Journal Donnerstag, 26. September 2024 – Wanderruhetag in Palma mit drei Märkten
Freitag, 27. September 2024 um 7:41Es wurde ein Tag der drei Märkte und der drei Backwerke.
Früh aufgewacht, mittelausgeschlafen.
Ganz erstaunlich, wie viele Hähne ich wieder hier mitten im Städtchen krähen hörte. Erst danach wachten die Spatzen auf und tschilpten dagegen.
Das Hotelfrühstück ließ ich gestern ganz aus: Brotzeit brauchte ich ja keine, wollte im Gegenteil meinen Appetit für Entdeckungen in Palma aufheben. Und der café con leche im Hotel ist… nicht gut.
Ich machte mich früh startklar, denn ich wollte vorher auf den Markt in Sóller, um nach Früchten aus der Gegend Ausschau zu halten. Offiziell öffnet er um acht Uhr, doch als ich nach einem (guten!) café con leche in einer Pastelería um halb neun hinkam, wurde noch aufgebaut, und die Ware der vier bereits bereiten Obst- und Gemüsehändler sah nach Großmarkt aus, nicht nach den Plantagen im Tal hier.
Brunnen am Hauptplatz von Sóller – mit Trinkkelle!
Nahm ich also gleich um neun die Holzbahn von Sóller nach Palma, wackelte und rumpelte in einem der sehr schön hergerichteten Wagen mit wenigen anderen Reisenden hinunter, durch Tunnels und in goldener Morgensonne. Wir passierten vor der Stadt auch ein Industriegebiet, darunter ein Fabrikgebäude mit der pastellfarbenen Aufschrift “Mundidulce” – aus der es wunderbar nach Vanillin duftete. Und wir passierten ein Lager aus gepflegten, ordentlichen Papphütten, ein kurze Erinnerung an die Wohnsituation hier auf der Insel.
Ankommen mit Streetart in style.
Als roten Faden für meine Wege hatte ich mir die Suche nach einem Kleidungsstück aus Stoff mit dem hier typischen Muster ausgedacht, idealerweise ein Oberteil (dann würde ich keines meiner Oberteile waschen müssen). Ich hoffte, dass ich damit und mit Besuch der beiden Markthallen in Palma die fünf Stunden bis zur Rückfahrt vollkriegen würde.
Hier der Stoff im Hotel als Vorhang, in Läden hatte ich bislang Beutel und Kissenüberzüge in diesem Muster in verschiedenen Farben gesehen.
Also klapperte ich die Einkaufsstraßen von Palma ab, schlenderte mal hierhin, mal dorthin, bewunderte Jugendstil-Fassaden.
Der erste Markt von Palma, den ich ansteuerte, war der große Mercat d’Olivar – und mir ging gleich beim Betreten das Herz auf: Das war ein Mercado wie aus dem Bilderbuch meiner Kindheit. Der Großteil der Stände bot Obst und Gemüse an, darunter oft Feigen und Granatäpfel aus aktueller spanischer Ernte, auch die typischen mallorquiner Tomaten, klein und dickschalig, die durch Antrocknen haltbar gemacht werden und eigentlich die korrekten für Pa Amb Oli sind – viel zu wenige natürlich für die Nachfrage seit dem Siegeszug dieses gerösteten Brots mit Tomate und Olivenöl. Fleischstände, Fischstände, Käse, Backwaren, Wein, Trockenfrüchte – und am Rand Bars, einige durchaus schick. Ich merkte mir Stände für Feigen, Käse, Nachtisch für alle Fälle vor.
Für nämlich die Fälle, dass ich im zweiten angesteuerten Markt das Gewünschte nicht bekommen würde, im kleineren Mercat de Santa Catalina, den ich vom Palma-Urlaub 2017 in so guter Erinnerung hatte. Dorthin spazierte ich in Sonne und steigenden Temperaturen als Nächstes.
Auch hier alles weiterhin korrekt, ich kaufte eine Palmera (Blätterteiggebäck, überdimensioniertes Schweineohr), frische Feigen und galicischen Käse Tetilla fürs Abendessen (keine Lust auf Ausgehen).
Jetzt hatte ich Appetit, setzte mich an die Theke eines der Bares, bat um eine caña (kleines Bier) sowie ein Tumbet mit Spiegelei drauf, das mich in der Vitrine des Bars als Türmchen angelacht hatte – das war die Vorspeise gewesen, die mich am ersten Abend in Esporles so begeistert hatte.
Doch dann war wohl meine Tourismusabgabe fällig: Neben mir stand ein alter angesoffenen Mann (vor ihm ein fast leeres Rotweinglas), der mich ansprach und auf meine wohlerzogen freundliche Antwort zulaberte. Erst auf sowas wie Deutsch, dann auf Spanisch („Bin ja scho 84 Jahr!“, halt auf Spanisch), in dem Tonfall selbstgerechter und angeberischer Besserwisserei, wie ich sie von dieser Generation Spanier (egal aus welcher Region) nur zu gut kenne (mein Vater ist zum Glück anders). Ich antwortete knapp, ließ mich fast nicht provozieren überm Essen und Trinken (komplette Contenance verhinderte der Alkohol im Bier, ich fürchte, ein Argument sang ich sogar), und schaute, dass ich weiterkam.
Mitfühlende Blicke der Köchinnen, und der Thekenmann – ein bezaubernder Schnauzbartträger mit türkis lackierten Fingernägeln – sah mich beim Zahlen (woran der alte Mann mich fast gehindert hätte, natürlich) sehr liebevoll an. Doch jetzt gräme ich mich wieder, weil ich gegen meinen Vorsatz verstoßen habe, in menschlicher Interaktion im Zweifel immer kindness walten zu lassen, ich wollte einfach nur raus aus der Situation. MENSCHEN!
Bei einem kurzen Durchschnaufen auf einer schattigen Bank (es war heiß geworden, zum Glück wehte ein kräftiger Wind) beschloss ich, dass jetzt Süßes nötig war. Ich spazierte zurück in die Einkaufsstraßen und holte mir beim Horno Santo Cristo endlich mal eine kleine Ensaimada und ein Pain au chocolat, als “napolitana” weitergegeben.
Was ich nicht kaufte. Stoffe in dem oben beschriebenen Muster sah ich, auch als Schürzen und in Stoffläden als Meterware. Doch das ist kein Kleidungsstoff, er ist dick und robust (obwohl ich mir einen Rock daraus durchaus vorstellen kann – Stoffkauf ohne irgendwelche Schneiderinnen-Kompetenz war mir dann doch zu riskant). Auch als Glasur von Töpferware gefiel mir das Muster.
Auf dem Bahnhofsplatz setzte ich mich in den Schatten, aß mein Gebäck und las, bis es Zeit für die Rückfahrt im Holzzug war.
In Sóller traf ich kurz vor fünf ein, freute mich über meine wohltemperiertes Hotelzimmmer (auch ohne Klimaanlage).
Was ich auf Mallorca bereits herausgefunden habe: Der Trend zum Birkenstock-Pantoffel als Sandale ist international und geht quer über alle Geschlechter und Altersgruppen. Vermutlich außer Kindern, die brauchen mehr Halt.
Apropos Kinder: Die sehe ich unter den vielen Tourist*innen praktisch nicht, ist ja Schulzeit in Europa. Hat etwas leicht Apokalyptisches.
Nachtmahl waren dann die Markteinkäufe: Feigen (die Verkäuferin hatte sie sorgfältig ausgesucht, es seien so ziemlich die letzten der Saison), Käse, Palmera – ohne Schokolade wegen Temperatur und Transport. War dann gar nicht so viel zu viel, wie es ausgesehen hatte – ich aß ein bisschen schneller, um nicht vor Ende schon voll zu sein.
Ted Chiang, Exhalation ausgelesen, wieder Kurzgeschichten, speculative fiction. Meiner Ansicht nach nicht so gut wie sein Meilenstein Story of your life und darin die gleichnamige Geschichte (verfilmt als Arrival): Zwar sind die what if-Prämissen auch in diesem zweiten Buch interessant und spannend, aber ihnen fehlt ein entsprechendes literarisches Format, das die Idee spiegelt (was ihm eben so meisterhaft mit “Story of your life” gelang). Fast allen Geschichten in Exhalation liegt das Nachdenken über menschlichen freien Wille zugrunde – doch mir war Vieles zu deutlich erklärt statt vorgeführt. Am besten gefiel mir die letzte Geschichte “Anxiety Is the Dizziness of Freedom”: Quantenphysik ermöglicht Computer, mit denen man parallele Lebensverläufe sehen und mit ihnen kommunizieren kann. Das ist schön erklärt und aufgeschlüsselt, endet für meinen Geschmack aber in zu viel Friede-Freude-Eierkuchen.
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Eine Perspektive zum eigenen 60. Geburtstag (wie alle von Antje Schrupp anregend und interessant, egal ob ich zustimme oder nicht):
“Bin ich jetzt alt?”
60-Jährige haben mit anderen 60-Jährigen so gut wie nichts gemeinsam. Und das stimmt nicht nur für diejenigen, die schon als Kinder mit unterschiedlichen Startchancen ausgestattet waren, sondern auch für die, die ursprünglich aus sehr ähnlichen Verhältnissen kommen. Das Leben ist eine gigantische Unterschied-Erzeugungsmaschine, in einer wilden Kombination aus äußeren Umständen, eigener Entscheidung und Glück beziehungsweise Pech. Manchmal kommt eine akkumulierte Menge an Kleinigkeiten zusammen und lenkt ein Leben in diese oder jene Richtung. Manchmal braucht es aber nur einen einzigen Schicksalsmoment und etwas kippt: eine Trennung, eine Krankheit, ein beruflicher Erfolg oder Misserfolg.
Je älter ich werde, desto weniger bietet mein Jahrgang für mich eine Identifikationsmöglichkeit. Über die Boomer-Kolleg*innen meiner Generation, die sich über alles Neue lustig machen, kann ich mich maßlos aufregen. Ich finde es nicht übermäßig kompliziert, sich über die Bedeutung der Buchstabenreihe LGBTQI zu informieren oder darüber, was der Unterschied von Schwarz und Person of Color ist. Verglichen mit dem Kauderwelsch von Karl-Marx-Studienkreisen in meiner Studentinnenzeit ist das alles doch geradezu selbsterklärend – und damals hatten wir noch nicht mal Google!
Das mit dem beschriebenen Auseinanderdriften der Körpertüchtigkeit ist mir ebenfalls aufgefallen, zunächst bei meiner Elterngeneration. Manchmal sehe ich Über-90-Jährige im Fernsehen, die beim geschmeidigen Garteln gezeigt werden. Gleichzeitig kenne ich Mitt-70er-innen, die mit einem Fußmarsch weiter als zum eigenen Auto wegen Altersgebrechen überfordert sind.
(Dann wieder: War das unter uns Kindern so anders? Gab es da nicht auch die Sportskanonen, ständig am Rennen und Klettern, die einen Tennisschläger nur in die Hand nehmen mussten und schon gezielt Bälle trafen? Und gleichzeitig die Rumsitzer*innen, die keine Bewegung zu viel machten und schon beim Purzelbaum-Versuch besorgte Blicke der – damals noch so genannten – Kindergärtnerin ernteten?)
§
Was mir immer noch nachgeht: Die überraschende Erkenntnis aus dem Erlebnis im Markt in Palma, dass bunt lackierte Fingernägel einen fremden Mann in meinen Augen umgehend weniger bedrohlich machen.
1. Mir war nicht bewusst, WIE auf der Hut ich offensichtlich gegenüber Männern bin. Das hätte ich wahrscheinlich sogar abgestritten, ich gehe ja praktisch überall einfach rein oder hin, zu jeder Zeit. (Es ist mir aber IMMER bewusst, wenn da ein fremder Mann ist.)
2. Dank den Göttern und Göttinnen für das sich wandelnde Männlichkeitsbild bei der nachwachsenden Generation!
Jetzt muss ich darüber nachdenken, welche Faktoren einen fremden (oder nicht-fremden) Mann in meiner unbewussten Wahrnehmung bedrohlicher oder weniger bedrohlich machen.
die Kaltmamsell13 Kommentare zu „Journal Donnerstag, 26. September 2024 – Wanderruhetag in Palma mit drei Märkten“
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27. September 2024 um 9:28
Vielen Dank wieder fürs Mitnehmen! Leider sind viele Märkte auf der Insel mittlerweile doch sehr touristisch. Schön und gut zu wissen, wenn es in den Markthallen von Palma noch anders ist.
An Kleidungsstück mit diesem typischen Muster kann ich mich nicht erinnern. Eine Marktlücke?
27. September 2024 um 11:25
Die Stoffe sind wunderschön. Hab ein bisschen gesucht, sie heißen Roba de Llengües. Die Webtechnik kommt aus Indien und heißt Ikat.
Eine Deutsche macht Maßanfertigungen.
https://www.ultimahora.es/noticias/sociedad/2023/05/11/1934349/ropa-mallorca-moda-total-roba-llengues.html
https://www.ikatela.com/de
27. September 2024 um 12:47
Im Bayerischen Nationalmuseum war vor ein paar Jahren eine Ausstellung mit Kleidern aus dem 18. Jh. mit dem damaligen Modestoff Ikat. Den kann man schon sehr fein und kleidertauglich herstellen, aber je günstiger, desto dicker die Fäden, desto gröber der Stoff. Man müsste wahrscheinlich eine Weile nach dünnem, feinen Ikat suchen und ihn nicht unbedingt auf einem Markt finden.
Hier ein Kleiderdetail aus dieser Ausstellung: https://museen.de/chine-muenchen.html
27. September 2024 um 13:39
Als wir – nach Praxisaufgabe – 89 nach Mallorca übersiedelten, wurden unsere mitgebrachten Birkenstocks noch belächelt. Dann aber liess ich mehr und mehr Exemplare auf Wunsch liefern. Bis sich irgendwann sich der Zoll meldete und meinte, nun ginge es wohl nicht mehr um private, sondern geschäftliche Belange…..das war zwar das Ende der Bestellungen, aber nicht das Ende der Beliebtheit und hält bis heute an wie ich lesen durfte….
Danke für weitere Erinnerungsschnipsel die beim Mitlesen auftauchten und : qué tenga una buena estancia !
27. September 2024 um 16:36
So gefällt mir das, Croco, Susann: Ich gehe Wandern, Sie erledigen die Recherche. Danke schön!
27. September 2024 um 19:14
Die meisten Menschen, auch Männer, wollen meiner Erfahrung nach einfach Interaktion. Und manche sind dann, z. B. aufgrund des unterschiedlichen Backgrounds, unangenehm, in unterschiedlichen Abstufungen. Das ist ihnen selbst meist nicht bewusst, und dann quatschen sie immer weiter…
Mich würden die gepflegten Papphütten brennend interessieren. Davon habe ich noch nie gehört.
27. September 2024 um 19:17
Es waren hinter einem Fabrikgebäude improvisierte Hütten aus dicker Pappe, zum Teil wohl auch Spahnplatten, Sonni – wie Wellblechhütten, nur aus anderem Material.
27. September 2024 um 22:31
Wie passend der Artikel “Bin ich jetzt alt?” fuer mich ist: Ich heisse auch Antje, und heute ist mein 60. Geburtstag!
27. September 2024 um 22:51
@Antje Herzlichen Glückwunsch! Was für ein Zusammentreffen.
28. September 2024 um 19:49
Den Artikel kennen Sie?
https://bikepacking.com/plog/man-or-bear-debate/
Einer der besten Beiträge zum Thema Patriarchat den ich je gelesen habe.
28. September 2024 um 20:16
Dank an Bettina für den Link: mit Gewinn gelesen, ein großartiger Artikel.
28. September 2024 um 20:20
Vielleicht haben Sie ihn ja im Mai bei mir gelesen, Bettina:
https://www.vorspeisenplatte.de/speisen/2024/05/journal-samstag-25-mai-2024-berlin-1-die-lange-anreise-und-der-georgische-abend.htm
29. September 2024 um 19:12
Das kann gut sein