Journal Sonntag, 27. Oktober 2024 – Vorübergehender Sonnensieg
Montag, 28. Oktober 2024 um 6:22Ist mir möglicherweise noch nie passiert: Ich hatte morgens das Ende der Sommerzeit vergessen. Beim Aufwachen zeigte mein Nicht-Funk-Wecker sieben Uhr an, das passte zu meinem Gefühl des Ausgeschlafenseins. Doch später nach Spülmaschine-Ausräumen und Milchkaffeekochen war es auf meinem Handy 20 nach 6, dasselbe zeigte der Laptopbildschirm an. Wo es doch draußen bereits sichtbar tagte? Erst jetzt erinnerte ich mich an den Grund. Und aktualisierte die Uhren an Mikrowelle und Backofen, im Bad und Schlafzimmer.
Beim Aufwachen zogen gerade meine Nasenschleimhäute wieder zu: Am Vortag hatte ich mir einen Chlorschnupfen aus der Hölle geholt und zum Schlafen Nasenspray gebraucht. Herr Kaltmamsell wiederum hustete und schnupfte echt und infiziert, der ärmste, sein Husten klang schon ganz mut- und kraftlos.
Nach Bloggen und der Zubereitung von Gelbe-Bete-Salat (Ernteanteil) fürs Abendessen war ich also in neuer Zeitzählung schon um halb zehn fertig für meinen Isarlauf. Zu meiner Begeisterung hatte sich gerade jetzt der Hochnebel verzogen und die Sonne durchgelassen. Ich konnte mich schier nicht für eine Strecke entscheiden, denn auf allen meinen gewohnten gab es Ansichten und Aussichten, die ich gern bei diesem Licht und zu dieser Jahrezeit sehen wollte. Es wurde dann die Strecke direkt weg von der Haustür über den Alten Südfriedhof Richtung Thalkirchen und zurück.
Ich hoffte mit leichtem Zagen auf Lauftüchtigkeit, nachts war ich einmal mit besonders heftigen Kreuzschmerzen bis ins Bein aufgestanden. Doch das hatte keine Auswirkungen, erst gegen Ende meiner gut 100 Minuten zwickte das Kreuz ein wenig. Als sich auf Höhe Maria Einsiedel auch die ersehnte Leichtigkeit in Beinen, Herz und Kopf einstellte, erfüllte mich tiefe Dankbarkeit für die Körpertüchtigkeit, die mir das ermöglichte.
Erste Ahnung, dass es die Sonne schaffen könnte.
München strömte umgehend ins endlich sonnige Draußen, die Weg füllte sich schnell mit Menschen an Hundeleinen, Jogger*innen, Spaziervolk, Sonnensitzer*innen.
Frühstück kurz nach eins: Kartoffelsalat mit Majo, Roggenvollkornbrot mit Tomate, Nusskuchen (etwas zu viel). Kurze Siesta, dann Zeitunglesen und Romanlesen im Wohnzimmer – ich musste den Rollladen ein wenig herablassen, um nicht vom Sonnenlicht geblendet zu werden!
Ab Nachmittag roch es köstlich in der Wohnung: Herr Kaltmamsell briet auf meinen Wunsch fürs Nachtmahl die erste Gans der Saison. Sie war gerade gar, als ich eine Runde Pilates durchgeturnt hatte.
Bei Geflügel ergänzen sich Herr Kaltmamsell und ich perfekt: Er kommt aus einer Brust-Kultur, ich aus einer Schenkel- und Knochenfiesel-Kultur. Also holte ich mir Keule und Flügel der Gans, er bekam eine Brust, beide bedienten wir uns an der Semmelknödel-Füllung, als Gemüse hatte ich ja Gelbe-Bete-Salat vorbereitet. Schmeckte alles hervorragend – und es blieb reichlich für mindestens eine weitere Mahlzeit übrig. War dann aber doch so viel, dass nur ein winziges Stück Schokolade hinterherpasste, eher aus medizinischen Gründen.
Früh ins Bett zum Lesen, weiter Vergnügen an der Lektüre von Raphaela Edelbauers Die Inkommensurablen und Formulierungen wie:
“Gelbe Barockfassaden standen in der Sonne wie geschmückte Pfingstochsen.”
§
“Der Straßenverkehr ist ein Kriminalitätsschwerpunkt”.
§
Ein schöner Artikel über Kommunikation in Fremdsprachen, mir als Teil einer vielsprachigen Familie mit nicht immer klar abzugrenzenden Überschneidungen ist das vertraut.
“Austausch an der Adria
Jedes Verstehen ist ein Gruppenerfolg”.
Es gibt auf Reisen mehr als Verstehen und Nichtverstehen. Reden in zwei verwandten Sprachen, von denen jede Person am Tisch nur eine spricht, fühlt sich an, als würden zwei Züge in gegensätzliche Richtungen aneinander vorbeifahren. Man nimmt Schemen und Fetzen wahr, ein bisschen Wahrheit und eine Kaskade von Irrtümern. Die jüngere Frau: „Mein Vater lebt in Deutschland.“ Ich: „In welcher Stadt in Deutschland?“ „Berlin, Hamburg, Düsseldorf, Stuttgart …“ „Nein, ich meine, wo lebt dein Vater?“ „Wieso mein Vater? Mein Vater ist tot.“ Samuel Beckett hätte seine Freude gehabt.
Aber unser absurder Diskurs hat auch eine merkwürdige Poesie. Wir wiederholen uns in Endlosschleife, langsam und betont wie Betrunkene. Wenn nichts geht, lächeln wir und trinken mehr Kaffee.
§
Es mag eine Art Aberglaube sein: Je mehr Berichte ich von Menschen lese, die sterbende Angehörige begleitet haben, desto weniger schlimm wird dieses Begleiten für mich werden. Dabei weiß ich doch, dass es Gefühle gibt, auf die ich mich nie werde vorbereiten können. Dennoch hier weitergereicht sieben Geschichten, die Angehörige vom Sterben erzählen:
“Protokoll: ‘Ich habe mir das Sterben irgendwie unwürdiger vorgestellt'”.
Hier noch einer, der bei “Daß ich weder den Tag noch die Stunde kenne” nicht an sein eigenes Ende denkt, sondern an den der allerliebsten.
“Von einer großen Liebe bleibt auch,”.
4 Kommentare zu „Journal Sonntag, 27. Oktober 2024 – Vorübergehender Sonnensieg“
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28. Oktober 2024 um 8:55
So wertvolle Links wieder! Von Herzen Dank dafür!
28. Oktober 2024 um 15:47
Auch ich bedanke mich.
28. Oktober 2024 um 17:16
Auch von mir vielen Dank fürs Teilen der sehr berührenden Berichte übers Sterben von Angehörigen.
1. November 2024 um 20:59
Danke!