Blitzliebe
Freitag, 5. Mai 2006 um 9:41Müde öffne ich gleich das erste ICE-Abteil, in dem ich freien Platz sehe: „Hallo. Darf ich mich zu Ihnen setzen?“ Die beiden Passagiere nicken freundlich und machen Grußgeräusche: ein Mann mittleren Alters am Fenster in Fahrtrichtung, eine junge Frau am Gang gegen Fahrtrichtung. Angenehme, entspannte Mitfahrer. In dieser Atmosphäre und vor diesem glühenden Sonnenuntergang fällt das halbe Gewicht des Tages ab, das mir auf die Schultern drückt.
Ich lasse mich neben die Frau auf dem Mittelsitz nieder und taste nach einem Hebel, mit dem ich die Rückenlehne gerade stellen kann – vergeblich. Der Mann sieht auf und bietet durch ein Lächeln Hilfe an. Auch die Frau blickt auf und hilft suchen. Gemeinsam entdecken wir den Hebel, der wie bei einem Autosessel unter der Sitzfläche liegt; dieses System kannte ich von Bahnfahrten noch nicht.
Als der Mann das Abteil verlässt, wohl Richtung Klo, bittet er: „Passen Sie auf meine Brieftasche auf?“ Er ist kaum draußen, als ich der Frau neben mir zuraune: „Halbe Halbe?“ – „Nur, wenn sich’s lohnt.“ Wir grinsen uns an.
Der Mann kommt zurück, setzt sich. Er bemerkt, wie die Frau neben mir ihre Strickjacke anzieht, bietet an: „Wir können gerne die Heizung ein wenig höher stellen.“ Sie lächelt, lehnt aber ab.
Wir fahren in München ein, die Frau ist samt Gepäck schon zur Zugtür gegangen. Beim Aufstehen weist mich der Mann darauf hin, dass noch ein schwarzer Mantel neben mir hängt. Die junge Frau hat ihn wohl vergessen, ich bringe ihn ihr. Sie dankt mir, schenkt mir noch ein Lächeln.
Wir haben kaum mehr als eine halbe Stunde miteinander verbracht, wir drei. Doch ich habe mich selten so sehr als Teil einer liebevoll fürsorglichen Gemeinschaft gefühlt wie in diesen Minuten.
die Kaltmamsell3 Kommentare zu „Blitzliebe“
Sie möchten gerne einen Kommentar hinterlassen, scheuen aber die Mühe einer Formulierung? Dann nutzen Sie doch den KOMMENTAROMAT! Ein Klick auf einen der Buttons unten trägt automatisch die gewählte Reaktion in das Kommentarfeld ein, Sternchen darüber und darunter kennzeichnen den Text als KOMMENTAROMAT-generiert. Sie müssen nur noch die Pflichtfelder "Name" und "E-Mail" ausfüllen und den Kommentar abschicken.
5. Mai 2006 um 10:56
Manchmal gibt es das wirklich.
5. Mai 2006 um 11:27
Erlebt man manchmal sogar an den erstaunlichsten Stellen – neulich fragte ich eine wachestehende Bereitschaftspolizistin nach dem Weg zu einem Amt, und sie erklärte mir nicht nur lächelnd (!) den Weg mitsamt den Öffnungszeiten, sondern empfahl mir auch den nächsten Tag, um dort hinzufahren, da an diesem Tag gerade Verkehrschaos in den Zufahrtsstraßen herrschte. Ich brauchte Tage, um mich von diesem Schock zu erholen.
5. Mai 2006 um 12:06
Sehr schön geschrieben, das, Frau Kaltmamsell.
Solche Begegnungen machen Zugfahrten immer ein bisschen besonders. Ich habe diesbezüglich auch schon die eine oder andere nette Erfahrung gemacht.
Und, hätte sich das Teilen der Beute gelohnt? Oder haben Sie dann doch nicht nachgeschaut? ;-) (Diese Stelle in Ihrem Post erinnerte mich an “Emil und die Detektive”.)