Bachmannpreis 2011, der Donnerstag
Donnerstag, 7. Juli 2011 um 17:51Fünf sehr unterschiedliche Texte waren das am ersten Tag des Vorlesens, in meiner Wahrnehmung keiner davon richtig grottig, aber auch keiner überwältigend gut. Ich setzte mich wieder ins Fernsehstudio selbst (also nicht in das Zelt im Garten vor eine Leinwand und auch nicht ins Pressezentrum vor einen Monitor) und genoss die Inszenierung direkt.
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Gunter Geltinger liest „Auszug aus einem Roman“ (einen Moment lang hoffe ich, das sei der tatsächliche Titel der Geschichte und der Herr mache sich über die Marotte lustig, nicht mit eigenständigen Texten anzutreten, sondern mit Fragmenten). Nach seinem freundlichen „Guten Morgen“ erklärt er erst mal, dass er – wie die Figur der Geschichte – stottere und man das beim Vorlesen merken werde. Tatsächlich ist es für mich zunächst anstrengend ihm zuzuhören, dann aber wieder faszinierend, weil Geltinger die Vorlese-Techniken verwendet, die ich aus The King’s Speech kenne: Er holt vor manchen Wörter ruhig Luft, macht an ungewöhnlichen Stellen Halt, setzt Schwa-Laute vor riskante Anfangskonsonanten: a-legen, a-Wolken, a-riechende. Gegen Ende dirigiert er sich mit anmutig angedeuteten Armbewegungen.
In seiner Geschichte, von Alain Claude Sulzer vorgeschlagen, stolpere ich über die adjektivreiche und symbolschwangere Naturbeschreibung, doch mir gefällt, wie sie die spätere Nachjustierung kindlicher Erinnerung anspricht, wie sich die Zeitebenen auch im erinnerten Geschehen nicht-linear verweben. Figuren und Szene interessieren und fesseln mich, möchte ich gerne weiterlesen.
Der Jury scheint am deutlichsten die große Menge an Körperflüssigkeiten aufgefallen zu sein, Daniela Strigl spricht sogar von einem eigenen Genre „trostloses Landleben in Norddeutschland – statt Blut und Boden Blut und Kotze“. Sie, Hubert Winkels und Hildegard E. Keller scheinen Ähnliches wie ich wahrgenommen zu haben, nur dass sie es als misslungen bezeichnen. Ausgerechnet Meike Feßmann (ich habe ihr das letztjährige Kleinreden des Leidens an Depressionen immer noch nicht verziehen) lobt die Geschichte für die Darstellung des dysfunktionalen Mutter-Sohn-Verhältnisses – das Publikum applaudiert. Paul Jandl wirft dem Text vor, er versuche stellenweise „Literatur zu sein“. Und erinnert mich daran, warum ich englischsprachige Literatur (und Literaturwissenschaft) deutlich bevorzuge.
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Maximilian Steinbeis versucht sich an einer Satire: Eine Beratungsrede über „Einen Schatz vergraben“. Ich frage mich schnell, wer da eigentlich spricht (das erklärt mir später Feßmann: Mephisto. Ja, passt). Und ich fange spätestens bei den lyrisch ausgeschmückten Passagen an, mit den Augen zu rollen. Mit ein wenig Kürzen eine nette Glosse für die Feuilletonbeilage am Wochenende.
Doch das Publikum lacht und amüsiert sich, es scheint Idee und Ausarbeitung nicht so abgedroschen zu finden wie ich. Auch die Diskussion ist sehr wohlwollend. Schon als der Text am Anfang über die verlogenen Banken spricht, ahne ich, dass das bei der Jury ankommen wird. Burkhard Spinnen, der diesen Text ins Rennen geschickt hat, erzählt prompt, was beim Erstlesen im Februar 2011 in ihm vorgegangen ist: „Hier ist jemand, der auf eine der ganz großen Gegenwartsfragen reagiert!“ Vielleicht hülfe es, wenn die Feuilletonisten hin und wieder mit den Kollegen aus der Wirtschaftsredaktion zum Mittagessen gingen. Das nähme einigen Themen die Exotik.
Strigl hat eine „Parodie auf Ratgeberliteratur“ gehört, Winkels sieht das Gold im Text allegorisch für zeitgenössische Kommunikation. Jandl bittet die anderen Jurymitglieder, den Text „bitte nicht zu hoch anzusetzen“.
Hinter mir im Fernsehstudio steht eine Frau, die sich nicht nur während des Vorlesens vor Lachen fast bepinkelt hat, sondern jetzt auch jedes anerkennende Wort über den Text mit zustimmendem „Mhm!“ begleitet, hin und wieder einzeln applaudiert. Vielleicht Mutter Steinbeis?
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Daniel Wisser erfreut durch einen kurzen Vorstellungsfilm, in dem er vor einer weißen Wand nichts sagt, unterlegt mit Musik. Er holt für seine Geschichte „Stand by“ (mitgebracht von Jandl) über einen Ordnungsfanatiker mit Menschenproblem alles aus der Möglichkeit von Passivkonstruktionen heraus. Das Stilmittel wird schnell deutlich und ermöglicht ihm, die Hauptfigur in ihrer ganzen Verquastheit erlebbar zu machen. Einen Roman würde ich nicht durchstehen, aber in der Kurzstrecke ist das ausgesprochen gut gemacht.
Diese Passivkonstruktionen sind auch das zentrale Element der Jurydiskussion. Winkels spricht von einem „satirischen Text über einen zwangsneurotischen Kleinbürger mit apokalyptischen Grundtendenzen“, hält die Konstruktionen und Personen aber für inkonsistent. Strigl schlägt vor, dass das eine das andere spiegelt. Sie hat auch eine ganze Reihe „unterschwelliger Gemeinheiten“ im Text ausgemacht. Die Jury ist sich einig, dass er dem Genre Genazino angehört. Keller weist darauf hin, dass die Geschichte eine reichlich unheimliche Dimension hat, dass es sich nicht um Satire handelt, sondern um eine „hochartifizielle Inszenierung“.
Spinnen macht sich ausführlich Gedanken, welche Wirkung die Passivkonstruktionen haben. Er findet sie ästhetisch enttäuschend und bemängelt einige Fehler in den Konjunktiven. Sulzer weist ihn darauf hin, dass Wisser durch dieses Stilmittel Dinge über Personen sagen konnte, „die anders nicht gesagt werden können“. Für Jandl werden durch das Passiv die Gegenstände ebenso präsent wie die Figur, er findet es ästhetisch präzise durchgezogen.
Feßmann wiederum haut drauf, das Passiv sei „Vorwand für ein an Schlichtheit nicht zu überbietendes Konglomerat an Misanthropie und simpelsten Einfällen“, wird aber nicht gehört.
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Anna Maria Praßler, vorgeschlagen von Spinnen, lässt in ihrem Vorstellungsfilm symbolbeladen Spiegel zerbrechen. Ihre Geschichte heißt „Das Andere“ und kommt mir vor wie ein Text, von dem sich Lieschen Müller vorstellt, dass ihn eine Schriftstellerin über eine Geisteswissenschaftlerin schreibt. Während des Vorlesens bemerke ich, dass es eine schlechte Idee ist, eine zentrale Figur Björn zu nennen: Dieses Wort kann niemand auf Deutsch peinlichkeitsfrei aussprechen, egal aus welcher Region das Deutsch stammt. Zudem irritiert mich, dass Praßler als Ich-Erzählerin vorliest: „Sein Süddeutschland sollte mir immer fremd bleiben.“ – Praßler hat einen sehr deutlichen süddeutschen, nämlich bayerischen Akzent.
Feßmann bemängelt, dass sie nichts von dem Paar erfährt, um das es doch hauptsächlich gehen soll. Sulzer spricht von einer „trivialen Geschichte, angereichert mit Trivialitäten“. Winkels: „Man spürt die Absicht und ist verstimmt.“ Ihm ist die Symbolik in diesem „Seminargerede“ viel zu deutlich, Jandl hat sogar eine ganze Reihe „Schlagersätze“ entdeckt. Spinnen bringt das Ganze ins Positive indem er unterstreicht, dass all diese Dinge nicht unbedingt aufs Konto der Autorin gehen, sondern Teil der Rollenprosa sein könnten: Dass damit die Figur charakterisiert werde. Doch Jandl fasst zusammen: „Das ist ein so konventionelles Ding, dass man es damit entschuldigen muss, dass es Rollenprosa ist.“
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In Antonia Baums Geschichte (vorgeschlagen von Winkels) geht es ab, im Widerspruch zu ihrem Titel: „Vollkommen leblos, bestenfalls tot“ hat zwei Kapitel und eine sehr lebendige Ich-Erzählerin. Im ersten Kapitel steht sie kurz vor dem Abitur und ist angemessen genervt von Eltern, Schule, Dorf. Im zweiten Kapitel ist diese Genervtheit Wut und überheblichem Frust gewichen, die sie über ihr Leben als Anhängsel eines Mannes in der wilden Großstadt empfindet. Ich mochte einige der elaborierten Metaphern („Einrichtungssirup“) und die eingesprengten surrealen Elemente. Etwas abgelenkt war ich durch die Erkenntnis, dass the camera tatsächlich adds ten pounds: Vor mir am Lesetisch saß eine schmale, junge Frau, hohe Wangenknochen im schmalen Gesicht. Auf der Leinwand aber sah ich eine nicht mehr ganz junge Frau mit weichem Kinn und breitem Gesicht.
Strigl nennt das Ganze sofort eine Thomas-Berhard(TB)-Parodie oder -Imitation – in jedem Fall sei sie misslungen. Und darum dreht sich dann fast die gesamte Jury-Diskussion. Für Feßmann ist es kein TB, sondern Rollenprosa. Jandl entdeckt „manchmal“ TB, dann aber wieder „verschwurbelte Metaphern“. Winkels verteidigt die Geschichte, TB-Stil gehöre „seit Jahrzehnten zum poetischen Grundbestand“. Sulzer bemerkt, dass der Text beim Vorlesen weniger nach TB klinge als beim Selbstlesen. Ich merke, dass ich deutlich mehr von TB lesen muss als die beiden Romane vor 20 Jahren – ich wäre nie auf den Vergleich gekommen.
Einziges weiteres Thema der Diskussion: Hat sich die Figur zwischen erstem und zweitem Kapitel weiterentwickelt? Sulzer sagt ja, Keller („ein Text mit ganz großem Schmollmund“) sagt nein.
die Kaltmamsell9 Kommentare zu „Bachmannpreis 2011, der Donnerstag“
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8. Juli 2011 um 9:16
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8. Juli 2011 um 12:41
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8. Juli 2011 um 13:50
was ist schon live? das hier ist wie live. danke!
8. Juli 2011 um 16:12
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8. Juli 2011 um 16:15
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8. Juli 2011 um 20:02
Dabei fällt mir auf: du schreibst doch nicht währenddessen mit? Kannst du dir das alles merken? Vor allem deine eigene Meinung vor dem Einfluß durch die Jury? Respekt.
9. Juli 2011 um 8:28
Doch, Michael, ich schreibe während der Show wie eine Bescheuerte mit. Als wörtliche Zitate würde ich doch nichts behaupten, was ich nicht sofort als solches festgehalten habe.
10. Juli 2011 um 21:29
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14. November 2011 um 14:16
Dem Milchmädchen fehlt es an Vielem, oft an Zeit – die habe ich mir für Deinen wunderbaren Blog genommen und werde ich mir in Zukunft nehmen. Bei einer so ausgewogenen Mischung aus Rezepten (als leidenschaftliche Bäckerin besonders geschätzt), Büchern, Filmen muss das Ergebnis munden. Schade, dass Du deine Identität nicht preisgibst. Trotzdem: Weiter so!
Es spendet Applaus,
Eva Perla