Journal Freitag, 30. August 2024 – Anja Reich, Simone
Samstag, 31. August 2024 um 8:05Recht gut geschlafen, ich hörte Herrn Kaltmamsell irgendwann heimkommen.
Ein klarer Morgen, sehr frisch. Ich setzte mich dennoch für meinen Morgenkaffee auf den Balkon.
Irgendwann setzte sich Herr Kaltmamsell zu mir (sehr ungewöhnlich am Morgen) und begann: “Änderungen der Pläne. Alles gut, aber schlechte Nachrichten, aber alles gut.” Die schlechte Nachricht war die von einem häuslichen Unfall seiner Mutter; zum Glück in seiner Anwesenheit, er konnte sich kümmern, ins Krankenhaus mitfahren etc.
Marsch in die Arbeit durch Morgenfrische, im Büro schlüpfte ich gleich mal in meine Wolljacke. Beim Sortieren der gestrigen Süddeutschen das erst Highlight des Tages.
Ich feier das Foto und diesen Blick SO!
Ja, meine Herrschaften, so sieht der Körper einer alten Frau aus. Die genauso ein Anrecht auf Strand mit Sonne und Wind auf der Haut hat wie alle anderen. Und die sich genauso wenig Ihre Gedanken und Urteile dazu anhören muss wie eine junge.
Der Artikel dazu ist gut, aber auch ein wenig traurig. Gut, weil Autorin Barbara Bachmann nicht auf Teufel komm raus etwas Besonderes reinzuspitzt, keine kuschlige Dorfgemeinschaft auf Capri konstruiert, sondern die Frauen halt so normal und individuell darstellt, wie sie wahrscheinlich sind. Traurig, weil klar wird: Altsein ist nicht wirklich die ultimative Party, einsam kann man auch in kleinen Communitys sein.
Meine bezahlte Geschäftigkeit begann mit Erleichterung, weil sich das Arbeits-Problem des Vorabends gelöst hatte (durch mein Anschieben), ging weiter mit Freude, weil ich das nächste Problem, das mir telefonisch durchgestellt wurde, auch lösen konnte.
Im Büro war es weiterhin Strickjacken-kalt, ich wärmte mich auf dem Weg zu meinem Mittagscappuccino im Westend auf.
(Ich sitze nur so komisch da, um meine gestrige Kleidung und Schuhe mit aufs Foto zu bekommen.)
Brotzeit zu Mittag: Restliche Kartoffeln vom Vorabend, Melone, Trauben. Wie befürchtet: Ich fühlte mich sehr voll (schaffte das Pumpernickelbrot mit Butter nicht, dass noch im Kühlschrank lag), doch zweieinhalb Stunden später knurrte mir schon wieder der Magen. Jetzt ging Pumpernickel nicht mehr, wenn er mir beim Yoga nicht hochkommen sollte. Blöderweise war mir auch noch schwindelig, das nahm mir einiges von der Freude auf den Feierabend.
Nach pünktlichem Arbeitsende gemütliches Spazieren zu Einkäufen in Drogeriemarkt und Vollcorner, daheim Yoga-Gymnastik, eine ruhige Folge – die mich allerdings weiterhin die Folgen des Unterschenkelkrampfs rechts beim Schwimmen am Mittwochnachmittag spüren ließ, auf den letzten 100 Metern hatte mich diese Veranlagung doch noch eingeholt. Auf den Alkohol zur Wochenend-Entspannung freute ich mich sehr, ich mischte uns den ersehnten Aperol Spritz.
Und er hatte sofort die medikamentöse Wirkung, die ich erhofft hatte. (Lebensverkürzung kann mich ja nicht schrecken.) Auf dem Balkon saß es sich wunderbar in warmer Luft. Die kürzeren Tage verhindern auch heiße Nächte, ich öffnete schon bald nach Sonnenuntergang die Fenster.
Früheres Abendessen, weil ich jetzt echt Hunger hatte: Herr Kaltmamsell verwandelte die Ernteanteil-Aubergine in wunderbare Spaghetti Norma. Zum Nachtisch gab es Haselnusseis.
Besonders früh ins Bett zum Lesen (zum einen wegen Alkohol-Müdigkeit, zum anderen darf man ja am Wochenende so früh ins Bett, wie man will). Dort Anja Reich, Simone ausgelesen. Ich fand das Buch bis zuletzt sehr gut, auch wenn es mich in meinem jetzigen Zustand eher runterzog.
Kein Roman, sondern eine reale Geschichte, persönliche Erinnerung, journalistische Recherche: 25 Jahre nach deren Suizid forscht Anja Reich ihrer Freundin Simone nach, die sie Mitte der 1980er noch im DDR-Berlin als Schwester ihres Freunds André kennenlernte. Reich ist erfahrene Journalistin und wendet ihr Handwerkszeug an, doch sie reflektiert sich auch persönlich und ihre Verbindung zu Simone. Basis ihrer Recherche ist Simones Nachlass: Sie hat von Jugend an Tagebuch geführt, Simones Eltern überlassen Anja Reich alle Unterlagen, die sie ohnehin gerade entsorgen wollten. Reich spricht mit Simones damaligen Freunden, Liebhabern, mit ihrer Familie in Tschechien und Deutschland, zitiert aus Simone Aufzeichnungen. Doch sie geht auch ihren eigenen Schuldgefühlen und ihrer eigenen Trauer nach, spricht mit Expert*innen für psychische Erkrankungen und Suizid, recherchiert aber auch Hintergründe der gesellschaftlichen Dynamik nach dem Mauerfall in Ostdeutschland.
Das Ergebnis ist ein Geschichtsbuch, das an konkreten Beispielen, auch dem ihres eigenen Lebens, ein klein wenig nachvollziehbar macht, welche existenzielle Erschütterung das Verschwinden der DDR für fast alle ihre Bewohnenden war: Keine der bisherigen Regeln, Verlässlichkeiten und Aussichten galten mehr, hart erkämpfte Errungenschaften waren nichts mehr wert, vielleicht sogar man selbst nicht. Das macht Reich gleichzeitig journalistisch professionell und persönlich nahbar; sie zielt nicht auf Effekte, sondern auf Erkenntnis. Und transportiert sehr viel weitere Information, unter anderem Strukturen der Kinderbetreuung in der DDR (-> Wochenkrippen), am Beispiel von Simones Mutter Dana und ihrer Familie die Lebensläufe von tschechischen Einwanderern in die DDR oder den Ausnahme-Alltag in Berlin nach dem Mauerfall.
die Kaltmamsell3 Kommentare zu „Journal Freitag, 30. August 2024 – Anja Reich, Simone“
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31. August 2024 um 10:22
Vielen Dank für Ihre Buchrezensionen, sie gefallen mir immer sehr gut. Sie geben Einblicke ins Thema und “Drumherum”, ohne zu viel zu verraten.
31. August 2024 um 10:38
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Gerne gelesen
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31. August 2024 um 23:21
Ja, das war eine Freude, die selbstbewussten alten Damen auf und im SZ Magazin zu sehen. Diese Realität tut auch mal gut.
Von Anja Reich kenne ich das Buch “Der Fall Scholl – das tödliche Ende einer Ehe”, eine spannende journalistische Aufarbeitung eines” true crime” Falles.
Das war schon gut geschrieben und nach Ihrer positiven Rezension ein Grund mehr nun auch “Simone” zu lesen.
Allein schon der Gedanke an Wochenkrippen verursacht mir Ubelkeit. In meinen Augen ein andauerndes Elend für Elternteile und Kinder. Vom totalitären Staat gewünschter Nebeneffekt war natürlich die Indoktrination der kleinen Menschen, damit diese sich später reibungslos ins System fügen.
In diesem Zusammenhang empfehle ich unbedingt Anne Rabes Buch “die Möglichkeit von Glück”. Auch sehr aufschlussreich zum Verständnis unterschiedlicher Sozialisation in Ost und West.