Journal Montag, 21. Oktober 2024 – Große Montagsanstrengung, aber mit Erkenntnissen

Dienstag, 22. Oktober 2024 um 6:17

Ich lerne vom Romanelesen, ob ich will oder nicht. (Neutraler formuliert: Literatur beeinflusst meine Wahrnehmung.) Zum Beispiel: In den letzten Nachtstunden auf Montag geriet ich ins Angst-Karussell, durchaus vorhergesehen bei den Aussichten auf diesen konkreten Arbeitsmontag. Nun hatte ich vor dem Einschlafen ja Karsten Dusses Das Kind in mir will achtsam morden gelesen (tut mir leid, aber Fortsetzungen kriegen mich einfach fast nie, mich interessiert bei originellen Ideen am meisten das world building, also das Ausarbeiten dieser originellen Grundidee – und das ist in praktisch jeder Fortsetzung halt schon vorbei) (Geschichte, die über mehrere Romane hinweg erzählt werden, sind was anderes). Und darin gibt die Erzählerstimme den Rat seines Therapeuten wieder: Gedankenkreisel dadurch zähmen, dass man im Geiste ganz aufmerksam durch die Räume der eigenen Wohnug geht, sich möglichst viele Details in Erinnerung ruft. Daran dachte ich in meinem Angst-Karussell und probierte es einfach mal aus. Was soll ich sagen: Das wirkte! (Sample n=1, noch lang nicht als Beweis belastbar.)

Was davon allerdings nicht wegging: Der Anlass des Belastungsgefühls, ich wollte beim Aufstehen und auf dem Weg in die Arbeit sehr, sehr gerne nicht exisiteren. Das Draußen war neblig, München probiert heuer mal Bilderbuchoktober aus, ok.

In morgendunklem Nebel: Vordergrund die Silhouetten der Figuren, mit denen der Anschlag aufs Oktoberfest 1983 dokumentiert wird, Hintrgrund ein Oktoberfestzelt

Aötes helles Haus zwischen zwei Straßen in leichtem Nebel, davor ein großer Baum mit wenig gelbem Herbstlaubrest

Zum Glück war es aber nicht kalt.

Im Büro riss mich Unvorhergesehenes im Postfach umgehend in heftige Betriebsamkeit, wo ich mich doch eigentlich von meinem Vormittagstermin hatte verrückt machen lassen wollen. Bis zum Termin konnte ich das Problem nicht lösen, ich musste erst mal zwei Stunden fröhlich tanzen. Das schaffte ich ohne zu großen Gesichtsverlust, doch statt Erleichterung gab es anschließend Ringen auf verschiedenen Ebenen. Das führte unter anderem zu sehr spätem Mittagessen (ohne Pause, keine Zeit): Tomaten, Apfel, Granatapfelkerne mit Joghurt. Und danach ging’s grad so weiter.

Im Nachhinein merkte ich, dass sich der Nebel bereits am frühen Vormittag verzogen hatte und die Sonne schien, währenddessen hatte ich keinen Blick dafür. Zu mittelspätem Feierabend hing ich völlig in den Seilen – freute mich aber auf den Heimweg in schöner Luft (ich musste dringend meine Geruchsrezeptoren dekontaminieren, hatte lange Strecken in dichtem Parfumdunst arbeiten müssen).

Der Heimweg war dann auch schön, eigentlich. Denn ich war so erledigt im schlechten Sinn, dass ich am liebsten nur den Meter Boden vor mir angesehen hätte.

Lebensmitteleinkäufe, Heimkommen fühlte sich immer noch nicht wie Freihaben an: Maniküre, Yoga-Gymnastik, Karottensalat für die Arbeit zubereitet, Abendessen nur für mich gemacht, Herr Kaltmamsell war aushäusig.

Wieder schaffte es gutes Essen, mich nach diesem schlimmen Tag zu besänftigen – sogar wenn ich’s selber gemacht hatte: Endiviensalat (Ernteanteil) mit roter Paprika, süßer Zwiebel in Tahini-Dressing, schmeckte hervorragend. Mein Comfort Food ist gutes Essen. (Gegenstück zu Friedrich Torbergs “Essen war sein Leibgericht”). Küche aufgeräumt, dann gab’s noch ordentlich Schokolade, wegen ausgewogener Ernährung, jetzt hatte ich richtig frei.

§

Mit Mooren, genauer mit ehemaligen Mooren bin ich schon auch aufgewachsen: Ingolstadt grenzt ans Donaumoos mit seinen brettlebenen Kartoffelackern und schnurgeraden Landstraßen (wenn Kurve, dann gleich Marterl, weil sich dort jemand derrennt hat).

Viel interessanter aber ist, was Klaus Modick über Moore zu sagen hat:
“‘Kaum jemand feiert die Sümpfe'”.

Es gibt einen hintergründigen Satz von Walter Benjamin: „Was zu verschwinden droht, wird Bild.“ Man könnte auch sagen, was zu verschwinden droht, wird Literatur oder Kunst. Gerade die Dinge und Erfahrungen, die uns entgleiten, die verloren gehen, weil wir sie zerstören, werden mythisiert und bekommen eine ästhetische Qualität, die sie an sich gar nicht haben. Den „edlen Wilden“ gibt es erst in dem Moment, in dem die Native Americans ausgerottet werden, und das Moor erscheint ästhetisch reizvoll, als es zu verschwinden droht. So werden Bilder und Texte zu einer Art künstlerischem Naturkundemuseum. Literatur beschränkt sich nicht darauf, Dinge zu beschreiben, die vorhanden sind. Und Rezeption von Kunst ist nicht nur einfach ein Wiedererkennen von etwas, das man sowieso schon im Kopf hat. Das würde ja ­bedeuten, wir Schriftsteller und Maler zeigen euch nur das, was ihr sowieso schon wusstet. Zumindest geht es darum, etwas so darzustellen, dass es den Rezipienten neue Blickwinkel ermöglicht.

die Kaltmamsell

3 Kommentare zu „Journal Montag, 21. Oktober 2024 – Große Montagsanstrengung, aber mit Erkenntnissen“

  1. Christine meint:

    Die Sache mit dem Gedankenkarussellstopper finde ich sehr interessant. Denn ich mache etwas sehr ähnliches: Wenn ich nicht einschlafen kann, dann stelle ich mir vor, dass ich zur Arbeit oder sonstwohin fahre und rufe mir dabei sehr viele Details ins Gedächtnis. Spätestens nach 200m bin ich dann eingeschlafen. Oder ich ergehe mich gedanklich darin, was ich am kommenden Tag anziehen möchte. Das soll die Wohnungsidee nicht abwerten, sondern ergänzen!

    => Sample n=2

  2. Catrin meint:

    Ihr Text hat mir ein Rätsel, ein Erfolgserlebnis, einen Lacher (alles weil ich Nordlicht über brettleben stolperte) beschert, und eine Idee fürs nächste Schlaf raubende Thema. Danke!

  3. Nadine meint:

    Hier Sample n=3
    Wenn mich das Arbeits-Gedanken-Karussell am Einschlafen hindert, stelle ich mir vor, wie ich ganz bewußt meine Bürotür abschließe und mich von meiner Arbeitsstelle entferne. Ich komme meist gar nicht aus dem Bürogebäude raus, da haben sich meine Gedanken schon schönerem zugewendet oder ich bin eingeschlafen ;o)

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