Journal Sonntag, 29. September 2024 – Übersiedlung von Pollença nach Alcúdia

Montag, 30. September 2024 um 8:37

Realitätsflucht halte ich für eine irreführende Bezeichnung: Wenn die Realität momentan einfach ist, wo man nicht sein möchte? Zum Beispiel weil sie zu viele entkräftend kreiselnde Gedanken, Erinnerungen, Ausblicke, Gefühle enthält? So merkte ich am Samstag durch immer tiefer hängende Flügel und weil mir nichts einfallen wollte, worauf ich mich freuen konnte, dass ich eine Alternative brauchte, ein Ausweichen: Realitätsferien. Wie wunderbar, dass ich am Vorabend einen Roman begonnen hatte, der mir gut gefiel und dessen weitere Handlung mich sehr interessierte: David Schalko nahm mich mit seinem Schwere Knochen in die Kriminellenszene von Konzentrationslagern und der österreichischen Nachkriegszeit mit, in einem sehr wienerisch lakonischen Tonfall. Dort beim bauernschlau-brutalen Krutzler und seiner Bande wollte ich viel lieber sein als bei mir, sollten sich meine blöden Gefühle und Befindlichkeiten bitte im Hintergrund um sich selber kümmern, im Idealfall sortieren. Zeitung, Nachrichten, Blog konnten ebenfalls selber schauen, wo sie blieben.

Es sollte dafür eigene Läden geben: Eskapismus aller Art. Romane, Filme, Strickzeug, Gesellschafts- und Geschicklichkeitsspiele.

Ich hatte gestern gut geschlafen, wachte aber viel zu früh auf. Nach einiger Weile schaffte ich es nochmal einzuschlafen.

Frühstück ließ ich aus, gestern brauchte ich ja auch keine Brotzeit, statt dessen ging ich in den wundervoll sonnigen Morgen in Pollença. Die Fußbeschwerden, um die ich mich vor der Wanderung sorgte, machten übrigens überhaupt keine Probleme; ich bemerkte ihre Existenz wenn überhaupt beim Gehen außerhalb der Wanderungen. Und ich bin natürlich nicht die einzige, die hier von Mücken gestochen wird: Gerade helle nackte Beine um mich herum sind praktisch alle mit deutlich mehr Quaddeln übersät.

Morgensonnenlicht in Dorfgasse, rechts eine moderne Steinskulptur, links eine Außentreppe zwischen Häusern, auf dern ein Mann sitzt und in einen Handy-Bildschirm spricht, im Hintergrund Zypressen

Der Herr links filmte sich gerade beim Aufnehmen einer Predigt, zumindest dem spanischen salbungsvollen Tonfall nach, es ging um eine übergewichtige junge Frau.

Türstock eines alten Steinhauses mit einem Stoffvorhang verhängt

Ikat-Muster in natürlichem Habitat – hier ein ausführlicher Artikel im AD-Magazin zum speziellen Färbe- und Webverfahren sowie zu den regionalen Unterschieden.

Von leicht unten die helle, schlichte Fassade einer Kapelle, auf beiden Seiten Bäume, rechts der Schattenriss eines Gitarrenkoffers und eines Gitarrenhalses

Calvarien-Kapelle, vor der sich gerade ein Gitarrist in Paco-de-Lucía-Outfit warmspielte (hat tip an den Gitarre-spielenden Neffen 2, der bereits die korrekten Stiefel besitzt).

Alte Urkunde auf Spanisch hinter Glas, in dem sich die Fotografin spiegelt

An der Innenwand der Kapelle. So sieht also ein Ablassbrief aus, ich lernte die spanische Bezeichnung Rescripto de indulgencias und freute mich an dem “ETC., ETC”.

Blick von innen auf einen sonnigen Vorplatz, rechts eine große dunkle Holztür mit Nagelmuster, links klein zwei Menschen, die sich nähern

Erhöhter Blick auf eine Stadt im silbernen Mirgendunst, von grünen Hügeln umgeben

Pollença

Schräger Blick hinunter auf eine sonnenbeschienene Steintreppe, rechts und links Zypressen, unten im Dunst eine Sandsteinkirche

Zurück vom Spaziergang hätte ich doch gern einen café con leche in einem Café gehabt – doch das Personal an der Theke ignorierte mich minutenlang so betont (kein Blick, kein Wort), dass ich packte und ging.

Ich wollte wieder nicht zu früh im nächsten Hotel auftauchen, in dem ich noch drei Gammeltage (as if) verbringen wollte, in Alcúdia. Also las ich noch eine Runde, bevor ich zur Bushaltestelle ging.

In Alcúdia musste ich mich mit meinem Koffer durch einen Straßenmarkt schlagen (Kleidung und Krimskrams), zum Glück war das Hotel im Altstadtkern nicht weit.

Großes, hohes Hotelzimmer in einem Altbau mit Himmelbett und bunten Bodenkacheln

Von der Wirtin erfuhr ich, dass es sich um das Elternhaus ihres Ehemanns handelt.

Nach Auspacken ging ich raus nach Alcúdia zum Gucken und Brotzeitkaufen.

Schmal Altstadtgasse, unten die Köpfe vieler menschen, am oberen Rand ein verzierter Turm aus Sandstein

Es war sehr, sehr voll in den schmalen Gassen mit vielen Restaurants, Bars, Kleidungs- und Krimskramsgeschäften, es dauerte eine Weile, bis ich Brotzeit in Form von kleinen Empanadas zum Mitnehmen fand. Zwei gab es um zwei zu einem Apfel aus Restbeständen.

Nachmittag mit Lesen. Fürs Nachtmahl ging ich raus, entschied mich für irgendeines der Dutzende Touristen-Lokale, die irgendwas mit Tapas, Pasta und Burger anboten – weil ich auf deren Karte eine kleine Unterabteilung “mallorquinische Spezialitäten” gesehen hatte. In Jeansjacke konnte ich in der Abendkühle noch draußen sitzen.

Drei Fotos von Teller mit Speisen: Gemüseauflauf, Kroketten, Kuchen mit Eis

Die Croquetas links unten aß ich für Herrn Kaltmamsell, der sie liebt – und die mit Bacalao-Füllung waren auch gar nicht übel. Außerdem Tumbet (zufällig und immer schon vegan), das ich daheim wohl als Erstes nachkochen werde. Nachtisch mallorquinischer Mandelkuchen Gató mit Mandeleis, ganz frisch und gut. Lust auf Alkohol hatte ich nicht, also dazu Tonic Water.

Zurück ins Hotel über eine kleine Runde durch die kleine Altstadt.

Nächtlich beleuchtet sehr altes Stadttor aus Sandstein, davor Menschen

In der Nacht ein steingepflasterter Platz, links ein beleuchteter Autoscooter, rechts eine Stadtmauer aus Sandstein

Es sind wohl gerade noch Fiestas hier.

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Ich bin immer noch dabei nachzudenken, was Männerpräsenz für mich bedrohlich macht – nachdem ich gerade erst gemerkt habe, wie schlagartig entspannter ich werde, wenn dieser Mann bunt lackierte Fingernägel hat. Eine Diskussion auf Mastodon lieferte mir das Stichwort “gefühlter Testosteron-Anteil”, das scheint mir eine heiße Spur. Nächstes Nachdenken also, woran ich diesen Testosteron-Pegel festmache – außer an sehr deutlichen und lauten Anzeichen im Fußball oder mit aufheulenden Autos. Es müssen viele kleine Details im Gesamt-Habitus sein, die alle nicht mit bunt lackierten Fingernägeln zusammenpassen.

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Für alle, die sich an mehr Maggie Smith erinnern als ihre Rollen in Harry Potter und Downton Abbey, hier Nachruf und Erinnerungen von Arbeitskolleg*innen im Guardian:
“Dame Maggie Smith obituary”.

Zum Beispiel vom Drehbuchautor des Films The Best Exotic Marigold Hotel, Ol Parker:

The acerbic wit, the putdowns, the total lack of fucks given were at least as funny and powerful as the lines writers like myself tried to create for her.

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Jetzt in der 3sat-Mediathek: Der Dokumentarfilm über unser Kartoffelkombinat – die ersten neun Jahre. (Mich sieht man einmal ganz kurz auf einer Generalversammlung.)
“Das Kombinat”.

die Kaltmamsell

3 Kommentare zu „Journal Sonntag, 29. September 2024 – Übersiedlung von Pollença nach Alcúdia“

  1. Wiesel meint:

    Als weitere (in meinem Fall immer sehr erfolgreiche) Möglichkeit der Realitätsflucht empfehle ich die Geier hier: https://fvsm.eu/ .

  2. Bleistifterin meint:

    Ich paraphrasiere mal Cory Doctorow (glaube ich): “Die Einzigen, die etwas gegen Flucht haben, sind die Wärter.”

  3. Bernhard meint:

    Sehr geehrte Frau Kaltmamsell,
    es macht mich betroffen, dass Sie sich durch meine Anwesenheit in der Vergangenheit bedroht gefühlt haben. Ich werde versuchen, diese in Zukunft abzustellen.
    Bernhard.

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