Journal Freitag, 28. Juni 2024 – Bachmannpreislesen, Tag 2
Samstag, 29. Juni 2024 um 7:56Gut geschlafen, erfrischt aufgewacht.
Nach Fertigbloggen und Milchkaffee spazierte ich in schönem Sonnenschein zum ORF-Theater.
Der Zuguckort Lendhafen war bereits gut besetzt. Ich platzierte mich wieder ins Studio. Gestern verliefen die Jury-Diskussionen kontroverser und turbulenter (Verdacht, dass ihnen das am Donnerstag selber zu fad wurde), ich bekam einen deutlichen Favoriten zu hören, und erstmals mischte sich eine Autorin in die Jury-Diskussion.
Moderator Peter Fässlacher stellte die Mitglieder der Jury wieder mit Zusammenfassungen ihrer bisherigen Aussagen vor, das hatte schwer was von Herzblatt (Verzeihung, ich bin alt).
Los ging der zweite Lesetag mit Sophie Stein und “Die Schakalin”. Der Text hatte mit einer eher jungen Frau und einem eher jungen Mann zu tun, die sich im Urlaub kennengelernt hatten und bald heimfahren würden – und er interessierte mich nicht besonders. Anders die Jury: Mithu Sanyal mochte die “unglaubliche Atmosphäre”, den magischen Anfang, sah im Mittelpunkt zwei Figuren, die sich gegenseitig korrigieren wollten. Thomas Strässle fand die Merkwürdigkeiten der Frauengestalt am Anfang übertrieben, im Lauf der Geschichte aber plausibel, mochte Stimmung und Natur, sah den Gegensatz Produktivität-Prokrastination – wurde in seinen Erwartungen aber am Ende enttäuscht. Klaus Kastberger berichtete, er habe sofort den Verdacht gehabt, der Text sei einem philosophischen oder naturwissenschaftlichen Seminar entsprungen: Er fand ihn angbeberisch, nach Nestroy “hat Sonntagsgwand an”, sei auf Ausdruck getrimmt und leide an “Adjektivitis”. Aus Mara Delius’ Sicht war der Text leicht zu unterschätzen, sie wies auf Mittel der phantastischen Literatur hin, aufs Erschauern, auf den Modus der Unsicherheit. Brigitte Schwens-Harrant1 mochte die Anlage mit dem Ort, der Zeichen des Übergangs setze – Fluss, schwarzes Meer (wo Ovid ja seine Metamorphosen geschrieben habe). Doch daraus mache der Text zu wenig.
Philipp Tingler hatte nichts gegen Angeberisches, ihm gefiel die Bewegung, die Determiniertheit. Doch er hatte ein Problem mit dem Verhältnis der Figuren zueinander: keine Bewegung, keine Dynamik. Laura de Weck konzentrierte sich auf die Korrekturen und die Frage, ob wir bereit wären, auf einen Teil unserer Kindheit zu verzichten, wenn wir dadurch von seinen Traumas befreit würden. Delius sah sehr wohl eine Entwicklung, die “Korrekturen” der Frau als utopisches Projekt zum Recht auf ein glückliches Leben. Kastberger kritisierte, dass der Text in jedem zweiten Satz etwas aus einer Theorie hole. Dann wurde es wirr, weil es mal um die Spannung zwischen den Figuren ging, dann wieder um den Realitätsgehalt von Inhalten, dann um Kastbergers unterstellte Entstehung des Texts – nach meiner Auffassung wurde viel aneinander vorbei geredet.
“Eine Treppe aus Papier” hieß der Text von Henrik Szánto, der mit einer langen Aufzählung begann – auf die ich mich nach kurzem Stutzen einließ, weil sich schon aus der Aneinanderreihung Atmosphäre und eine Geschichte ergaben. Dann setzten zunächst rätselhafte Bilder ein – doch bald wurde klar: Hier erzählte ein großes altes Wohnhaus in einer deutschen Stadt über die Bewohner*innen vieler Jahrzehnte – in ständigen zeitlichen, räumlichen, persönlichen Überlagerungen (“wie ein mehrfach belichteter Film”). Ich war hingerissen, hatte sehr deutlich Häuser in München Schwabing vor Augen. Nach der Lesung langer Applaus.
De Weck erzählte von ihrer Mühe, in den Text hineinzukommen, habe ihn dann aber gerne gelesen: Wieder Thema Vergangenheit und wie sie nachwirkt, in diesem Fall über konkrete Gestalten, bis hin zur Fliegerbombe in der Gegenwart, wegen der wieder die Bewohner das Haus verlassen müssten. Sanyal mochte die Perspektive der ersten Person Plural, sah aber das Problem, dass ein erzählendes Haus den Personen nicht sehr nahe kommen könne – sie fühlte sich an ein Ali-Mitgutsch-Wimmelbild erinnert. Kastberger nannte den Text “fulminant”, diese literarische Form sei ihm noch nie begegnet, sie mache deutlich, das Historisches nie vergangen ist. Der Text schiebe Dinge übereinander, eben nicht wie in einem Wimmelbild. Strässle fand ihn eindrücklich und originell. Tingler äußerte sich berührt durch die Offenheit des Textes, die Autonomie der Erinnerung. Wichtig sei das Thema Material, Substanz – zum Beispiel Papier als Material der Weitergabe von Erinnerungen; manches sei ihm aber “too much” gewesen.
Schwens-Harrant fand das Haus als Metapher mutig, war sofort im Text gefangen – rühmte das Medium Literatur, das ermögliche, dass alles gleichzeitig sein kann. Als Schwäche bezeichnete sie die Erklärungen, die sich “hineingeschummelt” hätten. Sanyal kritisierte die Zeichnung der negativen Figur: Sie fragte, was sie noch außer böse sei. Für Delius war das Konzept des Texts “Defiguration”, sie mochte auch die Ansprache des Publikums.
Denis Pfabe las “Die Möglichkeit einer Ordnung”. Der Text spielt in einem Baumarkt, das mochte ich, darin verbringt die Hauptfigur einen Tag. Doch schon als eher am Anfang die Rede war von Räumen des Eigenheims, die “nun doch leer bleiben würden”, schnappte der Topos (trope?) vergeblicher Kinderwunsch zu, und ich hörte alles Folgende aus dieser Perspektive. Schwens-Harrant beschrieb, wie der Text immer wieder während des Tags im Baumarkt ein Stück Information vermittle; wichtig sei das Setting Baumarkt – ein Ort, an dem Träume verkauft würden, die für ein bestimmtes Lebens- und Familienmodell stehen, für die Lebenslüge, wenn man sich nur genug anstrenge, könne man alles schaffen. Hier aber setze er eine “unheimliche Trauergeschichte in Gang”. Der Text überschreite Grenzen, wie die Hauptfigur am Ende hinter die Regale kriecht. Für Delius war das ein “absolut perfekter Text”, meisterhaft, wie er “Suspense” aufbaue, wie er komponiert sei. Aus ihrer Sicht gebe es möglicherweise das Haus gar nicht. Auch Strässle lobte ihn als hervorragenden Text, er bleibe bei der Möglichkeit. Er hatte nur spät begriffen, dass es sich um eine Verlustgeschichte handelte, das sei “extrem subtil” gemacht (wie bitte? nur wenn Baumarkt-Vorschlaghammer subtil sind). Alles gehe wunderbar auf, er fand nur die Farbsymbolik aufdringlich. Auch de Weck sprach von einem starken Text, vom Versuch einer Figur, etwas tief Emotionales mit Technischem zu lösen. Sanyal gab zu, der Text habe ihre Geduld strapaziert: Eigentlich müsse das Paar miteinander reden, doch die Hauptfigur rede statt dessen mit den Angestellten des Baumarkts.
Tingler, der die Geschichte auch mitgebracht hatte, lieferte mir den Schlüssel für einen gnädigeren Zugang: Das Surreale. Die Gespräch würden gar nicht wirklich geführt, nichts an dem Vordergrund sei verlässlich, schon gar nicht die Hauptfigur. (Damit löste sich auch mein Unwohlsein auf, dass die Hauptfigur den ganzen Tag, die ganze Geschichte hindurch weder Hunger hatte noch aufs Klo musste.) Für ihn war der Text eine Parabel des Bemühens. Kastberger fand den Text langweilig, Delius ordnete ihn als Krise der Männlichkeit ein. Kurzer abschließender Schlagabtausch zwischen Sanyal, die festhalten möchte, dass manche Texte halt manche Leser*innen nicht erreichen, das könne man aber nicht den Texten vorwerfen, und Tingler, der auf den Wert objektiver Kriterien pocht. (Ich stimmte schon wieder Tingler zu, mich interessiert aber die Wirkung dieser objektiven Kriterien auf den Rezeptionsprozess – siehe meine nie fertiggestellte Dissertation.)
Mittagspause, draußen war es sonnig und in der Sonne heiß. Für meinen Mittagscappuccino spazierte ich zur Hafenstadt – ein Bereich mit Locations, der erst nach meinem Besuch vor zwei Jahren eingerichtet wurde und mir sehr gefällt.
Schmeckte mir sehr gut!
Der Nachmittag begann mit Olivia Wenzel und “Hochleistung, Baby”: Erstmals tauchte Fußball auf, erstmals in diesem Bewerb gab es kleine Kinder. Sanyal schwärmte sofort, der Text habe sie umgeworfen mit seiner Verschränkung einer Quasi-Reportage eines Fußballer-Interviews und der Ich-Erzählung aus einer Gruppe Mütter. Er breche mit vielen Tabus (Milchstau), sei auch sehr lustig. Für Strässle war der Text vordergründig sehr attraktiv, spreche von Klasse, Gender, nutze eine Klaviatur von Effekten, sei raffiniert gemacht – und werfe mit dem Schluss als Traum rückblickend ein neues Licht auf alles. Kastberger freute sich über einen seltenen Text über Fußballer, war fasziniert von der Mischung Fußballerwelt und Frauenwelt, fand die journalistische Neugier spannend, fand die literarische Form hochinteressant, sah darin sogar eine altmodische Novelle. Delius sprach von einem Thesenstück, in dem alle Themen der Zeit vorkommen, in der Umsetzung sei es aber konservativ. Sie wies auf das merkwürdige Frauen-Kollektiv hin und die offensive Körperlichkeit – fand alles aber nicht gut genug miteinander verbunden.
Für Tingler war der Text “modische Literatur”, er arbeite mit einem modischen Begriff der Identitäten, dem sich der Fußballer aber widersetze. Ihn störte die kitschige Ozeanfantasie, die konventionelle Schilderung des Begehrens. Sanyal wiederum fand den Text radikal, unter anderem durch die reichliche Verwendung von Englisch. Für de Weck hatte der Text mehrere Ebenen, auch inhaltlich, er setze sich mit wirklich zeitgenössischen Themen auseinander, literarisch auf bestmögliche Weise verarbeitet. Schwens-Harrant sah den Schlüssel in Begehren und Körperlichkeit, ihr gefielen die “Wir”-Teile besonders gut. Die Gruppe der Frauen bestehe nicht aus Individuen, sie zeige Mütter als die eigentlichen Hochleistungssportler.
Und nun schaltete sich die Autorin Olivia Wenzel ein: Sie bat zum einen Delius darum, die Beschreibung “konservativ” genauer auszuführen, erklärte der Jury außerdem, ab wann und wie die Traumphase im Text einsetzte und dass er darum gehe, wie man aus zugeschriebenen Rollen ausbrechen kann. (Habe sofort die Mutter von Garp im Film vor Augen, gespielt von Glen Close, wie sie auf Garps Erklärung, was seine erste Kurzgeschichte bedeutet, strahlend sagt: “Wenn sie das bedeutet, mag ich sie!”) Die Autorin hatte ihre Chance doch bereits gehabt: Beim Schreiben des Texts. Delius erklärte aber bereitwillig, dass die Sprache mit ihren Bildern wenig mache, vieles sehr erwartbar sei.
Und Geschichte Nr. 5: Kaśka Bryla, “Der Kakerlakenschwarm”. Der Text erwies sich als Corona-Geschichte in einer Bauwagen-Umgebung, ich fand nichts daran, was mein Interesse gehalten hätte. De Weck aber hatte sie sehr gern gelesen, mochte die Atemlosigkeit und Direktheit. Nahezu ohne Punkt geschrieben, hätte sie von dieser Formalie allerdings einen Zusammenhang mit dem Inhalt erwartet – der nicht gekommen sei. Strässle wollte nicht mal wissen, wie die Reise weitergeht, konnte auch nichts mit den Metaphern anfangen. Viele Themen würden angetippt: Käfig als Transittraum, Geschlechtsdefinition. Sanyal hätte gerne die folgende Heilungsgeschichte gewusst. Schwens-Harrant las als Themen Schmerz auf verschiedenen Ebenen, Krankheit als Isolation, eine weitere Auseinandersetzung mit der Vergangenheit des Vaters, Nachgeborene mit dem Auftrag, die Geschichte aufzuschreiben. Sie konnte auch die Kakerlaken zuordnen.
Tingler störte sich an der Selbstbezüglichkeit ohne Transzendenzen, Kastberger fand die bisherigen Interpretationen der Jury interessanter als den Text selbst. Dann ging es ein wenig hin und her, ob das Celan-Zitat am Ende passte oder nicht.
Mein Plan war gestern, nach kurzen Einkäufen fürs Abendbrot zum Strandbad zu marschieren. Als ich aus dem ORF-Theater ins Freie trat, stutzte ich allerdings: Der Himmel war bedeckt. Erstmal frühstückte ich im Garten kurz nach drei Pumpernickel mit Fischkäse.
Bei meinen Einkäufen beschloss ich, es darauf ankommen zu lassen. In der Ferienwohnung sonnencremte ich mich also und schlüpfte in einen Bikini, warf ein Strandkleid über und marschierte los. Unterwegs wurde es immer sonniger und ich traf auf Erst-Schlachtenbummlerin Moni (@gedankenträger), die zum Strandbad radelte. Wir schlossen uns zusammen, schwammen, ratschten, sonnten uns. Sie zog aber bald schon wieder zu einer Veranstaltung ab.
Ich hörte Musik, behielt die Kopfhörer auch auf dem gut halbstündigen Weg zurück auf: Das mache ich sonst nie, ich ertappte mich dabei, wie ich immer wieder im Takt der Musik ging, manchmal fast tanzte.
Mein Traum für Münchens Zentrum.
Hier am Lendkanal hat’s wirklich riesige Robinien.
Zurück in der Ferienwohnung lag noch das Verbloggen des ganzen Lesetags vor mir, ich machte mich dran. (Von Erholung war in Klagenfurt eh nie die Rede.) Um halb neun hatte ich dann aber argen Hunger, kochte also mit der weniger als mageren Ausstattung Nudeln, mischte sie mit gewürztem Joghurt, Käse, Tomaten (die einzige Schüssel hat Waschtrog-Format, kein Foto to protect the innocent). Zum Nachtisch gab’s Flachpfirsiche und sensationell aromatische Nektarinen. Es ist ein Elend, dass in der Saison importiertes Lidl-Obst verlässlich besser ist als das aus dem Bio-Supermarkt oder von Standln – ich möchte die Anbaubedingungen wirklich nicht unterstützen, liebe aber gutes Obst.
Nicht geschafft: Freitagszeitung lesen, auch nur eine Zeile meiner aktuellen Romanlektüre.
- Zefix behaupte nochmal jemand, ich hätte einen schwierigen Namen! Diesen muss ich auch nach Jahren #tddl fast jedesmal nachschauen – so heißt man nicht! [↩]
2 Kommentare zu „Journal Freitag, 28. Juni 2024 – Bachmannpreislesen, Tag 2“
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30. Juni 2024 um 7:19
Ihre Zusammenfassungen sind mal wieder wunderbar! Treffsicher, klar, unparteiisch, eine große Freude, auf diese Weise mit dabei zu sein! Danke sehr!
30. Juni 2024 um 10:28
„Ich hörte Musik, behielt die Kopfhörer auch auf dem gut halbstündigen Weg zurück auf: Das mache ich sonst nie, ich ertappte mich dabei, wie ich immer wieder im Takt der Musik ging, manchmal fast tanzte.“
Ja aber genau deswegen macht man das doch! Ich lege mir zum Beispiel Musik mit schnellerem Beat auf die Kopfhörer wenn ich spät dran bin. Der Gehweg verkürzt sich in der Zeit um mehrere Minuten. Zudem gibt es Energie und macht gute Laune.