Gefühlsregie

Mittwoch, 22. Dezember 2010 um 12:44

Übrigens: Nicht dass Sie glauben, mir ginge es substanziell besser. Ich lese die Fragen von Reverb, auf die Miss Caro, Coolcat und Anke antworten und merke, wie weit entfernt ich von einem auch nur durchschnittlich konstruktiven Grundgefühl bin.

Beispiele gefällig?

Body Integration. This year, when did you feel the most integrated with your body? Did you have a moment where there wasn’t mind and body, but simply a cohesive YOU, alive and present?

Bestes Körpergefühl 2010? Die Momente, in denen ich meinen Körper ein Weilchen vergessen konnte und nicht in der irrationalen Scham darüber gefangen war. Alive and present ist so ziemlich das letzte, was ich mich in meinem Körper fühlen will.

5 Minutes. Imagine you will completely lose your memory of 2010 in five minutes. Set an alarm for five minutes and capture the things you most want to remember about 2010.

Die Erinnerung an gesammelte Sekunden des Nichtdenkenmüssens und Nichtfühlenmüssens könnten auf fünf Minuten kommen.

Sie können sich jetzt vielleicht halbwegs vorstellen, welch peinliches Dauergewinsel in Dunkelgrau meine Beantwortung der gesamten Fragenliste ergeben würde.

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Andererseits hat mir letzthin ein konsultierter Neurologe gesagt, dass ich damit völlig in der Norm liege: Mein Geständnis, dass ich nicht gerne lebe, dass schon als Kind die Vorstellung von Nicht-Existenz alle anderen meiner Wünsche toppte, bezeichnete er als „Standardaussage“. Ebenso normal fand er mein Leiden darunter, dass ich mich schier unerträglich finde (und das ohne Fluchtmöglichkeit). Anscheinend bin ich lediglich schlau genug, mich unter Menschen zu mischen, denen es anders geht, die sich nicht ständig mit ihrer eigenen Gegenwart herumschlagen und beschäftigen. Die ja nun wirklich eine angenehmere Gesellschaft sind.

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Und überhaupt: Diese ganze Gefühlsregie. Ich fühle mich regelmäßig wie eine der Schauspielerinnen in der Fernsehsendung Schillerstraße. Nur dass in meinem Fall die Anweisungen aus einer inneren Regie kommen, die mich auf die üblichen Reaktionen in bestimmten Situationen hinweist.

Einen wichtigen Zwischenschritt meines größten Projekts hinter mich gebracht? Gefühlsregieanweisung: Tiefe Erleichterung, Plänefassen, Freude, Feierlaune. Leider mag sich mein Gefühlshaushalt nicht darauf einstellen und liefert statt dessen: Traurigkeit, Hibbeligkeit, Frust, Bedrückung. Für das äußerliche Verhalten sind die Regieanweisungen praktisch: Ich gebe den entsprechenden Anschein, so dass niemand in meiner Umgebung verstört wird oder sich Sorgen macht (und mich damit zusätzlich belastet). Doch nach innen bin ich genervt, weil ich schon wieder nicht angemessen fühle. Resultat: Zu Traurigkeit, Hibbeligkeit, Frust, Bedrückung kommen also auch noch Genervtsein samt Gereiztheit. Ergänzt durch die Anstrengung, niemanden darunter leiden zu lassen. Ein durch und durch lächerliches Elend.

die Kaltmamsell

16 Kommentare zu „Gefühlsregie“

  1. Hande meint:

    .

  2. Sanníe meint:

    Was ist angemessen? Tatsächlich ist ihr Elend doch gar nicht lächerlich, sondern hat bestimmt immer eine Berechtigung, Sie erkennen diese nur nicht an.

    Doch selbst wenn nicht: Eine so anbetungswürdige Person wie Sie Frau Kaltmamsell kann sich doch viel mehr Egoismus erlauben. Mein Umfeld ist Ausbrüche, die nicht diesen Regieanweisungen folgen, durchaus gewohnt und reagiert deshalb keineswegs verstört, vielleicht manchmal genervt oder mit Sorge. Ich finde das ok.

  3. walküre meint:

    Haben Sie schon einmal in Erwägung gezogen, herausfinden zu wollen, was tatsächlich geschieht, wenn Sie Ihren wahren Gefühlen Raum geben ?

  4. soulfood meint:

    Liebe Kaltmamsell,
    ich verfolge einige britische und amerikanische blogs die ‘reverb10’ so positiv, motivierend, selbstüberzeugt und guttuerisch bearbeiten das mir Ihre Antworten einfach ehrlicher erscheinen…
    aber- ich verfolge Ihren blog noch nicht lange, doch stecken so viele Ressourcen und Liebenswertes drin- da dürfen Sie ruhig stolz drauf sein und Ihr Licht selber ein wenig scheinen lassen.

  5. Not quite like Beethoven meint:

    Ich finde die Existenz einer Gefühlsregie und ihren Widerstreit mit dem Haushalt überhaupt nicht ungewöhnlich, kenne das gut von mir selbst. Und ich würde mich Frau Walküre anschließen: In den meisten Fällen ist der Regisseur ein belesener Theroretiker, gar Dogmatiker, und mit ein bißchen mehr Impro sollte man zumindest öfters mal experimentieren.

  6. Indica meint:

    Frau Kaltmamsell, wir anderen spielen uns und Ihnen doch auch nur die heitere Note vor. Sie sind einfach klug genug, ebensolche fröhlichen Pessimisten wie Sie einer sind, um sich zu scharen. Und so hat man’s dann doch ganz manierlich und angenehm miteinander.

    Wie sagte meine Oma Oege doch immer früher? “Kind, man muss sich ab und zu selbst was vormachen.”

  7. Su meint:

    Genau das ist es, was mich an so vielen Menschen nervt. Gefühle sind Gefühle. Ich merke doch, wenn einer nicht fröhlich, traurig usw. ist, sondern nur eine innere Regieanweisung ausführt, weil es sich “gehört”, in diesem Moment fröhlich, traurig usw. zu sein. Das irritiert mich mehr, als wenn mir jemand an den Kopf wirft, ich würde ihn gerade furchtbar nerven. Ich finde es enttäuschend, wenn Menschen nicht mal in ihren Gefühlen ehrlich sind. Für mich ist dann ein Beziehungsaufbau sehr schwierig. Mag sein, dass ich nicht immer gut ankomme, wenn ich meine Stimmung zeige (gebe mir natürlich Mühe, nicht die volle Explosivität zu entfalten, wenn es nicht angebracht ist). Aber mir selbst tut es gut. Vielleicht bin ich auch einfach nur zu egoistisch…

  8. richard meint:

    die vorstellung vom eigenen sein und die subjektive wahrnehmung wie man man glaubt von den anderen menschen wahrgenommen zu werden ist der weg in die unterbewertung des eigenen sein. grauer alltag und fehlendes glück ist nicht unbedingt unglück. wie andere menschen sie und ihr sein als bloggerin wahrnehmen sollte kleine lichtmomente in ihrem leben auslösen. schön daß es sie gibt.

  9. sjule meint:

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    Gerne gelesen

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  10. Buchfink meint:

    Ich erinnere an Ihr Posting vom 24.12.08 “Sinn und Zeit”. Dieses tröstet mich immer mal wieder, und vielleicht auch Sie?

  11. Anvivi meint:

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    Gerne gelesen

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  12. Susanne meint:

    Ich finde es immer wieder interessant, welche Gefühle in welchen Situationen erwartet werden, vor allem da, wo sie praktisch niemand hat. Zum Beispiel die Freude und Erleichterung über ein abgeschlossenes Projekt: Ich kenne wirklich niemanden, der nach etwas, das Wochen oder Monate braucht, wirklich erleichtert und froh ist, alle strampeln noch eine Weile weiter, merken dann, dass das Riesending eigentlich weg ist und fallen dann in ein schwarzes Loch. Freude und Erleichterung spürt man dann später rückwirkend.

    Genauso alle großen Feiern, schön war es immer hinterher, wenn man die unschönen Dinge verdrängt hat. Das Leben ist halt gemischter, als die meisten Leute es wahrhaben wollen.

    Und wie fasst man ein Jahr in fünf Minuten zusammen? Mich hat heute eine Freundin an etwas erinnert, das wohl im Frühjahr gewesen sein muss, ich dachte, dass sei mindestens ein Jahr her, vielleicht zwei. Weil seitdem so viel anderes gewesen ist.

  13. Sigourney meint:

    Ich habe aus einem sehr guten Buch gelernt, dass Depressionen nicht daher rühren, dass man mal verstimmt ist, sondern vor allem daher, dass man dann anfängt zu denken man solle sich ja eigentlich besser fühlen, habe gar keinen Grund für schlechte Laune etc.
    Und dann artet die miese Laune, die man halt mal so hat, eventuell zur Depression aus.
    Stimmt bei mir genau und es ist sehr befreiend mal zu kapieren, dass die Gedanken alles schlimmer machen.
    Dauert allerdings bis man es hinkriegt sich immer selber bei diesen “eigentlich sollte ich mich xxx fühlen” Gedanken zu ertappen und die vorbeiziehen zu lassen.
    Ist halt wie es ist und wenn ich das akzeptiere, dann geht es sehr oft schon einfach von selbst besser oder wird zumindest nicht schlechter.

  14. Lu meint:

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  15. Musiker meint:

    Was auch immer Sie glücklich macht.

  16. saumselig meint:

    Ich würd ja den Neurologen feuern.

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