Journal Donnerstag, 14. November 2024 – SONNE! und Ian McEwan, Nutshell
Freitag, 15. November 2024Die Sensation des Tages: Sonne! Stundenlang!
Gut geschlafen, zu nassem und kaltem Nebel aufgestanden.
Im Büro zackiges Arbeiten an meinem Bauchdrück-Projekt, das sich allerdings so geordnet entwickelt, dass ich sogar nachts ohne Angstkreisel daran denken kann.
Am Vormittag erst Ahnung von Blau hinter den Wolken, dann echter Sonnenschein.
Zu meinem Mittagscappuccino bei Nachbars und zu Einkäufen am Markt (Äpfel, Käse) spazierte ich in Sonnenschein, legte gleichmal einen Umweg ein, um mehr vom Licht zu haben.
Späteres Mittagessen: Nüsse, Apfel, Sahnequark.
Ab zwei zog der Himmel langsam wieder zu, aber die Stunden mit Sonne waren SO schön.
Nach genügend Emsigkeit Feierabend. Ich marschierte in schöner Luft zu Erledigungen: Brot fürs Abendessen, Bargeld bei der Bank, Tee-Nachschub im Bremer Teekontor unterm Stachus.
Zu Hause eine ausführliche Runde Pilates, anstrengend.
Zum Nachtmahl gab es: Confiertes Gänsebein (Herr Kaltmamsell hatte damit das reichliche Gänsefett des jüngsten Bratens verwendet – schmeckte sehr gut und ganz anders als Gänsebraten), gemischter Schnittsalat aus Ernteanteil, frisches Brot, Käse vom Markt. Und ein Apfel aus Ernteanteil, der eine faule Stelle hatte und weg musste – und sich als ganz besonders köstlich erwies. Nachtisch Süßigkeiten.
Im Bett neue Lektüre: Wenige Tage zuvor war das aktuelle Granta 169, China eingetroffen.
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Empfehlung für Ian McEwan, Nutshell!
Dem Roman von 2016 ist ein Hamlet-Zitat vorangestellt:
O God, I could be bounded in a nut shell and count myself a king of infinite space – were it not that I have bad dreams.
Zudem heißen die Hauptfiguren Trudy und Claude – McEwan macht von Anfang an klar, dass der Roman irgendeine Version von Shakespeares Hamlet ist. Erzählt wird auch aus der Perspektive von Hamlet – nur halt dem ungeborenen im Bauch seiner Mutter (der eben nicht mehr Platz hat als ein Nusskern in seiner Schale, und dort doch ein ganzes Leben lebt, einen ganzen Roman lang), das ist der dreiste Perspektivenwechsel. Dreist und fast schon arrogant, denn aus den Fingern aller anderer Autor*innen, die ich kenne, wäre das fürchterlich schief gegangen und hätte in Peinlichkeit geendet. Meister Ian McEwan aber kann.1
Der im Buch namenlose Fötus erzählt aus der Ich-Perspektive und in unserer Gegenwart, wie seine Mutter im ehemals gemeinsamen Londoner Ehehaus mit dem Bruder ihres Ehemanns (Vater des Babys) zusammenlebt und wie sie mit diesem Schwager den Gattenmord plant. Als Sinneswahrnehmungen dient alles, was man auch im Körper einer anderen mitbekommt, unter anderem:
– Es ist ein heißer Sommer.
– Infos bekommt Baby durch die Dialoge, die es hört, durch die Hörbücher und Podcasts, zu denen es Mama notfalls durch aufweckende Tritte in der Nacht bringt.
– Trudy säuft ziemlich viel, Baby erlebt also durchaus den einen oder anderen Rausch.
– Trudy und Claude haben immer wieder Sex, Baby schildert diesen aus seiner Perspektive und ist sehr dagegen.
Das allein schon ist interessant genug fürs Weiterlesen, dazu kommt die spannende äußere Handlung inklusive psychologischem Realismus (das kann McEwan ja besonders gut, bis zum Extremfall des schmerzhaften On Chesil Beach): So, kann ich mir vorstellen, planen und begehen Leute einen Mord und glauben, dass sie damit durchkommen. Der Erzähler versucht durchaus das wenige in seiner Macht stehende, seinen Vater zu retten.
Der Tonfall ist trocken humorvoll (erster Satz des Romans: “So here I am, upside down in a woman” – starker Anwärter auf bester Romananfang), manchmal auch melancholisch. Baby träumt auch, malt sich sich sein Leben nach der Geburt aus, fühlt die Liebe zu seiner Mutter, assoziiert indirekt die halbe Weltliteratur, liebt Lyrik, hat formulierungsstarke Meinungen zu Personen und gesellschaftlichen Umständen. Das Ergebnis ist ein kleines Meisterwerk auf nicht mal 200 Seiten, wie es, ich erwähnte es bereits, nur Ian McEwan zuzutrauen ist.
Schöne Besprechung in der New York Times von Michiko Kakutani:
“Review: ‘Nutshell,’ a Tale Told by a Baby-to-Be (or Not-to-Be)”.
It’s preposterous, of course, that a fetus should be thinking such earthshaking thoughts, but Mr. McEwan writes here with such assurance and élan that the reader never for a moment questions his sleight of hand.
- Wobei er nicht nur Großartiges geschrieben hat: Ich rate ab von Amsterdam und Solar. [↩]