Journal Dienstag, 1. Oktober 2024 – Spaziergang mit letztem Sonne- und Farbetanken / David Schalko, Schwere Knochen

Mittwoch, 2. Oktober 2024 um 8:19

Gut geschlafen, wenn auch nicht lang genug. Draußen blauer Himmel, der einen warmen bis heißen Tag versprach. Ich brachte dennoch keine Lust für Strand auf, die Zeiten sind wohl einfach vorbei (merken fürs nächste Packen).

Statt dessen beschloss ich, die andere Meer-Seite, nördlich von Alcúdia, zu erkunden. Beim Frühstück tauchte ich gleich gar nicht auf, das schien mir das Einfachste. Ich packte Brotzeit und ging durch schon wieder Straßenmarkt Richtung Bonaire.

Ausblick aus sonniges Meer, im Vordergrund Felsstrand, im Hintergrund Hügel

Schnell stellte ich fest, dass es im Norden zwar interessante Felsküste gab, aber keinen Fußweg, auch nicht die Straße entlang. Ich kehrte um, zumal ich unterwegs ein Hinweisschild mit Wandersymbol zu einem Weg nach Refugi del Coll Baix gesehen hatte, anderthalb Stunden Gehzeit – den wollte ich machen. Zumal ich mich ja wieder auf Vorrat bewegen musste, Mittwoch und Donnerstag werden Reise- also Sitztage.

Im Hotel wechselte ich die Schuhe von Sandalen zu Turnschuhen und machte mich auf den Weg. Es war ein einfacher Spaziergang hauptsächlich auf Straßen und begleitet von Autoverkehr, aber ich genoss die Sonne in vollen Zügen, das Licht und die Farben, genoss nochmal den Duft von Pinien und Rosmarin, genoss die Bewegung. Auf dem letzten Stück waren viele Menschen unterwegs: Es gab einen Parkplatz, von dort kam man wohl zu Fuß zu einer Badebucht. Ich hörte erstaunlich viel Polnisch, zum ersten Mal wiederholt auch Österreichisch.

Außerdem bekam ich nochmal eine kleine Tierschau: Esel, Ziegen, erstmals freilaufende Schweine, außerdem Gänse – es war also tatsächlich Gänsequaken, was ich meine ganze Wanderung über immer wieder gehört und was mich reichlich verwirrt hatte (gestern fiel mir ein, dass in Bayern gerade die Gänsebratenzeit beginnt, Erntedank, St. Martin etc., umgehende Gelüste). Schon auf meiner ersten Spazierrunde morgens hatte ich einen Wiedehopf gesehen, zwar nur von hinten auffliegend, aber unverkennbar.

Wanderwegschilder mit Zielen und Gehzeiten

Schmaler asphaltierter Weg in der Sonne, daneben Trockenmauern und Bäume

Esel zwischen Bäumen hinter einem Zaun

Zwei hellrosa Schweine im Schatten unter einem Baumstamm, durch einen Zaun fotografiert

Schmale Straße bergauf zwischen sonnigen Bäumen

Sonnenbeschienene braune Ziegen zwischen Bäumen

Schmale Straße bergauf zwischen sonnigen Bäumen, die auf der Straße Schattenmuster werfen

Oben am Refugi war ein Rastplatz, um halb zwei machte ich Brotzeit: Vollkornsemmel mit Jamón, eine Papaya. Und ich bekam Besuch von den frei herumlaufenden Ziegen, ebenso wie andere Brotzeiter*innen am Rastplatz: Meine Wasserflasche und mein Gesicht wurden beschnuppert (Ziegen klettern ja gern). Zum Glück hatte ich schon aufgegessen und wurde nicht zum Teilen gedrängt.

Sonniger Weg bergab zwischen Bäumen, darauf Spaziergänger und ein Radler

Zwischen Nadelbäumen Blick aufs sonnige Meer

Zurück im Hotel setzte ich mich in den Innenhof zum Lesen, bis die Sonne doch zu direkt schien.

Telefonat mit Herrn Kaltmamsell, der mir versicherte, alle Heizkörper der Wohnung seien betriebsbereit, er habe das geprüft (für Freitag sind 11 Grad Höchsttemperatur angekündigt).

Beim Abendessen räumte ich auf: Es gab den restlichen Käse mit, ha!, getrockneten Feigen, die ich als Notnahrung mitgenommen hatte und wirklich nicht gesamt wieder zurückschleppen wollte. Nachtisch spanische Fabrikpralinen, gar nicht so schlecht.

Neue Lektüre: Roxane Gay, Hunger: A Memoir of (My) Body, nicht gerade ein Laune-Heber.

§

David Schalko, Schwere Knochen, ist ein Roman von 2018, der in der kriminellen Nachkriegszeit in Wien spielt, als auch Wien – das ist den meisten Deutschen nicht bewusst – in Besatzungssektoren aufgeteilt war, was so manche Korruption und kriminellen Machenschaften erst ermöglichte. Dazu der Zoo und seine Tiere, grotesker Sex, groteske Bordelle, noch groteskere Todesfälle – ich fühlte mich an John Irvings allerersten Roman erinnert: Setting free the Bears. Aber das war schon die einzige Wiederholung: Der Schauplatz, vor allem aber der Tonfall von Schwere Knochen sind ausgesprochen originell.

Die Klammer des Romans ist der Tod seiner Hauptfigur Ferdinand Krutzler, der mit seinen Freunden vor dem zweiten Weltkrieg in Wien Verbrechen begeht, mit ihnen wegen eines Hassadeurstücks ins Konzentrationslager deportiert wird, dort eine weitere Verbrecherkarriere absolviert, nach dem Krieg in Wien systematisch schmuggelt, zuhält, Schutzgelder erpresst, mordet. Alles an dieser Handlung ist eine Parallelwelt, in der eigene Regeln gelten, nichts kann vorausgesetzt werden. Die Erzählstimme tut gut daran, zwar sehr hörbar zu sein, aber nichts zu kommentieren, sie ist reine Lakonie. Was hervorragend zum Personal passt, das auch eher nicht redet (und dessen Worte fast ausschließlich in indirekter Rede wiedergegeben werden). Am deutlichsten sichtbar wird die Erzählstimme im Foreshadowing: “Dass dieser Jemand ausgerechnet der Wesely sein würde, konnte er zu diesem Zeitpunkt noch nicht ahnen.” Nur dass das Foreshadowing manchmal gar nicht stimmt – auch darauf sollte man sich nicht verlassen.

Es entsteht ein unangenehm lebendiges Bild einer Zeit, die gerade wieder neu literarisch aufgearbeitet wird. Die Haltlosigkeit in diesem rechtsfreien Raum ist sehr nachvollziehbar. Lese-Empfehlung, auch wenn der zweiten Hälfte Straffung durch energisches Lektorat gut getan hätte.

Mir gefällt die Besprechung in der Süddeutschen von Burkhard Müller:
“Splatter-Stoizismus nach Wiener Art”.

Der Roman bekommt durch seinen Ton und seine Haltung in den Griff, was sonst als quirliges Panoptikum nach allen Seiten auseinanderspritzen müsste wie das viele Blut, das freizusetzen die Erdberger niemals zögern. Es ist ein Ton, den man so noch nie gehört hat, und eine Haltung, die man vielleicht am besten als Splatter-Stoizismus bezeichnet.

die Kaltmamsell

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