australien oder Neuseeland) an das ihnen aufgezwungene politische System anpassen, wenn sie ihre Rechte (und ihre Identität) verteidigen wollen – eigentlich paradox. (Assoziationen mit Frauen, die nur dann eine Rolle in einem komplett männlich geprägten System spielen können, wenn sie sich erstmal dessen Regeln unterwerfen.)
Das Nachwort von Louise Erdrich erklärte ein wenig historischen Hintergrund – der mich dann wirklich erschütterte: Denn jetzt erfuhr ich, dass die Turtle Mountain Chippewa zu den wenigen Stämmen gehörten, die durch ihre sorgfältige politische Einflussnahme der termination entkamen:
In all, 113 tribal nations suffered the disaster of termination; 1.4 million acres of tribal land was lost. Wealth flowed to private corporations, while many people in terminated tribes died early, in poverty. Not one tribe profited. By the end, 78 tribal nations (…) regained federal recognition; 10 gained state but not federal recognition; 31 tribes are landless; 24 are considered extict.
Mehrere Dutzend andere Stämme wurden also durch genau diesen bill ausgelöscht – ein weiteres historisches Unrecht, von dem ich keine Ahnung hatte.
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Zum Tage:
Ich wachte früh auf, aber nicht viel unruhiger als sonst.
Draußen war es trübe. Auf dem Weg in die Arbeit sah ich einen Falken, der gerade auf der Villa Wagner auf der Theresienhöhe landete, aufgeplustert.
Intensiver Vormittag, doch ich konnte ruhigen Gewissens raus auf einen Mittagscappuccino marschieren, genoss die Bewegung.
Später Mittagessen am Schreibtisch: Apfel, außerdem eine unglaublich aromatische Mango (muss eine andere Sorte gewesen sein als sonst, hatte mir bislang völlig unbekannte Geschmacksnoten) mit Sojajoghurt.
Auch der Nachmittag wurde intensiv: Dank neuer IT-Berechtigungen konnte ich mit Schwung in neue (wiederbelebte) Aufgaben einsteigen.
Fast pünktlicher Feierabend, jetzt war es deutlich kälter geworden. Ich legte meinen Heimweg über einen Lidl, in dem ich unseren Süßigkeitenvorrat auffüllen wollte – und die ersten heimischen Erdbeeren sah und kaufte (sie hatten mich deutlich angeduftet).
Zu Hause ein wenig Gymnastik. Ich folgte der Empfehlung von Nichte und Bruder (beide begeisterte und intensive Heimtrainierende) und machte Pilates, nämlich “Move with Nicole”. War anstrengend, gefiel mir gut (außer dass meine Wirbel mittlerweile bei jeder Bauch-Übung krachen und rumpeln), das mit dem Schnaufen bekam ich noch nicht ganz hin. Allerdings hatte mich niemand auf den australischen Akzent vorbereitet (ich finde super, dass man den auch mal hört! kommt in Hollywoodfilmen/-serien ja nicht so oft vor). Und Menschen mit Gummigelenken finde ich immer ein bisschen gruslig.
Fürs Nachtmahl hatte Herr Kaltmamsell ein Blaukraut-Risotto aus der Gefriere aufgetaut, ich machte den restlichen Ernteanteil-Salat mit Tahini-Dressing an und schnippelte Erdbeeren zum Nachtisch. Wir stießen mit einem spanischen Rotwein Dehesa la Granja aufs Wochenende an.
Wir lernten: Einfrieren tut einem Risotto nicht wirklich gut, beim Wiederauftauen wird Reisbrei daraus. Durchaus schmackhafter Reisbrei. Die Erdbeeren zum Nachtisch bekamen ein wenig flüssige Sahne dran, schmeckten gut. Dann noch ein wenig Schokolade.
Ich ging früh ins Bett zum Lesen, las Zoë Beck, Memoria aus – in meinen Augen das bisher schwächste Buch von ihr.