Journal Mittwoch, 9. Oktober 2024 – Dörte Hansen, Altes Land

Donnerstag, 10. Oktober 2024 um 6:33

Eine bessere Nacht, das Arbeitsleben hielt mich nicht mehr ganz so wach. Dennoch war mir klar, dass ich keine Energie für den ersten Theatertermin meines Abos 2024/25 am Abend aufbringen würde, früherer Feierabend war sicher nicht drin.

Nachdem ich zu ausgiebigem Regen eingeschlafen war, überraschte mich der klare Himmel auf dem Weg in die Arbeit – und erfreute mich.

Noch von Mallorca aus hatte ich meinen Mittagstermin gebucht: Beinenthaarung. Und den wollte ich wegen unangenehmer Flauschigkeit unbedingt wahrnehmen, Arbeitsdruck hin oder her (ich ließ bereits eine Firmen-interne Veranstaltung ausfallen, die mich eigentlich interessiert hatte). Also marschierte ich durchs sonnige Westend in Turbotempo dorthin. Wieder fiel mir unterwegs auf, dass die Gschwerl-Szene am Gollierplatz immer größer wird. Als Anwohnerin des Nußbaumparks habe ich ja über viele Jahre einen Blick für diese Menschengruppe entwickelt: Am Nußbaumpark wächst sie Richtung Marien-Apotheke, außerdem haben sich Gruppen am Anfang der Reisingerstraße gebildet. Und die Handvoll am Gollierplatz ist jetzt auf bis zu 20 Personen gewachsen.

Nach dem Körperpflege-Einsatz durch milde Sonne zurück ins Büro gepest. Erst jetzt Mittagessen: Apfel und restliches Roggenvollkornbrot.

Über den Arbeitsnachmittag durch verlor sich erstmals seit Montagmorgen das Zeitraffer-Gefühl, endlich schaffte ich Dinge ohne Gehetzheit weg, nahm mir wirklich alle E-Mails aus meinem Urlaub vor. (Aber noch gibt es eine besonders unangenehme Sache, um die ich mich drücke.)

Schöner Heimweg durch sonnige Herbstfarben. Einkaufsstopp beim Aldi: Süßigkeiten.

Daheim Waschmaschinenbefüllen, Maniküre, Yoga-Gymnastik. Keine Chance auf Theaterbesuch.

Herr Kaltmamsell hatte gekocht: Krautwickel auf polnische Art. Also eine Annäherung an die meiner polnischen Oma, die er allerdings nur aus meinen Erzählungen kennt (und die legendär waren).

Aufsicht auf einen Topf voller Kohlrouladen in Tomatensauce

Gefüllt mit einer Hackfleisch-Reis-Mischung. Sie waren nicht mal halb so groß wie die meiner Oma – aber das lag auch daran, dass sie riesige Spitzkohl-Blätter zur Verfügung hatte und Herr Kaltmamsell einen viel kleinerern Sptzkohl aus Ernteanteil verwendete. Die Version von Herrn Kaltmamsell schmeckte hervorragend – auch wenn die Krautwickel meiner Oma unerreichbar bleiben werden (sie hatte schon die letzten Jahre ihres 85 Jahre dauernden Lebens keine Lust mehr, sich die viele Arbeit zu machen, der letzte Genuss ist also ein paar Jahrzehnte her).

Endlich meinen Handy-Vertrag umgestellt. Ich hatte einen sehr teuren, mit dem ich im Grunde mein iphone abstotterte, fand ich in Ordnung. Doch dessen Laufzeit endete mit Januar. Seither schaffte ich es nicht, mich zum Wechsel aufzuraffen und vergab damit die Chance, mehrere hundert Euro zu sparen. Ich muss es ja haben, meine Güte.

Auch ein endlich: Nachricht über meinen Vater, der geplant im Krankenhaus liegt. Bislang alles ordnungsgemäß.

Als auf der sonntäglichen Familienfeier die Senior-Herren erwähnten, sie seien ja mit 58 respektive 60 Jahren in Rente gegangen, musste ich durchaus schlucken. Bis mir einfiel, dass beide bereits mit 15, 16 Jahren ins Arbeitsleben gestartet waren.

Im Bett Dörte Hansen, Altes Land ausgelesen, bis zuletzt durchaus gern. Ich mochte die Dichte der Erzählung – wobei ich streckenweise etwas zu viel in den kurzen Roman reingesteckt fand, die Dichte hatte einen Preis: Die Figuren waren mir zu deutlich erklärt und vor-analysiert, statt dass sie sich durch Handlung entfalteten, viel kippte ins Klischee. Manche Passagen lasen sich wie die Zusammenfassung von etwas Längerem (z.B. Marlenes und Annes Reise nach Polen), da konnte sich die Erzählung natürlich nicht mit Entfaltung aufhalten. Unwohl war mir oft bei dem kolumnenhaft launigen Tonfall, der einerseits meist eh offene Stereotyp-Türen einrannte, zudem menschliches Leid verächtlich machte. Keine der Figuren kam mir nahe, am ehesten noch der ordnungsliebend verlorene Heinrich Lührs. Dass diese Mischung aus Launigkeit und Naturbeschreibung zu einem Bestseller wurde, kann ich aber sehr gut verstehen.
Was bei meiner eigenen Lektüre mitschwang: Alle angerissenen Themen habe ich erst kürzlich deutlich besser literarisch verarbeitet gelesen.
– Landleben in Reinhard Kaiser-Mühlecker, Wilderer (inklusive Spannungen mit Stadtleben) und Ewald Arenz, Alte Sorten (hier glaubwürdige, ernst genommene Figuren)
– Vertriebenen-Flucht am Ende des Zweiten Weltkriegs und Konflikte beim Einquartieren in Deutschland in Ulrike Draesner, Die Verwandelten (die nicht explizit immer wieder darauf hinweisen muss, dass diese Generation über vieles schweigt)

§

Großen Dank an Stefanie Sargnagel: Ich muss mich seit einiger Zeit gezielt schützen vor Reportagen zu den Grauen der Zeitgeschichte, menschlich nachvollziehbare Einzelfälle überforden mich. Sargnagels Perspektive aber ist entfernt genug davon, sodass ich mich darauf einlassen kann: Von Lampedusa aus stieg sie mit einem Sea-Watch-Team in ein Flugzeug, um aus der Luft Menschenrechtsverletzungen zu beobachten.
“Mit Stefanie Sargnagel und Sea-Watch vor Ort auf Lampedusa”.

die Kaltmamsell

9 Kommentare zu „Journal Mittwoch, 9. Oktober 2024 – Dörte Hansen, Altes Land

  1. N. Aunyn meint:

    Die Krautwickerl schauen sehr lecker aus. Herzlichen Glückwunsch.

    Da arme Menschen in München systematisch aus dem Bereich innerhalb des Altstadtrings vertrieben werden, ist es kein Wunder, daß sie sich dann kurz davor in Ihrer Umgebung niederlassen. Sie bekommen gelegentlich sogar Schwierigkeiten, wenn sie mittags zum Essen zu den armen Schulwestern am Anger gehen wollen. Armut muß in München zumindest da, wo die Touris sind, möglichst unsichtbar bleiben.

  2. eva meint:

    Zu Dörte Hansen, Altes Land: Endlich mal jemand, die das Buch nicht verklärten Blickes über den grünen Klee lobt! Auch mir ging der “kolumnenhaft launige Tonfall” (guter Ausdruck übrigens!) auf die Nerven, ich mag den generell nicht, weil diese Art zu schreiben alles auf der Oberfläche hält und nach meinem Empfinden die handelnden Personen nicht ernst nimmt. Und ja, kein Vergleich mit Ulrike Draesner, Die Verwandelten! Aber es ist vielleicht ein bisschen unfair, Altes Land daran zu messen. Ich glaube, diese beiden Autorinnen sprechen ganz unterschiedliche Leserschaften an.

  3. die Kaltmamsell meint:

    Das ist eine andere Gruppe, N. Aunyn: 30 Meter vom Gollierplatz entfernt ist eine Ausgabe der Tafel, ums Eck liegt das Ledigenheim – mit diesen Menschen hat die größer werdende (saufende, pöbelnde) Gruppe am Gollierplatz nichts zu tun, die lästern eher über diese armen Menschen.

  4. Frau Bruellen meint:

    auch @Eva: Ich fand “Altes Land” genau wie alle anderen Dörte Hansen-Bücher sehr nervig, betulich und “in your face”, halt einfach recht platt. (Es ist mir ein bisschen peinlich, dass ich gerade das für lange Zeit mit “Alte Sorten” verwechselt habe, ich scheine nur eine begrenzte Kapazität für Apfelbücher zu haben.)

  5. Poupou meint:

    +1 – die ZDF-Fernsehspielhaftigkeit ging mir genauso auf die Nerven und ich habe die anderen Bücher der Autorin dann lieber nicht gelesen.

    Dabei kann ich mir durchaus auch vorstellen, dass die Geschichte und die Personen Stoff für ein oder eher mehrere gute Bücher hergeben. So halt schnell weggelesen, ein paar Mal geschmunzelt, aber kein nachhaltiger Eindruck.
    Das geht mir inzwischen auch mit Juli Zeh so. Irgendwie schade, dass das offensichtlich die Nachfrage bedient.

  6. Hauptschulblues meint:

    “(saufende, pöbelnde) Gruppe” wäre ein korrekterer Ausdruck. In meiner Jugend wurde der Ausdruck “Gschwerl” für Fahrende, Juden, Sinti und Roma und Obdachlose verwendet. Deswegen reagiere ich empfindlich. Bagage, Gelichter, Gesindel, Lumpenpack?

  7. die Kaltmamsell meint:

    Bislang war Ihre Begründung für Protest gegen den Begriff immer gewesen, Hauptschulblues, er sei von den Nazis verwendet worden.

  8. Hauptschulblues meint:

    Das schließt sich überhaupt nicht aus. Ich bin unter Nazis groß geworden.

  9. Arm gemacht meint:

    Gschw… drückt nicht – nur – eine Beschreibung der sozialen Realität einer Gruppe aus, sondern auch eine Haltung dieser gegenüber. Und die resultiert meiner Meinung nach aus der Nazi-Ideologie denen gegenüber, die Hauptschulblues benannt hat.

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