John Irving, Until I Find You
Freitag, 7. Oktober 2005 um 20:06Dass sein neuester Roman Until I Find You über 800 Seiten lang ist, scheint auch John Irving ein schlechtes Gewissen bereitet zu haben (davor war der dickste A Son of the Circus mit gut 600 Seiten): Ungewöhnlich dünnes Papier verschleiert den Umfang; bin schon gespannt, wie die Paperback-Ausgabe mit normal dickem Papier aussehen wird.
An sich hat mich die Seitenzahl erst mal erleichtert; denn dass der Vorgänger, The Fourth Hand, so kolossal in die Hose ging, schiebe ich zu einem großen Teil auf die Magerkeit des Romans. Irving kann Kurzgeschichten (einige gesammelt in Trying to Save Piggy Sneed, einige eingebaut in Romane), Irving kann riesige Romane gewebt aus viele Handlungsfäden. Was er mit The Fourth Hand versucht hat, kann er nicht.
Until I Find You dreht sich um den Hollywood-Schauspieler Jack Burns, der als Vierjähriger mit seiner schottischen Mutter Alice (eine Tätowiererin) in Nordeuropa auf die Suche nach Jacks Vater William, einem Organisten, gegangen war – ohne Erfolg. Jack wächst in Kanada und an der US-amerikanischen Ostküste auf und wird von frühester Kindheit an von Mädchen und Frauen sexuell missbraucht. Erst als erwachsener Mann und Hollywoodstar beginnt er seine Erinnerungen an die damalige Europareise zu hinterfragen und macht sich erneut auf die Suche.
Viele Schauplätze, einige interessante Frauengestalten (die meisten davon Monster, aber endlich mal eine Ringerin), einige überraschende Wendungen – aber ich sah ständig die Mechanik hinter der Geschichte. Zum Beispiel: In dem Moment, in dem mich die zahlreichen foreshadowings zu nerven begannen, tritt eine Psychologin auf, die Jack bittet, beim Erzählen in den Therapiesitzungen nicht zu viel foreshadowing zu verwenden. Das ist lustig, aber erzählerisch hilflos.
Bevor ich Until I Find You anpackte, hatte ich A Widow for one Year ein drittes Mal gelesen (ich habe die Hauptperson darin, Ruth Cole, sehr gern). Deshalb riss es mich ein wenig, als ich zwei Bestandteile daraus gleich auf den ersten 200 Seiten von Until I Find You wieder fand: „Be always nice twice“ und ein bestimmtes Zitat aus Adam Bede von George Eliot. Irving spielt ja gerne in seinen Romanen auf andere seiner Romane an, aber bislang nie so platt.
Hübsch fand ich die Beschreibung des Academy-Award-Abends, an dem Jack Burns einen Drehbuch-Oscar bekommt. Es ist das Jahr, in dem Irving in der non-fiktionalen Welt selbst den Drehbuch-Oscar für The Cider House Rules bekam, es kommt sogar der Oscar für Michael Caine vor, allerdings verschweigt die Beschreibung in Until I Find You natürlich, dass er ihn für die Rolle des Dr. Wilbur Larch bekam.
Ebenso lehrreich wie die Schilderung der Vorbereitungen auf die Oscarnacht, des Ablaufs und der diversen Partys sind die Hintergrundinformationen zum Tätowieren und zu Orgeln und Orgelmusik. Nur dass mich die Handlung selbst zu wenig fesselte, als dass ich mich nicht ein wenig belehrt gefühlt hätte. Auffallend diesmal das indirekte Thema Essstörungen: Ständig ist jemand zu dünn oder kämpft mit seinem Gewicht oder verliert den Kampf und wird abenteuerlich dick oder isst eigentlich nicht oder treibt aus Figurgründen wie bescheuert Sport oder ist anorektisch und fällt irgendwann vom Trimmrad.
Unterm Strich: Gern gelesen, hin und wieder gelacht, immer noch besser als vieles, was ich in den letzten Jahren sonst gelesen habe – aber kein Spitzen-Irving.
Dank an Frau Julie, ohne deren Hinweis ich diesmal nicht mal mitbekommen hätte, dass es einen neuen Irving gibt.
(Übrigens beginnt Irvings offizielle Biografie seit einigen Jahren nicht mehr mit seinem Geburtsjahr, sondern mit dem Alter, in dem er seinen ersten Roman veröffentlicht hat, 26. Simmer a bissl eitel, hm? Herr Irving ist Jahrgang 1942, das blieb mir hängen, weil er wenige Wochen jünger ist als mein Vater.)
die Kaltmamsell16 Kommentare zu „John Irving, Until I Find You“
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7. Oktober 2005 um 23:27
da ja nun wirklich sowas von gar nicht für.
8. Oktober 2005 um 19:59
john irving, sorry, find ich nur geschwätzig.
8. Oktober 2005 um 22:00
Gratuliere, Herr 500beine: Das war bislang der inhaltsreichste Kommentar, den ich von Ihnen gelesen habe.
Das nächste Mal probieren Sie es vielleicht mit einem Argument statt mit reinem Gerotze?
9. Oktober 2005 um 0:42
Geschwätzigkeit des Herrn Philip R.… scheint wohl in Mode zu sein, große Schriftsteller zu diffamieren, in dem man sie der Geschwätzigkeit bezichtigt.
Thomas Mann? Mann, der ist doch sooo geschwätzig…
Fuentes, Garcia-Marquez, Cervantes… hey, bleib mir fern, mit diesen Schwätzern…
Goethe, Heine, Tucholsky, Schiller… alles Schwätzer….
usw. usf…
Kerner, Kerner…hey, den lieben wir (dabei ist dieser wahrhaftig der Gott der Geschwätzigkeit).
9. Oktober 2005 um 17:26
Naja, wenn man eine Geschichte schnell erzählt haben will, zwischen Tür und Angel wissen will, wie es endet, da eignet sich eher die Bild-Zeitung als John Irving.
Wenn man aber Freude am Fabulieren hat, mit dabei sein will , wenn ein Bär durch Wien wandert oder man in Amsterdam die Schuhe an die Wand stellt, dann lässt man sich auf ihn ein. Dann kann man auch süchtig werden nach seinen Geschichten. Ich freu mich auf das neue Buch,danke für die Besprechung.
10. Oktober 2005 um 9:42
Ich habe meine Magisterarbeit über Irving geschrieben, lange Jahre und viele Romane ist es her. “A bisserl eitel” ist sehr nett ausgedrückt, aber anderersetis hatte er da schon diese leicht fanatischen Kultzirkel unter seinen Lesern, gerade in Deutschland, das steigt vielleicht zu Kopf. Sein Fitnesstick, sein nicht geringes Selbstbewußtsein (“Wann bekomme ich endlich den Nobelpreis?”) runden da ein nicht immer angenehmes Bild.
Die Beschäftigung mit seinem Werk war spannend, bereichernd und eine heitere Angelegenheit. Aber wenn man die kleinen Taschenspielertricks erst einmal begriffen hat, die rekursiven Elemente nicht mehr überraschen… nun, wir sind durch, der John und ich.
Seinen Fleiß aber lobe und preise ich.
10. Oktober 2005 um 9:44
“keep on passing the open windows”
oft zitiert, nie (wirklich) verstanden. anyone?
10. Oktober 2005 um 9:59
Na, Mo, das hatte ich natürlich auf meinem ersten Heimcomputer (386) als Screensaver. Und es passte doppelt, weil ich darauf meine Magisterarbeit tippte (“John Irving als Erzähler in der Tradition von Charles Dickens”; kid, willst Du mich heiraten?) und immer wieder versucht war, es der kleinen Lilly aus dem Hotel New Hampshire nachzutun.
(“Sorrow Floats” ist immer noch eine meiner liebsten Kapitelüberschriften überhaupt jemals.)
10. Oktober 2005 um 10:03
Ah, und Mo: Korrekt ist “Keep passing the open windows”.
10. Oktober 2005 um 12:15
Oh, Sorrow Floats! (Ich glaube, es heißt “Keep passing open windows” ohne Artikel? Nie hat man eine zitierfähige Ausgabe zur Hand, wenn man sie mal braucht.)
“The World According to Irving (haha, originell!): Ausgewählte Themen und Motive im Romanwerk blabla…” so ähnlich hieß die wohl und wurde auf einem 286er geschrieben. Das ist ja jetzt eine Überraschung, ich bin begeistert. Dickens drängt sich natürlich auf. Bei mir gab es Sex, Tod, absent fathers und postmodernen Schnickschnack. Im Grunde so wie mein Blog.
“Desaster, desaster – we’re having a desaster. If we try to run away, desaster will run faster.” (Hm, war das jetzt aus SFB oder WMM? Mein Gedächtnis, ich gebe es auf…)
10. Oktober 2005 um 12:57
Das erste Mal habe ich Irving in mein Studium geschmuggelt, als ich in einem Geschichtsseminar (“American Individualism”) bei Michael Bellesiles eine Arbeit über das Geschichtsbild in A Prayer for Owen Meany schrieb.
Als Promotion begann ich, Isers Rezeptionsästhetik mithilfe der Reader Response Theory (Stanley E. Fish vor allem) auf neuesten Stand zu bringen und auf A Son of the Circus anzuwenden. Mache ich nach Lottogewinn oder Berentung fertig, je nach dem, was eher kommt.
10. Oktober 2005 um 14:22
Zumindest der letzte Satz lautet: “You have to keep passing the open windows.” Als Lehrer bin ich ja schon mittags zu Hause bei der zitierfähigen Ausgabe…
“Sorrow Floats”, wirklich wunderschön. Hm, es heißt “Schlagobers and Blood”, dabei hatte ich es andersherum in Erinnerung.
So oder so, ich hab’s mir gleich zum Wiederlesen herausgelegt.
10. Oktober 2005 um 18:32
Ich knie vor euch ! ;-)
Im Ernst, ich mag John Irving, seit ich im begegnet bin, und das war Ende der 80iger mit “Gottes Werk undTeufels Beitrag”, das Geschenk meiner irischen Nachbarin.
Und seht es ihm nach, dass er so eitel ist. Ich finde, er darf das.
“Große Menschen sind stolz, kleine eitel.” – George Lord Byron
5. Mai 2006 um 13:23
… Irving schreibt einfach gute Bücher…
8. Mai 2006 um 20:42
Ich habe “Bis ich dich finde” die letzten 10 Tage gelesen.
Mal wieder ein großartiger Irving. Eigentlich nicht mehr zu toppen, oder doch? Bin ja schon auf das nächste Buch gespannt!
Und: JA! Irving wiederholt sich in seinen einzelnen Romanen durchaus und kann somit bestimmt von einigen als “Schwätzer” angesehen werden. Dennoch sind seine Bücher mitunter die ergreifendsten, die ich kenne …
10. Mai 2006 um 21:50
Ich lese noch, und obwohl mich viele vor dem Buch gewarnt haben, ich fühle mich schon wieder wohl darin, im Irving-Sound. Es gefällt mir, wenn einer seinen Sound gefunden hat und darin immer weiter geht, auch über die Grenez und schon mal nach nirgends. Sicher, es wird nie mehr sein wie im Hotel New Hampshire. Aber Mutters Gulasch schmeckt heute auch anders. Wiederholungen? Japans Köche wiederholen sich ihr ganzes Leben lang und werden dabei immer besser und zufriedener. Nach der letzten Seite vielleicht mehr.