Journal Mittwoch, 16. April 2025 – Jenny Erpenbeck, Aller Tage Abend
Donnerstag, 17. April 2025 um 6:28Jenny Erpenbecks Roman Aller Tage Abend von 2012 beginnt mit dem Tod eines Säuglings, eines kleinen Mädchens. Wir sind in Galizien Anfang des 20. Jahrhunderts, es war das erste Kind dieser Eltern. Die jüdische Mutter reagiert katatonisch, der christliche Vater flieht. Das Kapitel erzählt uns ausführlich den Hintergrund und die Geschichte der beiden.
Es folgt das erste “Intermezzo”: Was, wenn das Mädchen durch einen rettenden Einfall nicht gestorben wäre? Und dann geht die Handlung mit dieser Variante ohne Todesfall weiter. Wieder war ich froh, kaum etwas über den Roman zu wissen, so konnte mich diese Wendung überraschen.
Dieses Erzählmuster wiederholt sich: Wir folgen den Mitgliedern der Familie weiter in der Zeit (Wien vor dem Ersten Weltkrieg, Moskau in den 1930ern, DDR-Literaturszene), immer bis dieses Mädchen im Mittelpunkt, dann junge Frau, dann nicht mehr junge Frau, ums Leben kommt. Mal durch herzgebrochenen Suizid, mal durch politischen Mord, mal durch einen dummen Unfall. Dann gibt es wieder ein “Intermezzo”, das die Alternativen aufzeigt, mit denen dieser Tod nicht passiert wäre – und macht mit einer davon weiter. Manchmal genügt eine winzige Veränderung, um die Protagonistin weiterleben zu lassen, manchmal muss die Handlung erst Voraussetzungen umschichten, Beziehungen neu arrangieren, um das zu ermöglichen. Eine Ermüdung an diesem strukturellen Grundkonzept vermeidet die Handlung durch immer kürzere Schleifen.
Erzähltechnisch ist diese Variante des Multiversum-Ansatzes sehr spannend aufgebaut und gekonnt umgesetzt, folgerichtig in “Bücher” I bis V aufgeteilt. Ich bewunderte das schriftstellerische Selbstbewusstsein, mit dem Erpenbeck diese herausfordernde Idee durchzieht, wie sie ihr Material und die Geschichten an jeder Stelle im Griff hat.
Nur dass ich mich die Hintergründe, vor denen das spielte, nicht besonders interessierten. Schtetl-Judentum hatte ich kürzlich in Joseph Roths Hiob, Revolutionszeit in Wien vor Erstem Weltkrieg in Raphaela Edelbauer, Die Inkommensurablen, der argumentative Irrsinn stalinistischer Säuberungen fesselte mich auch nicht ein weiteres Mal – aber dafür kann Jenny Erpenbeck nun wirklich nichts. Was mich durchaus ansprach: Die Darstellung der Trauer um die Verstorbene, die einen breiten Raum einnimmt. Inklusive der Gegenwartsperspektive beim Betrachten der eigenen Existenz: Wie viele Zufälle brauchte es, damit ausgerechnet ich auf die Welt kam, wie unwahrscheinlich ist das eigentlich?
Sprache: Erpenbeck hat’s wirklich drauf (Fachausdruck). Immer wieder spiegelt sich der Inhalt in sprachlichen Mitteln: Die Eintönigkeit des Alltags im Pflegeheim in Wiederholungen, die an Litanei grenzen; die Absurdität kommunistischer Verfolgungsargumentation in ineiandergeschobenen Dialogen/Briefen; der Hang zu Lyrik in Zeiten starker Verliebtheit.
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Gut geschlafen, auch wenn ich zum Einschlafen das Fenster schließen musste: Die Gaudi einiger Männer im Park vor meinem Schlafzimmer war selbst mit Ohrstöpseln zu laut.
Morgenrosa mit Mond in die eine Richtung.
Morgenrosa mit St. Matthäus in die andere Richtung.
Die angekündigten 24 Grad Höchsttemperatur des Tages machten sich schon auf meinem Weg in die Arbeit durch drückende Milde bemerkbar.
Laternenkunst am Beethovenplatz.
Mittags fuhr ich mit der U-Bahn für eine berufliche Besorgung in die Innenstadt, jetzt war es deutlich zu warm für April. Die Innenstadt erwartbar voller Tourist*innen. Ich hatte einen Mittagscappuccino am Viktualienmarkt geplant, angesichts einer 20-köpfigen Schlange am Stand gab ich das Vorhaben auf. Aber der Ausflug war eine willkommene Auflockerung des Arbeitstags. Und ich fühlte mich ohnehin den ganzen Tag über innerlich zittrig wie nach zu viel Koffein.
Zu Mittag gab es einen Apfel sowie Mango mit Sojajoghurt.
Arbeitsreicher Nachmittag, erste Verabschiedungen in die Osterferien.
Meine Schweißstinkephase will diesmal gar nicht mehr aufhören.
Auf dem Heimweg mit kleineren Einkäufen duftete mich der erste Flieder an – das war dann doch überraschend schnell gegangen. Ich ging dunkel drohenden Wolken entgegen, aber das Regenversprechen wurde schnell zurückgenommen. Auch für die nächsten Tage ist kein Tropfen angekündigt.
Zu Hause Yoga-Gymnastik, Brotzeitvorbereitungen. Als Nachtmahl servierte Herr Kaltmamsell Weizentortillas gefüllt mit Reis, schwarzen Bohnen, Frühlingszwiebeln, Korianderkraut, dazu (wässrige) Guacamola. Schön sättigend. Nachtisch Schokolade.
Sehr früh ins Bett, weil sehr müde. Als neue Lektüre startete ich Jeanette Winterson, Oranges Are Not The Only Fruit.
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Schwulen-Bürgerrechtsgeschichte, die Erinnerung daran ist wichtig:
Hier die Geschichte des 71-jährigen Wiener Wohnbauforschers Wolfgang Förster, eines frühen Aktivisten.
Ende der 1970er-Jahre schaffte es der engagierte Schwule sogar bis ins Vorzimmer von Justizminister Christian Broda (SPÖ). Man riet Förster, einen Verein zu gründen, der sich für die Rechte von Homosexuellen engagiert. “Als ich ihnen sagte, dass das doch verboten ist, hieß es aus dem Büro des Justizministers, wir sollen es trotzdem tun. Sollte eine Anzeige kommen, so werde dafür gesorgt, dass das Verfahren eingestellt wird.” So konnte Förster gemeinsam mit anderen 1979 die “Homosexuellen Initiative” (HOSI), den ersten Schwulen- und Lesbenverband Österreichs gründen.
Ich kann mir nur vage vorstellen, wie viel Kraft und Mut damals nötig waren, um als Schwuler für die eigenen Menschenrechte zu kämpfen und sich sichtbar zu machen.
(Lesben habe ihre eigene Befreiungsgeschichte, nur manchmal parallel und zusammen mit Schwulen.)
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Interessante ARD-Doku:
“Neurodiversität · Wie normal ist anders?”
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