Journal Montag, 24. Juni 2024 – Ulrike Draesner, Die Verwandelten / Lerchenlauf

Dienstag, 25. Juni 2024 um 6:23

Ich war fast erschlagen von einem Kunstwerk dieser Dichte – das gleichzeitig eine Geschichte, mehrere Geschichten so spannend erzählt, dass ich an jedem Punkt wissen wollte, wie sie weitergehen. Und dass ich traurig war, dass ich das Ende von einigen nicht erfuhr. Wie halt im echten Leben (“was ist eigentlich aus Adele geworden?”).

Der Roman erzählt von verschiedenen Frauen, aber nicht linear; wir lernen sie kennen, wie man auch im Leben echte Menschen kennenlernt, ausschnittweise. Das ist ein realistischer Effekt einer eher nicht-realistischen Erzählweise. Wir lernen unter anderem kennen: In der Gegenwart eine deutsche Anwältin mit einem Adoptivkind, eine polnische Auswanderin und ihre Mutter in Breslau. In der Vergangenheit der 1930er bis weit in die 1940er: Eine deutsche Familie in Breslau, ihre Köchin, die Kinder von beiden.

Die erste Hälfte des Romans spielt vor allem in der Gegenwart in Deutschland und in Polen – immer wieder werden deutsche geflügelte Worte mit ihren polnischen Pendants abgeglichen. Die Kapitel und ihre Figuren werfen aber bereits Geschichts-Angeln aus in die Vergangheit während und nach dem Zweiten Weltkrieg. Größere Kapitel beginnen schon hier von Verstrickungen zu erzählen, die sich um einen Lebensborn-Standort ergaben.

In der zweiten Hälfte ist Krieg in Breslau, endet der Krieg, beginnt die direkte Nachkriegszeit – und die vorher poetisch angedeuteten Grauen brechen herein.

Ganze Kapitel beschreiben die letzten Tage von Breslau und die Flucht einiger Protagonistinnen vor den heranrückenden russischen Soldaten, in expressionistischen Eindrucks- und Gedankenfragmenten.

Viele dieser Fragmente bekommen erst im weiteren Erzähl- und Gedankenverlauf einen begreifbaren Kontext. Und selbst dann bleiben Unscharfes und Vages, gibt es wenig Schwarz-Weiß.

Jedes Kapitel des Romans wird mit einem Stück eingeleitet, das eher Gedichte ist (im ebook auch Grafik, nicht Text); die Striche darin erinnerten mich an eines der frühen Kapitel, in dem Frauen gemeinsam eine Tischdecke besticken: Die Länge der Stiche ein Bild für die Gewalt, die ihnen angetan wurde.

Draesner greift zu nicht-realistischem Erzählen für das Unerzählbare. Ich fühlte mich erinnert an Kurt Vonneguts Slaughterhouse Five, das für das Erzählen der Grauen von Dresdens Zerstörung ebenfalls zu nicht-realistischen Mitteln greift, wenn auch ganz anderen. Wichtig: Draesners Roman besteht nur aus Geschichten von Frauen, alles hat weibliche Perspektive, es gibt nur den weiblichen Blick.

In seiner Besprechung für die Süddeutsche analysiert Burkhard Müller, “Ulrike Draesner will das Schweigen von Frauen hörbar machen”. Das trifft es meiner Meinung nach sehr gut (in anderen Aspekten stimme ich ihm nicht zu).

Die schönsten, lebendigsten Bilder und Vergleiche aber gehören den Kapiteln, die in der Gegenwart spielen – in denen Draesner sich mehr erlauben kann vor einem zeitgenössischen Lesepublikum. Zum Beispiel in den Gedanken der polnische Auswanderin nach Deutschland Doro, die nach Langem wieder in Polen ist, in Warschau:

…während ich mich ins Polnische zurückstottere. Hybridautos schalten unmerklich um, mein Hirn hingegen, menschhybride, glich einem handbetriebenen Glockenspiel.

Gegen Ende erklärt sich der Titel des Romans: Ovids Metamorphosen tauchen auf, Doros Mutter hatte ihr als junges Mädchen das Buch mitgebracht.

Erst später entdeckte ich, dass der römische Autor in seinen Metamorphosen fast fünfzig Mal von einer Vergewaltigung erzählte.

Für mich eine Überraschung: Wie viele Saiten dieses Buch in mir anschlug, Saiten, die ich mir nur gespannt von meiner polnischen Großmutter erklären kann. (Draesners Vergleichkunst lädt zur Forführung ein.)

Lese-Empfehlung an alle, die mit Anstrengung bei Lektüre zurechtkommen, sowohl kognitiv als auch emotional.

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Guter Schlaf bis kurz nach vier, als mich Angst nicht wieder ganz einschlafen ließ. Egal, ich hatte den Wecker eh sehr früh gestellt: Ich wollte hinaus auf einen Isarlauf, sonst würde ich wohl die ganze Woche nicht zu Sport kommen.

Ich verließ das Haus in einen herrlicher Morgen, doch schon nach kurzer Zeit bekam ich Bauchweh, meine Därme begannen Samba zu tanzen. So war ich sehr, sehr froh um das schicke Klohäusl bei Maria Einsiedel, das ich ansteuern konnte. Den Rückweg lief ich umso leichter.

Blick von Brücke aus Fluss, über dem die Sonne aufgeht

Ein Metallsteg ragt in einen Fluss hinein, über den Auen geht die Sonne auf

Blick von der Marienklausenbrücke Richtung Thalkirchen.

Fusslandschaft in goldener Morgensonne, rechts eine Hütte mit Grafitti bemalt

Über ein Steggelände Blick auf Flusslandschaft mit Kiesbänken in goldener Morgensonne

Holzsteg, rechts davon schäumendes Flusswasser

Gestern schäumte die Isar wieder mehr.

Pfad durch sonnendurchfluteten Laubwald

Allerdings kam ich durch diese Verzögerung deutlich später los in die Arbeit als geplant, weiterhin in herrlichstem Wetter. Im Büro schob sich erstmal die Technik in den Vordergrund, ich versuchte zwischen einem halben Dutzend erzwungener Neustarts die wichtigsten Infos zu erhaschen, weiterzugeben, an Online-Besprechungen teilzunehmen. Verfangerles-Gefühl. Den Rest des Arbeitstages klickte ich die Update-Versuche weg, zum Glück ging das (habe auch schon Anderes erlebt).

Mittagscappuccino bei Nachbars, allein die paar Schritte durch Sonne und Wind waren herrlich – echt kein Wetter zum Arbeiten. Ich roch, dass manche Linden in die Nachblühzeit gingen.

Mittagessen: Zwei wunderbare Kiwis (warum esse ich eigentlich so selten Kiwis? ach ja, weil ich sie im Verkauf nur knallhart antreffe), Hüttenkäse mit Leinsamenschrot.

Mit Kollegin “gebremste Mode” erfunden (slowed down fashion?): Wenn man den 50-Euro-Rock von Zara zehn Sommer lang trägt, inklusive einmal Ändernlassen.

Nach Feierabend war es immer noch sonnig und immer noch nicht heiß. Über Edeka-Einkäufe nach Hause.

Dort Gymnastik, Brotzeitvorbereitung, Erbeerschnippeln, Kopfsalat-Anmachen. Zu Letzterem hatte Herr Kaltmamsell spanische Tortillas aus Ernteanteil-Kartoffeln gebraten. Nachtisch Erdbeeren, dann Schokolade.

Im Bett fing ich neue Lektüre an: Dana von Suffrin, Otto.

Und hier lasse ich Sie an meiner Reiseplanung für Klagenfurt teilnehmen, genauer an der Bekleidungsplanung basierend auf Wettervorhersage (jedes Kleidungsstück, das ich ungetragen zurückbringe, ärgert mich).
Fahrten hin und zurück: Neues Kleid 2, weiße Jeansjacke
Donnerstag: blaue Hose, Tunika – abends neues Kleid 1 mit dunkelblauer Seidenjacke
Freitag: Neues Kleid 1
Samstag: Weiße Hose, gelbe Tunika
Schuhe: Sandalen weiß, Sandalen rot
(Turnschuhe? Socken?)
Laufkleidung
Badesachen
Schirm

Mittlerweile befasst sich auch der wenig steuerbare Teil meines Hirns mit dem anstehenden Bachmannpreislesen, zum Beispiel während des gestrigen Isarlaufs. Ob wohl wieder der eine Testosteron-Text dabei ist? Wird sich die Markt-Strömung Autofiktion niederschlagen? Auf der Website ist schonmal zu sehen, dass die diesjährige Tasche hell ist: Das kommt mir entgegen, zum einen weil meine graue Tasche von 2023 nach zahlreichen Einsätzen auf Reisen recht durch aussieht, zum anderen weil mir eine helle Transporttasche im Bestand fehlt. Vier der Jury-Mitglieder kenne ich schon, drei sind mir neu (eine davon, Mithu Sanyal – “Studium: nahezu alle Fächer der philosophischen Fakultät” – schreibt auch fürs Missy Magazine; ich hoffe auf massives Gegenhalten zu den angestrengten Zickereien von Philipp Tingler).

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Die Deutsche Bahn hat’s in die New York Times geschafft!
“In Germany, a Tournament Runs Smoothly, but the Trains Do Not”.

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Falk Steiner schreibt über Online-Shops mit ausgefallenem Sortiment. Für den Fall, dass Sie eine Insel oder ein Unternehmen shoppen wollen:
“Missing Link: Wie skurrile Marktplätze immer noch überleben”.
Den Kalauer mit “Lokangebot” konnte Falk natürlich nicht liegenlassen, ist ja auch nur ein Mensch.
(Wobei ich Crowdfarming oder Kauf-ne-Kuh überhaupt nicht skurril finde.)

die Kaltmamsell

3 Kommentare zu „Journal Montag, 24. Juni 2024 – Ulrike Draesner, Die Verwandelten / Lerchenlauf“

  1. Sandra meint:

    Der Artikel in der NY Times war gestern Abend auch Aufhänger für einen Bericht der Tagesthemen. Weiterer Skandal ist, dass man seine Bratwurst bar bezahlen muss. Aber die Deutschen seien freundlicher, als gedacht.

  2. Norman meint:

    Verfangerles-Gefühl ‒ bitte, was?

  3. die Kaltmamsell meint:

    Googlen für Norman:
    https://www.bayrisches-woerterbuch.de/vafangales-das-verfangerles-das/
    (Bezeichnenderweise von einer Ingolstädterin eingereicht)

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