Journal Dienstag, 20. August 2024 – Entsättigter August

Mittwoch, 21. August 2024 um 6:37

Eine gute Nacht, ich erwachte zu fortdauernder grauer Düsternis draußen, es war kühl. Für den weiteren Verlauf des Tages waren aber bis zu 24 Grad Wärme angekündigt, zu langen Hosenbeinen und Ärmeln schlüpfte ich in Sandalen. Das sollte sich als Fehleinschätzung erweisen.

Emsiger Arbeitsvormittag, zu meinen Jobs gehörte gestern auch Statistentum für ein Drohnen-Filmchen. Und es war kalt, im Büro brauchte ich eine Strickjacke.

Mittagscappuccino im Westend, Marsch dorthin in Jeansjacke. Mittagessen später am Schreibtisch: Hüttenkäse und Joghurt mit frischen Feigen. (Jemanden glücklich gemacht, die bis zum meinem Anblick beim Feigen-Schnippeln nicht wusste, dass man die nicht schälen muss.)

Nachmittag Kopfweh-erzeugend anstrengend. Richtung Feierabend war ich mal wieder so erledigt, dass ich mich schier nicht zum Heimgehen aufraffen konnte.

Unter immer noch düsterem Himmel, der alle Farben entsättigte, und in Jacke marschierte ich in die Innenstadt, erfolglose Suche im Kaufhaus nach einer bestimmten Unterhosenfarbe, zum Ausgleich kaufte ich beim Eataly Pfirsiche.

Nach dem Heimkommen knackige Yoga-Gymnastik. Erst gegen Ende der Einheit klarte endlich wie versprochen der Himmel auf, die Sonne kam raus – ZACK! Farben wieder zugeschaltet.

Nachtmahl von Herrn Kaltmamsell:

Weißer Teller mit unten beschriebenem, rechts daneben Besteck

Linsen (!) mit gebratenen roten Spitzpaprika und Salbei. Nachtisch Schokolade.
Intensive Sehnsucht nach der Fast-forward-Taste.

§

Das SZ-Magazin von vergangenem Freitag enthielt gleich zwei Artikel, die mir immer noch nachgehen:

1. Historikerin Hedwig Richter forscht zum Bild der Hausfrau in der westlichen Gesellschaft, seine Entstehung und Entwicklung vor allem in Deutschland nach dem Zweiten Weltkrieg (€):
“‘Hausfrauen wurden schon immer attackiert und verachtet'”.

Vieles war mir bekannt, doch im Interview stellt Prof. Richter auch interessante Verbindungen her:

Nach dem Zweiten Weltkrieg wollen die Menschen in den westlichen Ländern in Demokratien leben, auch die Menschen in der Bundesrepublik. Und das demokratische Prinzip, das gleiche Rechte für alle verspricht, erfordert auch innerhalb der Familien neue Narrative von Gleichheit. Da passt das Hausfrauenmodell perfekt in die Zeit.

Aber die Hausfrauenehe ist doch der Inbegriff von Ungleichheit.
Das sehen wir heute so. Aber damals, zu ­einer Zeit, in der es immer weniger Dienstmädchen gibt, steht das Hausfrauenmodell auch für ein Gefühl von Egalität: Jetzt putzen nicht mehr nur die Arbeiterinnen selbst, jetzt putzen alle Frauen, sogar die wohlhabende Arztgattin ihren schönen Bungalow. Das Hausfrauenmodell verbindet scheinbar die alten Geschlechterrollen mit den ­demokratischen Gleichheitsansprüchen.

(…)

Seinerzeit geht es darum, die Kriegswirtschaft auf Friedenswirtschaft umzustellen, dabei spielt die Hausfrau eine zentrale Rolle. Die Idee ist: Eine gute Frau ist eine gute Demokratin, und eine gute Demokratin ist eine gute Hausfrau und demnach auch eine gute Konsumentin. Musste die deutsche Hausfrau in den Nachkriegsjahren aus dem Nichts ein Essen zaubern und Haare als Nähgarn nutzen, sollte sie nun vor allem gut konsumieren. Sie kauft viel, sie kauft national, bringt so die Wirtschaft zum Laufen und sorgt für Arbeitskräfte. Außerdem ist die Hausfrau ein verbindendes Band für den Westen: Die freie Frau ist eine Westfrau – im Gegensatz zu der vermeintlich unfreien Frau im sogenannten Ostblock, die arbeiten muss. Und als freie Bürgerin hat sie die Macht zu wählen, welche Produkte sie kauft. Während die arme Sozialistin keine Wahl hat. So wird die Hausfrau in den westlichen Demokratien konkret mit dem Kapitalismus verbunden.

Aber ist das nicht nur Ideologie?
Nein, so viel konsumieren zu können, ist für die Menschen nach dem Krieg wirklich eine Befreiung. Es bedeutet, ein Leben in Würde führen zu können. Aber mit dem Wirtschaftswunder beginnt die sogenannte Fresswelle. Damals nimmt der zerstörerische Konsum seinen Anfang, den wir heute als normal empfinden. An diesem hat auch die Hausfrau ihren­ Anteil, indem sie alles, was daran schlecht ist, mit ihrem idyllischen Glanz überdeckt.

2. Der andere Artikel ist ebenfalls ein Interview, nämlich mit dem Schriftsteller Reinhard Kaiser-Mühlecker (seinen Roman Wilderer habe ich hier besprochen):
“‘Landwirtschaft heißt, die Welt retten, Schreiben, sich selbst retten'”.

Tobias Haberl besucht Kaiser-Mühlecker auf seinem Hof, natürlich geht es auch viel um Landwirtschaft, mal wieder mit dem Schwerpunkt, dass die meisten Nicht-Landwirt*innen zu wenig darüber wissen. Was mich auf die Frage brachte, warum von den Menschen in der Landwirtschaft nicht viel mehr gefordert wird, ihr Fachgebiet zu kommunizieren. Ich dachte an Wissenschaftler*innen, von denen seit Jahrzehnten in immer neuen Abwandlungen gefordert wird, sie müssten ihre Forschung der Allgemeinheit erklären und nahebringen, praktisch jede Regierung gründet wieder eine Organisation oder Struktur, die das unterstützt und anschiebt. Begründet wird das meist damit, dass schließlich eine Menge Steuergelder in die Wissenschaft fließen, die Steuerzahler also auch Anspruch haben zu erfahren, was genau damit passiert. Auch die Landwirtschaft wäre ohne Subventionen durch Steuergelder nicht möglich: Statt Bürger*innen und Politik mit Traktoren zu bedrängen und zu drangsalieren, sollten Landwirt*innen dazu gebracht werden, auf Social Media von ihrem Alltag zu berichten (ein paar wenige tun das ja), in YouTube-Videos Maisanbau erklären, als Experten in Talk Shows die Auswirkungen von Vorschriften für Milchvieh-Ställe darlegen. Dafür böten die Bauernverbände Medienschulungen und Kommunikationstrainings an. Nur so als Idee.

die Kaltmamsell

6 Kommentare zu „Journal Dienstag, 20. August 2024 – Entsättigter August“

  1. Anne meint:

    Es gibt zum Beispiel die Agrar-Blogger: https://agrarblogger.de/agrar-blogs

  2. Lempel meint:

    Unser Pächter mit seiner Milchviehhaltung arbeitet praktisch rund um die Uhr. Die wenige freie Zeit, die er hat, verbringt er mit seinem kleinen Sohn. Wer würde seine Kühe melken, wenn er Außendarstellung betreiben würde?

  3. Ilka meint:

    Ich finde den aktuellen Podcast von Matze Hielscher mit der Bäuerin Annemarie Paulsen sehr berührend und interessant.

  4. Neeva meint:

    Na und vielleicht käme man auf Wirtschaftsmodelle, in denen Landwirte eben nicht rund um die Uhr arbeiten müssten? Wenn genug Leute darüber nachdenken?

  5. die Kaltmamsell meint:

    No na, Lempel, ich dachte an die Zeit, die die Landwirte für ihre vielen Traktorblockaden und Politiker-Bedrängung zur Verfügung hatten. Die hätte sinnvoller genutzt werden können. (Ich nehme an, Ihr Pächter war keiner dieser Bullies.)

  6. Vinni meint:

    A propos Lese- und Ansehtipps: gestern Abend kam auf Arte eine Doku, bei der ich an Sie denke musste, Frau Kaltmamsell: Burn, Baby, burn – über Aerobic und was das für Frauen (und Feminismus) bedeutete. Gibts bestimmt noch in der Mediathek :)

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