Der Wahn der Bissfestigkeit
Montag, 17. Oktober 2011 um 9:37Unser regionale Biokiste erfreute uns bei der jüngsten Lieferung mit einem wunderschönen Wirsingkopf. Er sollte unser Samstagessen werden. Ich mag Wirsing sehr gerne, in seiner süßlich-herzhaften Pomfigkeit gehört er für mich als Herbst- und Winterspeise in eine Reihe mit dicken Eintöpfen.
Im Web sah ich mich nach einer Zubereitungsweise für den Wirsing um – und war bald verblüfft: Hier wurde kurz angebraten und „ca. 10 Minuten gedünstet“, dort hieß es nach dem Blanchieren „5-10 Min. dünsten“ oder man schlug gleich ein kurzes Erhitzen im Wok vor. Ich weiß ja nicht, wie und wo all diese Online-Köche groß geworden sind. Doch wenn ich an Wirsing denken, sehe ich vor mir einen Brei mit Bröckerln, der eine karamellige Note hat, am besten mindestens einmal aufgewärmt. Bestimmte Geschmacksnoten, die ich sehr gerne mag, lassen sich halt erst aus Kohlgemüse holen, wenn es ziemlich lange erhitzt wurde.
Ich kann mir das nur mit der grassierenden Knackigkeitsmode bei Gemüse erklären. Lange dachte ich, nur meine Mutter hätte den Tick, Grünzeug und Hitze möglichst wenig in Kontakt kommen zu lassen. Besonders schlimm fand ich das schon immer bei grünen Bohnen. Meine Mutter serviert sie bis heute, nachdem sie diese dem heißen Wasser offensichtlich lediglich vorgestellt hat: „Heißes Wasser, grüne Bohnen. Grüne Bohnen, heißes Wasser.“ Und sie schwärmt, wenn diese Bohnen anschließend beim Beißen dieselben Geräusche erzeugen wie Karottenstifte. Meine Mutter versucht sogar mehlige Kartoffeln „mit Biss“ zu servieren – statt mit der ihnen angemessenen wolkig zerfallenden Mehligkeit.
In den letzten Jahren scheint die persönliche Vorliebe meiner Mutter Mainstream geworden zu sein. Mittlerweile schaffen es auch Unternehmenskantinen, Rosenkohl in einer quietschenden Festigkeit zu servieren, für die der Engländer das Wort crunchy erfunden hat. Der Brokkoli, der beim Italiener die Saltimbocca begleiten soll, springt vor Lebensfreude schier selbst vom Teller.
Was kommt als Nächstes: Knackiger Rahmspinat? Bissfeste Tomatensoße?
Es hat lange genug gedauert, bis ich gegartes Gemüse nicht nur scherzhaft eingefordert habe, sondern ungehalten. Ich hatte nämlich ein schlechtes Gewissen, denn schließlich tötet doch langes Garen all die Vitamine. Mittlerweile aber bin ich überzeugt, dass die Nahrungsauswahl in unserer Gesellschaft auch inklusive weichem Gemüse groß genug ist, dass aller Nährstoffbedarf gedeckt wird. Zudem will will ja nicht jedes Gemüse weichgegart: Frische Erbsen dürfen beim Beißen druchaus ein wenig Widerstand bieten.
Aber wenn ich Rohkost will, bestelle ich Rohkost.
(Den Wirsing schnitten wir in Streifen. Dann ließen wir in einem großen Topf klein geschnittenen Bauchspeck aus, brieten darin ein gehacktes Zwiebelchen an. Der Wirsing kam dazu und wurde rundum angebraten – dazu brauchte es etwas mehr Fett, wir nahmen vom Gänseschmalz, das wir seit letztem Weihnachten aufbrauchen. Mit einer Tasse Gemüsebrühe angegossen, schmurgelte der Wirsing 40 Minuten leise bei geschlossenem Topfdeckel. Dann würzten wir ihn mit Salz, Pfeffer, Thymian und gossen ordentlich Sahne an. Einige Paar Debreziner kamen mit in den Topf, alles zusammen garte nochmal 15 Minuten mit Deckel. Und selbst dann war der Wirsing noch nicht komplett zu Brei gekocht.)
die Kaltmamsell26 Kommentare zu „Der Wahn der Bissfestigkeit“
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17. Oktober 2011 um 9:53
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Made my day
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17. Oktober 2011 um 9:53
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Geht’s noch?!
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17. Oktober 2011 um 9:57
Ich denke, es gibt noch einen Zustand zwischen Rohkost und Matsch.
Bezeichnend finde ich den Satz: “…noch nicht komplett zu Brei gekocht..” NICHT KOMPLETT …
Liebe Kaltmamsell, auch wenn ich Ihre Koch- und Backfähifkeiten nicht immer teile, sie jedoch aufgrund gewisser handwerklicher Grundkenntnisse immer schätze, dies ist, naja, wie soll ich es höflich sagen… ach, *bääääh*
Einziger Pluspunkt ist das Weglassen der obligatorischen Kantinenmehlschwitzenpampe.
Grüße
applegg
17. Oktober 2011 um 10:59
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Genau!
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17. Oktober 2011 um 11:25
zu dem thema faellt mir doch gleich der weichgekochte brokkoli bei den anonymen koechen ein. auch hervorragend!
17. Oktober 2011 um 11:32
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Genau!
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17. Oktober 2011 um 11:39
Herrlich. Ja, Rohkost ist Rohkost und Wirsingeintopf bleibt Wirsingeintopf. Da ist nichts Klares in der Suppenschüssel. Sehr lecker, besonders in dieser Jahreszeit, aber wie jeder gute Eintopf braucht auch der eben Zeit. Und durchgezogen am nächsten Tag aufgewärmt ist Wirsingsuppe am besten.
17. Oktober 2011 um 11:48
Ah danke, tina: Ich hatte mich nur vage erinnert, dass jemand ähnlich gesonnener bereits in mein Horn geblasen hatte, kam aber ums Verrecken nicht drauf, wer. Jetzt habe ich ja den Link.
17. Oktober 2011 um 11:53
Ich habe es auch nicht so mit bissfestem Gemüse (oder auch Nudeln) und habe ehrlich gesagt das Gefühl dass ich das genauso schlecht vertrage wie Rohkost.
Wirsing kommt bei uns für ca. 15 Minuten in den Schnellkochtopf und ja, aufgewärmt schmeckt er noch besser.
17. Oktober 2011 um 13:14
Danke fürs Rezept, ich habe nämlich keine Lust auf Wirsingroulade (der Wunsch meines Göttergatten) sondern auf einen schönen dicken Eintopf. Den isst auch meine Kleine (5)abends statt Wurstbrot, obwohl sie beim Mittagessen im Kindergarten meistens Nachschlag holt. Aber man sieht dem Kind die Verfressenheit nicht an, sie bleibt lang und dünn.
17. Oktober 2011 um 13:20
Hat jemand schon mal bissfestes Rotkraut (= Blaukraut) gegessen??? Schmeckt wie Stroh.Also ich teile auch Ihre Meinung, liebe Kaltmamsell, dass Rohkost Rohkost ist und Gemüse, Gemüse. Wobei grüne Bohnen durchaus ein bisschen, wohlgemerkt ein bisschen knackig sein dürfen, aber quietschen sollen sie auf keinen Fall…..
17. Oktober 2011 um 13:56
Zu allem ja. Habe letztes Wochende ein Rotkohl mit Quitten Rezept ausprobiert. Das sollte nach einer Stunde bissfest sein. Kam mir gleich wunderlich vor und schmeckte, wie philine richtig anmerkt, einfach nach Stroh. Immer weiterköchlen lassen und am nächsten Tag noch mal aufgewärmt war er dann genau richtig!
Also: Eintöpfe brauchen Zeit, dürfen nicht knirschen und knacken, müssen aufgewärmt sein und tun einfach ganz wunderbar gut!!!!! Danke für die Inspiration Kaltmamsell, da wandert gleich ein Wirsing in meine Freitägliche Biokiste!
17. Oktober 2011 um 17:58
hmmm. koche ich morgen, vielen dank für die erinnerung, das perfekte herbstessen. unter 40 minuten geht da gar nichts, glaube ich, und inzwischen ist ja auch der leicht ins treppenhaus ziehende kohldunst schon wieder heimelig und nicht mehr arm.
17. Oktober 2011 um 18:21
Och nö, lieber nicht.
Wir sind beide bei Müttern aufgewachsen, die aus allem Gemüse Stampf kochten. Die Mutter des Mannes kochte noch gründlicher und länger. So kannten wir im Grunde nur Pampe in verschiedenen Grün- und Gelbtönen.
Seit wir für uns selbst sorgen, erkennt man beim Spinat die Blätter und der Rosenkohl ist hellgrün und hat Biss.
Und es gibt keine Eintöpfe mehr.
Erziehung landet oft beim Gegenteil, ich weiß.
17. Oktober 2011 um 18:26
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Genau!
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17. Oktober 2011 um 18:37
Man muss nicht auf den Eintopf verzichten, weil man das zu weich gekochte Gemüse nicht leiden mag. Gemüse, Kartoffeln etc. werden doch separat zubereitet. Am Ende zieht der Eintopf schön durch, aber er kocht nicht mehr. Dann habe ich es also selbst in der Hand, wie sich mein Essen später anfühlt ;-)
Zwischen »bissfest« und »matschig« gibt es sowieso ganz viele Nuancen. Die Extreme sind (fast) immer falsch. »Fast« deshalb, weil es einige pürierte Suppen gibt, die man einige Male im Jahr auch nicht missen möchte.
17. Oktober 2011 um 22:34
Ich schätze den Satz “…ist am nächsten Tag noch besser” eher nicht. Hab’ ich früher zu oft gehört. Für mich ist ein Gericht, Eintopf oder was auch immer auf den Punkt fertig, wenn es/er (immer subjektiv) am besten ist. Und wenn der Eintopf am nächsten Tag noch besser ist, war er am Vortag noch nicht fertig.
18. Oktober 2011 um 9:59
Oh, ein wunderbar kontroverses Thema. Dank elterlicher Matsch-Prägung stimme ich grundsätzlich Frau Croco voll und ganz zu, schätze aber unbedingt lange durchgekochten Rotkohl.
Wirsingeintopf an sich mag ich nicht gern, wegen Eintopfcharakter. Ich habe mein Essen lieber aufgeräumt auf dem Teller. Deshalb gibt’s bei mir gedünsteten Wirsing mit Sesamkörnchen und Fisch. Ist eben grundsätzlich eine andere Geschichte.
Aber die Hauptsache ist doch, dass es Ihnen und dem Herrn Mitbewohner gemundet hat. Und so ist es ja geschehen, in der Ihnen genehmen Zubereitungsart.
Und: Ja, quietschender Brokkoli aus der TK, im Konverter hochgeschossen, oder wie man das auch immer nennt, ist in der Kantine NICHT lecker.
18. Oktober 2011 um 10:17
Vielleicht liegt es ja in der Kindheit begründet: Alle Eltern oder andere Erziehungspersonen wollen, dass man Gemüse isst. Meist will man das als Kind aber nicht unbedingt. Also entwickelt man eine Abneigung gegen das Zeug und kocht dann als Erwachsener genau das Gegenteil dieser Gemüsevarianten (weil ja Gemüse doch schmeckt!). Also ich habe totale Abneigung gegen gekochten Kohl und matschigen Rosenkohl, weil mich das an die frühere Schulspeisung erinnert. Ich kann das noch nicht mal riechen.
18. Oktober 2011 um 11:10
Ich stimme gerne den Damen Indica und Croco zu, bin ich doch mit niederrheinischem “Untereinander” groß geworden, welches vorsieht, das jedes, aber auch wirklich jedes
Gemüse nach dem “Abbrühen” in Hektolitern von kochendem Wasser durch die feine Scheibe des Fleischwolfs gedreht, mit der gleichen Menge durchgedrehter gekochter Salzkartoffeln gestreckt und alsdann mit einer Mehlschwitze abgebunden wird. Falls meine Großmutter gute Laune hatte, wurde noch eine Pfanne fetter, geräucherter Speckwürfel
ausgelassen und über das Gemüse gekippt. Da bedeutet eine knapp gegarte und lediglich in Butter geschwenkte Möhre einen wirklichen Paradigmenwechsel.
Ja, der Niederrhein hat durchweg schlechtes Wetter, aber in der 70ern war die (Gemüse)küche mindestens eben so schlecht.
18. Oktober 2011 um 12:03
Sowohl als auch schmeckt doch gut. Knackiges Gemüse aus dem Wok (keine quietschenden Bohnen, iih) und lange und sanft geschmorte Sächelchen.
Und ein Gulasch schmeckt aufgewärmt deutlich besser.
Ich empfehle Ihnen einen Besuch bei “Moritz” in der Theresienstraße, demnächst wenn der Grünkohl gefrostet ist. Die Wirtin hat ihre eigenen Felder und kocht den Grünkohl, fünfmal (!) aufgekocht eine über die andere Woche. Mit der authentischen Wurst, Bratkartoffeln statt der langweiligen Salzkartoffel und zum Schluß eine Linie geht diese Mahlzeit “bis in die Söck”.
Zum hier heiß diskutierten Thema gäb es noch die Lektüre des etwas angestaubten Titels: Salcia Landmann, Gepfeffert und gesalzen. Ein streibares Kochbrevier. Vermutlich nur noch antiquarisch aufzutreiben.
18. Oktober 2011 um 16:58
Sehr witzig geschrieben!
Und der Wirsing, der leider am Wochenende liegengebleiben ist, wird nun
genau so gemacht.
Wie ist denn das Buch?
Hatte es letztens in der Hand und habe dann doch einen Rückzieher gemacht!
19. Oktober 2011 um 12:45
Hmmm, da habe ich ja anscheinend Glück gehabt. Gemüse wurde in der Kindheit immer ‘angemessen’ zubereitet, nicht bißfest, nicht zerkocht. Aufgewachsen bin ich, was Kohlgerichte anbelangt, mit Wilhelm Busch:
“Eben geht mit einem Teller
Witwe Bolte in den Keller,
Dass sie von dem Sauerkohle
Eine Portion sich hole,
Wofür sie besonders schwärmt,
Wenn er wieder aufgewärmt.”
Und halte es immernoch so. Außerdem habe ich die Erfahrung gemacht, daß das Essen, was mir schmeckt, meiner Gesundheit am zuträglichsten ist. Vitamine zählen? Niemals!
20. Oktober 2011 um 16:57
Wirsing geht m. E. sowohl knapp gegart als auch weichgeschmort. Wenn man Wirsing knapp garen möchte, nimmt man nur die inneren weißen, bsi gelben Blätter, entfernt rigoros alle dicken Rippen, schneidet in Streifen, Blanchiert und dünstet ein paar Minuten. Geht durchaus, schmeckt ganz angenehm zart. Für die deftige Variante sollte man allerdings mindestens 40 Minuten schmoren, zwischen der zehnten und der vierzgsten Schmorminute ist der Wirsing zäh wie Leder, erst dann wird er schön schlotzig.
Beim Sauerkraut gibt’s ja auch zwei Schulen: die einen machen’s in zwanzig Minuten gerade eben heiß, die andern kochen’s in viel Flüssigkeit richtig weich.
20. Oktober 2011 um 17:47
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Genau!
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25. Oktober 2011 um 14:36
Ich habe sehr gelacht. Und stimme Ihnen weitgehend zu, wobei ich noch einräumen (Achtung, Kalauer des Tages: Ausgeräumt habe ich den vergangenen Monaten ohnehin genug !) möchte, dass die Garzeiten nicht nur vom Gemüse abhängen, sondern auch vom jeweiligen Reifegrad. Bei zarten, kleine Fisolen genügt es vermutlich, sie dem heißen Wasser vorzustellen, bei handelsüblicher Größe sicher nicht. Mein Fisolengulasch köchelt übrigens ca. zwei Stunden lang auf kleiner Flamme, aber davon, dass die Fisolen danach zu Matsch geworden sind, kann keine Rede sein.