Journal Montag, 16. September 2024 – Jenny Erpenbeck, Kairos
Dienstag, 17. September 2024Die Lektüre dieses Romans war für mich belastend und anstrengend, er ist durchaus eine Zumutung. Denn er erzählt wirklich keine schöne Geschichte, keine angenehme. Aber er ist meisterlich erzählt. Literatur darf eine Zumutung sein.
Kairos beginnt mit einem Prolog, der die Rahmenhandlung in der Gegenwart bildet (er wird auch von einem Epilog auf derselben Zeitebene geschlossen): Jemand, der sich wenige Seiten später als Protagonist der Handlung erweist, stirbt.
Die eigentliche Handlung aber hat nochmal einen Rahmen, eine Variante von Umberto Ecos “Natürlich, eine alte Handschrift”: Die Protagonistin bekommt Kisten aus dem Nachlass des Verstorbenen, die Zeugnisse ihrer wenige Jahre langen Beziehung enthalten, Briefe, Geschenke. Ergänzt durch Unterlagen aus dieser Zeit, die sie selbst besitzt, bilden sie das Gerüst der Erzählung – und markieren den Roman als einen historischen über die letzten Jahre der DDR, den Mauerfall, die ersten Jahre danach.
Jetzt setzt die eigentliche Handlung ein: Eine 19-jährige Frau, Katharina, und ein Mann deutlich über 50, Hans, werden in der DDR der 1980er ein Liebespaar. Mir stellten sich sofort die Haare auf, das Literaturfeuilleton nannte dieses Sorte Phantasien alter Autoren irgendwann “Fond memories of vagina” (der Protagonist ist auch noch Autor). Nur: Diese war von einer Frau geschrieben. Die Assoziation schwand auch, als immer klarer wurde: Diese Beziehung ist nicht Beiwerk, sondern die Haupthandlung des Romans. Und dass sie immer düsterer, immer toxischer und damit belastend zu lesen wird, muss genau so sein.
Hans stellt sich als psychisch schwer beschädigt aus, womit er wiederum tiefe Schäden an Katharina anrichtet, die als ihren Affekten ausgeliefert geschildert wird und in emotionale Abhängigkeit von ihm gerät. Denn die Geschichte spielt vor dem Hintergrund der sich auflösenden DDR, kann in vielerlei Hinsicht als allegorischer Spiegel gelesen werden. Zunächst ist der Hintergrund einfach der Alltag in Ostberlin, wo sich die Liebesgeschichte zwischen der 19-Jährigen, die noch bei ihren Eltern wohnt, und dem verheirateten und renommierten Schriftsteller entwickelt. Anhand seiner Biografie werden Meilensteine der DDR-Geschichte eingeflochten, während die junge Frau schlicht nichts anderes kennt als dieses System.
Die Beziehung gerät immer weiter aus dem Gleichgewicht, Hans manipuliert seine Geliebte ins Unglück, und parallel wackelt auch das Gesellschaftssystem der DDR immer stärker: Die historischen Entwicklungen nehmen immer mehr Raum ein, jeweils um das Leben der beiden und ihrer Angehörigen erzählt, bis hinein in die Jahre nach dem Mauerfall mit seiner kompletten Auflösung aller bestehenden Strukturen, Verlust von Arbeitsplatz, oft Wohnung, Verlust aller Gewissheiten.
Das ist auch formal immer wieder spannend erzählt, mal mit fast lyrischen Mitteln, mal im Duktus einer biochemischen Abhandlung. Der Roman fängt dadurch die vielen Facetten einer Liebesbeziehung ebenso ein wie die eines erodierenden Gesellschaftssystems.
“Kairos”, der glückliche Moment, wird gleich am Anfang als Hohn auf diese Geschichte markiert.
§
Gut geschlafen, wenig nach Herrn Kaltmamsell aufgestanden zur Milchkaffee-Zubereitung für uns beide. Ohne Regen aufgewacht, doch wie vorhergesagt setzte er bald wieder ein.
Das frühe Aufstehen führte dazu, dass ich nach Bloggen, Mastodon- und ein wenig Zeitungslektüre recht früh für meine Schwimmpläne fertig war. Ich packte mich warm ein (wieder 7 Grad Höchsttemperatur) und nahm eine U-Bahn zum Olympiapark.
Das Schwimmen lief sehr super: Ich glitt wieder wie eine Forelle durch das Wasser auf Bahn 7, die ich meine ganzen 3.300 Meter mit höchsten zwei (wechselnden) Schwimmer*innen teilen musste.
Mittags war ich bei einer Freundin verabredet, die wegen einer Verletzung bewegungseingeschränkt ist. Ich spazierte durch den kräftigen Regen übers Olympiagelände Richtung Neuhausen.
Semmelkauf und Mittagscappuccino in einer Bäckerei, Supermarkteinkäufe fürs Frühstück und für die Verletzte. Zu diesem Frühstück bei ihr aß ich zwei Schinkensemmeln, wir holten das Gespräch nach, das wegen der Verletzung hatte ausfallen müssen.
Nach Hause, es regnete fleißig weiter, nahm ich eine Tram vom Leonrodplatz, Herr Kaltmamsell war schon von der Arbeit daheim.
Bügeln zum Soundtrack des Spanien-Familienfilms, der mit dem QR-Code zur Spotify-Playlist endete (ICH LIEBE TECHNIK!). Wobei… Eigentlich hatte ich gleich auf der Rückfahrt am Sonntag reinhören wollen: Aber meine kabellosen Kopfhörere hatten sich mal wieder in den wenigen Tagen seit dem letzten Aufladen komplett entladen, Akku bei Null. (ICH LIEBE FUNKTIONIERENDE TECHNIK!)
Eine Einheit Yoga-Gymnastik – die sich gestern ausgerechnet auf Schultern und die Rückenmuskeln konzentrierte, die ich beim Schwimmen reichlich genutzt hatte. Ging trotzdem, bereitete Freude. Als Aperitif holte ich den Apfel nach, den ich zum Frühstück vergessen hatte.
Zum Nachtmahl servierte Herr Kaltmamsell die erste Umsetzung eines Rezepts aus dem Hochzeitskochbuch vom August: Fenchel-Tomaten-Unsinn (Fenchel und Sellerie aus Ernteanteil).
Dazu gebratener Halloumi – sehr gut. Nachtisch Schokolade.
Ich musste mich immer wieder daran erinnern, dass ich schon Mittwochmorgen verreisen werde. Aber Dienstag habe ich richtig frei – ein ganzer Tag, um mich vor der Abreise noch völlig verrückt zu machen!
§
Der Zusammenhang zwischen den derzeitigen starken Regenfällen samt Überflutungen und Klimawandel:
“Luft voller Wasser”.