Pia Ziefle, Suna
Sonntag, 11. März 2012 um 9:28Pia Ziefle kenne ich aus dem Internet, als Blogautorin und als Kommentatorin in meinem Blog. So wusste ich schon lange, dass Abstammung aus verschiedenen Kulturen sie beschäftigt. Jetzt ist aus dieser Beschäftigung ein Roman geworden, der wohl das Dichteste, Kräftigste und Kunstfertigste ist, was ich seit Langem an deutscher Literatur gelesen habe.
Westliche Literatur, die aus einer Geschichte von Migration und Mischung verschiedener Historien und Kulturen entsteht, kenne ich aus Großbritannien: Dort hat postcolonial literature seit Jahrzehnten eine auch literaturwissenschaftlich erfasste eigene Tradition. 1 Das Pendant in Deutschland beginnt sich gerade erst zu bilden, ich nennen es testweise Einwandererliteratur. (Ist eine Germanistin im Raum, die mir den Stand der Forschung berichten kann und ob es vielleicht schon einen üblichen Terminus gibt?) Und Pia Ziefles Suna beweist aufs Großartigste, wie groß die literarische Lücke ist, die durch dieses Genre gefüllt werden muss.
Die deutsche Gesellschaft und vor allem die Politik haben sich viele Jahrzehnte lang dem Umstand verweigert, dass Deutschland ein Einwanderungsland war und ist. Die Konsequenzen dieser Verweigerung baden wir gerade aus und werden es noch lange tun. Die literarische Verarbeitung dieser gesellschaftlichen Wirklichkeit ist sicher nicht der schlechteste Weg, die Komplexität der deutschen Einwanderungsgeschichte sichtbar zu machen.
Suna tut das auf ganz individuelle Art. Die Hauptperson und Erzählstimme, Luisa, erzählt ihre höchst besondere Geschichte. Sie ist einerseits nicht denkbar ohne die Ereignisse im Nachkriegsdeutschland, andererseits aber überhaupt nicht repräsentativ für eine Generation oder auch nur beispielhaft für eine Gruppe von Menschen – und macht dadurch die Vielfalt von Auswirkungen erlebbar. In den sieben Nächten vor ihrer Reise in den Heimatort ihres leiblichen türkischen Vaters erzählt Luisa ihrer kleinen Tochter die Geschichte ihrer Vorfahren, einschließlich ihrer selbst. Luisa ist eine gequälte Seele, die nicht nur die eigenen Narben einer Aufgabe durch die leiblichen Mutter und der Zerrissenheit zwischen verschiedenen Familien trägt, sondern auch die Last ihrer Vorfahren: Der jugoslawischen Seite mit Armut und Existenzkampf bis hin zum Bürgerkrieg. Der türkischen mit Entwurzelung, Enttäuschungen und Abfinden mit Unausweichlichem. Der deutschen Adoptivfamilie, gelähmt vom Trauma des Zweiten Weltkriegs, den Gräueln und der Schuld.
Mir wurde überraschend klar, wie eng deutsche Kriegserlebnisse und Vertreibung mit der Gastarbeiterzeit verwoben sind. Dabei hätte mich das eigentlich nicht wundern sollen, denn mein spanischer Gastarbeitervater hat die 1945 geborene Tochter einer polnischen Zwangsarbeiterin geheiratet, sein bester Freund, ebenfalls Gastarbeiter aus Spanien, eine Vertriebenentochter aus Schlesien. Dennoch ist mir erst durch Suna bewusst geworden, dass es keine Generation dazwischen gab, dass die Einwanderer der 60er und 70er Jahre in Deutschland auf Menschen trafen, die durchwegs vom Krieg traumatisiert waren. (Dabei hatte mir mein Vater doch noch erzählt, wie seine ersten deutschen Kollegen in der Nürnberger Fabrik ihm den Tipp gaben, sich gegen die Kälte mit Zeitungswickeln unter der Hose zu wappnen – das hatten sie im Krieg in Russland gelernt.)
Die Erinnerungen der Erzählerin in Suna sind dicht und reich. Kapitelweise und darin abschnittsweise wechselt die Szene, wechselt die Zeit. Verschiedene chronologische Erzählstränge greifen die Geschichten von deutschen Adoptiveltern, von jugoslawischer Mutter auf und vom türkischen Vater. Dazu kommt Luisas Geschichte ab dem Moment eigener Erinnerungen – je älter und bewusster Luisa wird, desto größeren Raum nimmt ihr Leben in der Erzählung ein. Am Ende des Romans haben alle Erzählstränge zueinander gefunden und verknüpfen sich. Die große Begegnung aber bleibt ausgespart, wir bekommen glücklicherweise keine Erlösung oder Heilung geliefert.
Die sprachlichen Mittel wechseln dabei ebenso reich je nach Zeit und Szene, setzen den Tonfall und die Stimmung. Meist wird sehr mündlich und leicht erzählt, doch es scheinen Märchenwendungen auf (der Rahmen der sieben Nächte lässt ohnehin Sheherazade anklingen), andere Passagen bestehen aus innerem Monolog und fast freier Assoziation.
Ich bin mir nicht sicher, ob der Klappentext die richtigen Leser anspricht: „Was alles aus Liebe geschieht – eine deutsch-türkisch-jugoslawische Familiengeschichte“ – der Roman ist so groß und wichtig, dass er dringend in die Feuilletons der großen Tageszeitungen gehört (Herr Seibt?).
Meine Lektüre hatte auch eine sehr persönliche Seite. Zum einen kenne ich mit meiner spanisch-polnisch-deutschen Herkunft die Arroganz des multikulturellen Hintergrunds: Mich mit keinem dieser Hintergründe zu identifizieren, mich lediglich bei allen Kulturen und Historien zu bedienen, immer schön auf Distanz. Zum anderen erlebe ich als wahrgenommene Halbspanierin immer wieder die Vereinnahmungsversuche von Spaniern: Du bist doch eine von uns. Da beginnen allerdings schon die großen Unterschiede. Ich wehre mich gegen jede Vereinnahmung durch angebliche Wurzeln, schon gleich zweimal, wenn sie an Menschen hängen. Die Geschichte meines Vater, die meiner Mutter finde ich sehr spannend und interessant, ein wenig auch in deren Familien hinein – aber die dazugehörigen Menschen haben für mich keine Anziehungskraft qua gemeinsamem Genpool. Bislang habe ich halt außer dieser genetischen Nähe keine anderen Gemeinsamkeiten entdeckt und interessiere mich nicht für sie.
Ein weiteres Unverständnis gegenüber der Romanfigur resultiert sehr wahrscheinlich aus dem kompletten Fehlen meines Fortpflanzungsdrangs. Das Ergebnis ist dieser Gedankengang: Die Hauptfigur des Romans, Luisa, hadert mit der Last des Lebenmüssens, mit ihrem Geworfensein in die Existenz, sie spürt aufs Schmerzlichste, wie die Leiden ihrer Vorfahren an ihr zerren und ihre Seele vereinnahmen, berichtet von der Kette des Leids, das immer neues Leid hervorbringt. Und dann tut sie dasselbe weiteren Menschen an: Sie erzeugt eigene Kinder. Aus meiner schrägen Perspektive wirkt das wie Rache: Da, nun musst du auch leben, und auf die Familiengeschichte, die mich zerreißt, lege ich zusätzlich mein eigenes Leiden als Erblast. Denn während Luisa in einer Zeit gezeugt wurde, als mangels einfach zu erhaltender Empfängnisverhütung Sex fast automatisch neue Menschen bedeutete, steckt bei ihr Absicht hinter dem Menschenmachen. Auf mich wirkt das wie eine gezielte Gemeinheit.
- Beispiele reichen von Doris Lessing über die Bücher von Salman Rushdie bis zu Andrea Levy, Small Island. [↩]
9 Kommentare zu „Pia Ziefle, Suna“
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11. März 2012 um 11:06
Als Germanistin muss ich sagen: Ich fürchte, das Interesse von Germanisten an der Gegenwartsliteratur ist nicht besonders ausgeprägt. Zumindest in Göttingen gibt es kaum Forscher, die einen Interessensschwerpunkt in neuester Literatur haben. Die wird von den meistern Forschern eher ignoriert, da es ja auch keinen Kanon dieser Literatur gibt. Entsprechend gibt es noch weniger Wissenschaftler die sich mit Einwanderungsliteratur beschäftigen. Wenn doch, beschäftigen sich die Forscher mit einzelnen bestimmten Autoren. Eine kurze Opacsuche Migration+Literatur führt auch nur zu mageren 16 Titeln. Ich würde allerdings meinen, dass der Begriff wohl eher Migrationsliteratur heissen würde.
11. März 2012 um 11:43
Vielen Dank, Lisseuse! Über den Begriff Migration / Einwanderung habe ich auch letzthin mit einer Historikerin diskutiert, die mir erklärte, dass die Einwanderung nach Deutschland in ihrem Fachgebiet “Migration” genannt würde, da ja viele nicht in Deutschland geblieben seien.
11. März 2012 um 13:10
als DaFlerin würde ich “migrationsliteratur” sagen. unter diesem begriff gibt es zumindest im daf-bereich auch durchaus aktuellere forschung, wenn ich mich nicht sehr vertue. allerdings kenne ich mich auf dem gebiet nicht ausreichend aus, um hier etwas zusammenzufassen oder empfehlungen zu geben.
11. März 2012 um 14:18
In Winterhuder Bunchhandlungen leider noch nicht eingetroffen :-(
Aber, was ich sagen wollte: Wunderschöne Bettwäsche!
11. März 2012 um 19:03
… zu ihrem letzten Absatz:
Für mich sind Kinder Hoffnung, Glück, Zuversicht.
Und auch wenn das Leben manchmal nur ein lebenmüssen ist,
es ist immer eine Aufgabe. Diese Chance kriegen wir nur einmal.
23. März 2012 um 21:31
inzwischen habe ich ein wenig gegraben und bin auf “postmigrantisches Theater” (z.B. in Berlin, Ballhaus Naunynstraße) gestoßen.
Ganz genau trifft es auf Suna vielleicht nicht zu, postmigrantische Literatur zu sagen, weil ich in der Person der Autorin ja nur irgendwie genetisch zur Migrantengruppe gehöre (das Aufwachsen im vollen Bade gehört wohl dazu), aber alleine diese kruden Überlegungen zeigen ja schon, wie bescheuert und gordisch sich Identitätsfragen stellen können.
24. März 2012 um 7:33
Ich habe im Hinterkopf die postcolonial literature, frauziefle, und die ist über Zeit und Themen definiert, kaum über Autor und Gene. Doris Lessings Golden Notebook spielt in einem damaligen Kolonialland, Andrea Levys Small Island stellt Einwanderer aus der Karibik in dem Mittelpunkt.
Das ist in der anglophonen Literatur einfacher, da die Kolonialzeit halt wirklich vorbei ist, im Gegensatz dazu die Migrationszeit in Deutschland keineswegs. Deshalb funktioniert “Migrationsliteratur” in meinen Augen ganz gut.
Literatur nach Autor / Autorin zu strukturieren, behagt mir ohnehin nicht: Was zählt, ist das Werk. (Weshalb es paradoxerweise eine gute Idee sein kann, sich in lang vergangenen Jahrhunderten nach Autorinnen umzusehen: Der zeitgeschichtliche Hintergrund erhöht die Wahrscheinlichkeit, dass ihr Werk wegen weiblicher Autorenschaft übersehen wurde und interessante Bücher unbeachtet blieben.)
24. März 2012 um 20:46
Das mag ein Unterschied sein: die Protagonisten hiesiger kultureller Auseinandersetzung mit Migration sind allesamt selbst Migranten(-kinder/-enkel) oder wenigstens angeheiratet (oder ich suche an der falschen Stelle, was ich dann einräumen müsste).
Migration einfach so als Hintergrund, als Spielfeld für eine Geschichte zu nehmen, weil Schlüsselszenen darin vorkommen, mit denen man spielen könnte, (z.B. Dampfschiffe, die ankommen oder ablegen…) – es ist, als wären diese Motive noch nicht freigelebt.
29. Dezember 2013 um 23:07
les ich jetzt, danke