Journal Donnerstag, 1. August 2024 – Sommerlich ruhig

Freitag, 2. August 2024 um 6:29

Beim nächtlichen Klogang konnte ich alle Fenster und Türen der Wohnung öffnen: Sturm und Regen hatten aufgehört, es kam kühl und frisch von draußen rein. Guter Schlaf, vom Wecker geweckt.

Balkonkaffee, angenehmer Spaziergang in die Arbeit.

Straße in Morgensonne, Altbauten, im Hintergrund ein Kirchturm aus Backstein

Gollierstraße ohne Schulkinder.

Eckgeschäft in einem Altbau, auf der verblichenen Markise steht "Imbiß" und "Metzgerei", die Jalousien sind herabgelassen

Aber auch: Gollierstraße künftig ohne Metzgerei. Zwar wurde auch hier (wie in den meisten Innenstadt-Metzgerläden) in erster Linie Brotzeit verkauft, doch ich hatte mich über die schiere Existenz eines kleinen, Inhaber-geführten Metzgerladens gefreut.

Aushang in der Ladentür, dass die Metzgerei zum 20.7. schließt

Mal sehen, was die “neue Leitung” damit macht.

Im Büro erstmal Schuhwechsel: Ich hatte die Riemchensandaletten für die Jahrhunderthochzeit zum Einlaufen dabei. Nach der Arbeit waren meine Füße von der Hitze und einem Tag Rumlaufen immer so dick gewesen, dass ich nicht hatte reinschlüpfen wollen. Zu meiner Erleichterung erwiesen sich die Schuhe als überraschend bequem beim hauptsächlichen Sitzen und auf den Gängen über die Gänge. Ich hielt zweieinhalb Stunden durch, bis ich Blasengefahr spürte.

Vorm Bürofenster sang eine Männerstimme mittelschräg und leidenschaftlich “Himbeereis zum Frühstück” – mir ging das Herz auf.

Für unsere Essen-Reise wollte ich einen Restaurant-Tisch reservieren – und wurde dafür zu einem Telefonanruf gezwungen. Den dann zu vorher genau gecheckten Geschäftszeiten ein Automat entgegen nahm, ich war gespannt, ob das funktionieren würde, wozu hat der Herrgott denn bitte das Internet erfunden? Und Reservierungs-Plattformen? Aber nach einigen Stunden meldete sich das Restaurant tatsächlich, ich reservierte.

Glas mit Cappuccino auf Nussbaum-farbenen Holz, im Hintergrund hängen Gemälde an der Wand

Mittagscappuccino im Westend mit Kunst (merken: auch als großer Cappuccino ist mir der hier zu rass).

Im Büro Fachsimpeln über Druckpapiere, geordnetes Arbeiten. Mittagessen Pfirsiche und Aprikose (himmlisch!) mit Sojajoghurt und Leinsamenschrot.

Ich machte sehr früh Feierabend, um zu meinem Friseurtermin in der Innenstadt zu marschieren. Bewegung war kein Problem, denn die Luft hatte unter Wolken abgekühlt. Die Mauersegler waren vielleicht schon weg, auf meinem Weg sah ich nur noch einen fliegen.

Haarschnitt mit angenehm wenig Gespräch.

Selfie einer Frau mit kurzen weißen Haaren und einer Brille vor sonnenbeschienenem Park

Ich war zufrieden. Jetzt schien die Sonne wieder – und machte sofort heiß.

Zu Hause Yoga-Gymnastik (schön, auch wenn meine Wirbelsäule mal wieder zum Gottserbarmen rumpelte und krachte), dann Telefonat mit meiner Mutter: Eine erfreuliche Einladung für Sonntag, aber auch eine Todesnachricht, die mich sehr traurig machte.

Ich bereitete aus dem frisch geholten Ernteanteil Abendessen: Eisberg-Salat (Ausgleich für die Schlammbäder der vorhergehenden Wochen: ich musste ihn fast gar nicht waschen), Gurke, Tomaten mit Joghurt-Knoblauch-Dressing. Außerdem gab es die restlichen Salzgurken. Nachtisch reichlich Schokolade.

Abendunterhaltung: Eine arte-Doku über neue archäologische Erkenntnisse zur minoischen Kultur auf Kreta – die weit ab sind von dem, was ich in den 1980er darüber lernte.

Das aktuelle Granta 168, Significant other las ich aus (na ja), startete im Bett die nächste Lektüre, von Kollegin empfohlen: Meg Rosoff, The Great Godden.

§

Gabriel Yoran fängt mit einem Kaffee-Vollautomaten an und analysiert sich zurück bis zur Erfindung der Idee form follows function, um am Ende bei der Bedeutung des anfänglichen Vollautomaten für die Zukunft der Menschheit anzukommen. Mit Genuss und Belehrung gelesen, hier an Sie verschenkt:
“Sie haben Geld, sie haben Zeit, und sie brauchen dringend ein Hobby”.

Tatsächlich hat sich der Designdiskurs in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts komplett verschoben und das, was mit Funktionalität gemeint ist, wird mittlerweile genauer und viel weiter gefasst. Erheblichen Anteil daran hatte der französische Sozialphilosoph und Soziologe Pierre Bourdieu. Seine erstaunliche Erkenntnis: Das, was eine Person schön oder hässlich, vulgär oder fein findet, verrät ihre soziale Position und Zugehörigkeit zu einer sozialen Gruppe.

Bourdieu kränkte ganze gesellschaftliche Leitmilieus, in dem er in seiner Ende der 1970er Jahre erschienenen Studie „Die feinen Unterschiede“ zeigte, dass „guter Geschmack“ nicht angeboren, sondern „Ausdruck sozialer Differenzierung“ ist. Indem ich bestimmte Filme ansehe, bestimmte Musik höre, aber auch bestimmte Waren gut finde und kaufe, offenbare ich meine gesellschaftliche Stellung. Es geht natürlich um Geld, aber nicht nur: Bourdieu beschrieb, dass sich soziale Ungleichheit nicht nur mit ökonomischem, sondern auch mit kulturellem, sozialem und symbolischem Kapital erklären lässt. Mit kulturellem Kapital ist nicht nur formale Bildung gemeint, sondern der ganze Apparat an Kulturtechniken, Kunstverständnis, Geschmack, Gehabe, der einem den Zugang zu den „besseren Kreisen“ eröffnet.

die Kaltmamsell

14 Kommentare zu „Journal Donnerstag, 1. August 2024 – Sommerlich ruhig“

  1. Sjule meint:

    Bei meinen Friseurinnen kann man (sogar online) einen „stillen Schnitt“ buchen. Das wird wohl auch nachgefragt und ist über die Online-Buchung nicht so unangenehm. Alle wissen gleich Bescheid und die Friseurin meinte auch, dass sei für sie an manchen Tagen durchaus passend, man will ja auch als Dienstleisterin nicht immer smalltalken.

  2. Sabine meint:

    Letztens erzählte mir jemand, dass in ihrer kleinen Straße, wo viele junge Familien wohnen, die Männer eines Tages feststellen, dass sie alle ausnahmslos sowohl einen Barista-Kurs belegt hatten als auch sich eine sündteure Siebträgermaschine zugelegt hatten. In jedem Haus fauchte also so ein Gerät einsam vor sich hin, mit gekonnt und stolz hantierendem Mann davor.

    Ich fand das poetisch-traurig. Eine kleine italienische Bar an der Ecke hätten sie mit ihren Fertigkeiten ja leicht kooperativ betreiben können, statt einfach ihren makellosen Kaffee zu trinken.

    Und jetzt geh ich mir einen Cappuccino aus dem Vollautomaten meines Mannes lassen, hihi.

  3. Kuchenschwarte meint:

    Dieser Lippenstift sieht (an dir) wunderschön aus. :)

  4. Sabine meint:

    Beim (nicht sehr guten) Cappuccino den Artikel fertig gelesen, der ist wirklich sehr gelehrt und amüsant, vielleicht sollte ich doch auch mal die Krautreporter abonnieren. Man möchte aus lauter Protest die letzten Melitta-Filter oder die schon etwas korrodierte Bialetti-Kanne rausholen, aber das wäre ja auch nur wieder ein Habitus. Ach, vielleicht besser ganz aufhören mit dem Kaffeetrinken?

  5. Neeva meint:

    Ich glaube nicht, dass es am Kaffee liegt, Sabine :-) ‘salutiert mit der bone china Tasse mit lose aufgebrühtem Tee’
    (Gelegentlich klettere ich samt Teetasse sogar in die große Buche im Garten. Der Habitus lässt grüßen.)

    Und vielen Dank für den Artikel!

  6. die Kaltmamsell meint:

    Ich fürchte, darauf läuft’s raus, Sabine: Kein Habitus geht nicht. Und das Konzept Krautreporter gefällt mir weiterhin gut: Immer wieder werde ich als Leserin auch zur Beteiligung aufgefordert, die Vorgänge in der Redaktion sind transparent und spannend.

  7. Norman meint:

    Wer zum Teufel reist nach Essen!

  8. Mareibianke meint:

    Das kann nur jemand fragen, der noch nie oder schon lange nicht mehr im Ruhrgebiet gewesen ist und womöglich noch dem alten Vorurteil von Schmutz und Lärm anhängt.

    Schöne Ecken in Essen: Zeche Zollverein, Margarethenhöhe, Baldeneysee, Villa Hügel, Kettwig, Grugapark und noch so viel mehr…

  9. Norman meint:

    😉

    Der wichtigste Wesenszug des Ruhrgebietsbewohners ist seine Sehnsucht nach dem Schönen.
    Adolf Tegtmeier, 1964

  10. Mareibianke meint:

    Man achte auf das Jahr… damals stimmte das noch :-)

  11. Trulla meint:

    Hallo Norman, auch schon ein älteres Semester wie ich? Tegtmeier forever? Ich war und bin auch noch Fan, dennoch müssen wir mit der Zeit gehen und die Veränderungen auch im Ruhrgebiet zur Kenntnis nehmen.
    Allerdings gestehe ich, dass mein “Habitus” beim guten alten Filterkaffee stehengeblieben ist und trotz talentierter Hobbybarista in der Familie sich nicht geändert hat.

  12. Norman meint:

    Och, die U-Bahn-Haltestelle Savignystraße zählt für mich seit mindestens 30 Jahren zu den menschenfeindlichsten Orten der Welt.

  13. Ilka meint:

    Menschen, die Football gucken wollen (im Oktober). Ist wirklich nett da. Also nett-nett.

  14. Uschi aus Aachen meint:

    Danke – auch – für den wunderbaren Yoran-Artikel!

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