Abitreffwochenende
Montag, 24. Oktober 2011 um 9:50Bloggern bin ich schon vielen begegnet, und jede dieser Begegnungen hat mir ein weitere Welt eröffnet (wie ja schon vorher ihre Blogs). Ein erstes Mal war es, durch einen Blogger Anschluss zur eigenen Vergangenheit zu finden: Herr Padrone bloggt aus meiner Heimatstadt und bringt mir eine sympathische Gegenwart nahe, in der es nicht nur das eine Großunternehmen und kleingeistige Schnäppchenjäger gibt. Jetzt habe ich auch Gesicht und Stimme dazu, ergänzt durch die Freude auf anstehende Postings und weitere Begegnungen.
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Abends das Treffen mit Menschen, die mich bis 1986 fünf bis neun Jahre meiner Gymnasiumszeit begleitet haben. An der nachmittäglichen Schulbesichtigung hatte ich kein Interesse: Gelände und Gebäude wurden in den vergangenen Jahren bis zur Unkenntlichkeit verändert – warum sollte ich mir irgendein Gymnasium ansehen?
Die Gespräche mit den ehemaligen Mitschülern ergaben: Alle wissen etwas mit ihrem Leben anzufangen, haben größere oder kleinere Ideen umgesetzt, schauen nach vorne im Bewusstsein, schon einiges hinter sich gebracht zu haben.
Mit meinem immer stärkeren Lebensgefühl „Was mache ich hier eigentlich?“ kam ich mir in dieser Umgebung wieder vor wie die planlose Abiturientin des Jahres 1986 – allerdings minus der naiv unbelasteten Hoffnung und Neugier. Nicht schön.
Ein Gewinn: Der Mitschüler, dem ich möglicherweise tatsächlich nicht mehr begegnet war, seit er zur 12. Klasse an ein anderes Gymnasium wechselte. In meiner Erinnerung war er immer noch der hübsche Bursch, dessen lähmende Schüchternheit den Blick auf eine facettenreiche Persönlichkeit verstellte. Jetzt saß ich neben einem erwachsenen Mann, der genauso fröhlich, klug, herzlich und verschmitzt war wie der damalige Mitschüler, aber nun auch offen und frei – die Fesseln der Schüchternheit waren völlig verschwunden. Fast tat mir leid, dass ich keine Zwischenstation dieser Entwicklung mitbekommen hatte.
Ein Verlust: Mein einstiger Lieblingsnerd des Jahrgangs hatte nach dem Studium in seiner Fachrichtung keine Arbeit gefunden und war ins Management des Großunternehmens geschliddert. Jetzt brüstete er sich mit Stress, Macht und Skrupellosigkeit, schwärmte von der Erleichterung darüber, dass er nicht mehr gemocht werde wollte.
Daneben: Die abgeerntete Kellnerin im Traditionsgasthaus, freundlich, resolut und launig, deren Styling Ende der 60er stehengeblieben war – dieser Typus ist in Großstadtzentren leider ausgestorben.
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Am Sonntag zu früh aufgewacht. Nach Plausch und Kaffee mit Papa (wir beiden sind die Frühaufsteher in der Familie) raus zu einem Lauf in der Morgensonne.
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Nachmittags zurück zu Hause die kalte Sonne Sonne sein lassen und in The Bone People gelesen – mit sehr großem Genuss. Wie schade, dass ich während der Arbeitswoche nur vor dem Schlafen jeweils ein paar Seiten weiterlesen kann.
die Kaltmamsell9 Kommentare zu „Abitreffwochenende“
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24. Oktober 2011 um 13:59
“die abgeerntete Kellnerin” – zauberhafte kleine Liebeserklärung, so ganz im Vorbeigehen.
24. Oktober 2011 um 14:50
…die es gerne geben wird. Halte weiter die Stellung auf der Schanz!
25. Oktober 2011 um 6:10
“Alle wissen etwas mit ihrem Leben anzufangen”, dieser Satz hat mich an eine Hochzeit eines Angeberpärchens erinnert, der ich Staffage beiwohnen durfte. Das Kirchenwrack legte den beiden dann “ein gelungenes Leben” nahe. An beiden Sätzen bringt mich eins zum Nachdenken, das Normative, das darin enthalten ist. Ich habe darüber nachgedacht, ab welcher Schwelle man denn mit seinem Leben effizient umgeht, denn so klingt das für mich, mit einem Kapital etwas anzufangen zu wissen.
Der erste Gedanke war, sichtbare Spuren zu hinterlassen, Ideen umzusetzen, wie Sie schreiben. Das spiegelt unsere derzeitige handlungsorientierte Lebensweise wieder. Auch scheint mir so etwas wie ein stetiger Verbesserungsprozess gemeint zu sein, der mich sehr an das “lebenslange Lernen” erinnert, das für den Verwertungsprozeß so nötig ist.
Mag sein, daß ich überinterpretiere. Aber vielleicht haben wir alle schon so sehr verinnerlicht, daß jeder Anklang von Stillstand, Ineffizienz und mangelnder Bereitschaft zu lernen verwerflich ist, daß uns eine Genügsamkeit und Zufriedenheit mit dem was wir jetzt sind und tun, ausgetrieben wurde.
Ich weiß nicht ob ich meinen Gedanken verständlich machen kann – ich beobachte nur mit zuweilem großen Staunen, wie meine Arbeitswelt und ihre Veränderung in den letzten 20 Jahren meine Wertungen und Urteile beeinflußt hin zu mehr Härte und Unduldsamkeit Anderen gegenüber, und auch mir selbst gegenüber. Und diese Unduldsamkeit scheint mir mitzuklingen in dem “Alle wissen etwas mit ihrem Leben anzufangen”.
25. Oktober 2011 um 8:35
Mein Punkt ist, typ.o, dass das bei mir früher anders war, dass auch ich einiges anzufangen wusste, und dass es mir dabei erheblich besser ging als jetzt. Erst durch diese Begegnungen wurde mir klar, dass in den letzten Jahren irgendwas kaputtgegangen sein muss in/an mir.
25. Oktober 2011 um 16:33
Ich glaube, das ist die einzige Skala, die ich in dieser Frage akzeptiere, die eigene Wahrnehmung der eigenen Person. Allerdings auch ein gefährliches Meßinstrument, da man sich selbst als stetiges Wesen erlebt, und dabei die eigene Entwicklung von einem stürmischen, weltoffenen und nicht von Mißerfolgen geprägten Wesen zu einem “mit allen Wassern gewaschenen”, immer schneller überlasteten Menschen in ein ganzes, lineares Bild von sich integriert.
OT: Habe mir gerade die FAZ mit den Kabelbindern drin gekauft, danke für den Hinweis!
25. Oktober 2011 um 23:25
“Menschen, die mich bis 1986 fünf bis neun Jahre meiner Gymnasiumszeit begleitet haben.” Und nun werden sie ein Stück von der Kaltmamsell begleitet. Und als nächstes geht man vielleicht ein Stück zusammen? (Nur bitte kein Stück weit)
Es ist schwer, hier zu raten und soll vielleicht auch gar nicht sein, ausschreiben zum zulesen kann ja reichen. Ich habe mal was leicht Dahingeschriebenes gelesen, das mich in einer ähnlichen Situation zumindest zum Lachen gebracht hat. Ging in etwa so: “Sich mit jemand anderem zu vergleichen, hilft nicht weiter. Vor allem, wenn dieser andere man selbst ist – nur jünger.” Chancenlos & priceless.
25. Oktober 2011 um 23:25
“Alle [anderen außer mir] wissen etwas mit ihrem Leben anzufangen”, haben etwas “erreicht” (berufliche oder private / familiäre Ziele), haben etwas aus sich gemacht – genau das waren (und sind weiterhin) auch meine Gedanken, die mich im September vom Besuch meines Abi-Jahrgangstreffen abgehalten haben und vermutlich auch weiterhin von solchen Veranstaltungen fernhalten werden.
Auch der herannahende eigene Geburtstag intensiviert solche Gedanken bei mir gerne (wenigstens habe ich den bald hinter mir ;-)).
Darüber hinaus scheint mir zur Zeit zunehmend die Kraft und Motivation abhanden zu kommen um den A…llerwertesten nachhaltig hoch zu kriegen, gerade weil ich gar nicht weiß, was ich eigentlich noch erreichen, schaffen möchte (und kann, realistisch betrachtet). Keine Spur von Lebensentwurf.
Trotzdem funktioniert man perfekt, Tag für Tag, und erfüllt die beruflichen und gesellschaftlichen Erwartungen. Ich komme mir zur Zeit mehr denn je wie eine unreife Jugendliche vor, die sich einfach hinter der verschlossenen Zimmertür verschanzen und trotzig sein will.
Ich empfinde es ähnlich, wie typ.o schreibt: wer erfolgreich sein will, (ver-?)plant sein Leben. Da braucht’s einen Lebensentwurf. Mit SMARTen Zielen. Und dann muss zügig und effizient abgearbeitet werden. Wenn etwas schief läuft: analysieren und reflektieren bis ins Detail statt einfach auch mal sagen zu können, das war eben nix und es ist vorbei, neue Chance, neues Glück. Ständiges Grübeln, ob man alles richtig und gut genug macht oder sich vielleicht nicht doch hier oder da verbessern könnte. Und letztlich ist man nie und mit nichts zufrieden, wirft sich aber gleichzeitig vor, dass man zufrieden sein müsste (weil man einen Job hat, weil man halbwegs gesund ist, weil es vielen anderen wesentlich schlechter geht als einem selbst). Hmpf.
27. Oktober 2011 um 6:00
Dieser Blogeintrag beschäftigt mich erstaunlich nachhaltig, seit gestern geht mir der Abschnitt mit der Erleichterung darüber, nicht mehr gemocht werden zu wollen, durch den Kopf. Bin ich auch schon so eine Larve? Seit ein paar Jahren sind die Dinge, die mir peinlich sind, ebenso spärlich geworden wie mein Interesse am Urteil meiner Kollegen über mich. Und in der Tat empfinde ich das durchgängig als sehr befreiend. Ah, gerade merke ich, dass sich dies doch weitgehend im Arbeitsleben zeigt, meine Freunde versuche ich schon nicht zu sehr zu verstören ( was mich nicht davon abhält, bei einer Fete bei mir um zehn zu sagen, “Ich bin jetzt müde, ich gehe ins Bett”).
27. Oktober 2011 um 6:32
Der ehemalige Mitschüler hatte das nach eigenen Angaben in einem Managerseminar beigebracht bekommen, typ.o, und ich wusste genau, von welcher Art Gehirnwäsche er sprach. Die Beispiele, die er nannte, basierten leider nicht auf der Priorisierung eigener Bedürfnisse; ihm ging es darum, leichten Herzens Mitarbeiter zu entlassen, dafür Lücken in Sozialregelungen zu finden, oder zu Besprechungen, die er für überflüssig empfindet, einfach nicht aufzutauchen.
Das mit der Fete habe ich schon als Studentin gemacht – ich hatte aber keineswegs das Gefühl, damit irgendjemanden vor den Kopf zu stoßen. Die Gäste unterhielten sich noch angeregt, ich wollte sie nicht rauswerfen. Also bat ich sie, sich mit Getränken und Speisen selbst zu bedienen und ging ins Bett (allerdings war es da weit nach Mitternacht).