Katherine Boo, Behind the Beautiful Forevers

Freitag, 1. Juni 2012 um 18:53

Sie kennen diese Vorwörter, die Sie sich bald wünschen, nicht gelesen zu haben, weil Sie Ihre anschließende Lektüre des Haupttextes so stark färbten? Und die als Nachwörter viel nützlicher gewesen wären? Zum ersten Mal geht es mir umgekehrt: Teile des Nachworts, das die Autorin an ihr Buch Behind the Beautiful Forevers anschließt, wären besser ein Vorwort gewesen, eine Einführung.

Ohne diese Einführung schwamm ich nämlich ein paar Dutzend Seiten lang, in welcher Textsorte ich mich wohl gerade befand. Ich war des verehrten Salman Rushdies Empfehlung auf Twitter gefolgt, als ich Boos Buch bestellte (die leidenschaftlichste Empfehlung, die ich je von Rushdie gesehen hatte):

Ich wusste, dass ich non-fiction vor mir hatte, doch die Handlung begann in medias res wie ein spannender Roman: Ein junger Mann flieht vor Verfolgung durch die Polizei durch einen nächtlichen Slum. Danach wird die Handlung ruhiger, wir erfahren die Hintergründe, die zu dieser Situation führten – ohne dass auf Spannung oder Effekte gezielt wird.

Im Mittelpunkt steht der Slum Annawadi, der sich hinter dem immer weiter modernisierten Flughafen von Mumbai erstreckt, genauer: Hinter einer Betonmauer am Mumbaier Flughafen, auf der als Werbung auf Kacheln abwechselnd die Wörter beautiful und forever stehen – daher der Titel des Buches. Erst aus dem Nachwort geht hervor, dass Boo dort dreieinhalb Jahre ein und aus ging, um den Slum und seine Bewohner genau kennenzulernen, immer begleitet von Übersetzerinnen. Das Ergebnis ist eine sehr genaue Beschreibung der dortigen Lebensumstände und ihrer Mechanismen. Ebenfalls aus dem Nachwort erfuhr ich, dass die Journalistin Boo sich seit langer Zeit für benachteiligte Bevölkerungsgruppen interessiert und dabei vor allem für die Wege, mit denen Angehörige dieser Gruppen versuchen, dieser Benachteiligung zu entkommen.

Die Hauptfiguren der beschriebenen Entwicklungen sind zum einen der jugendliche Müllhändler Abdul, ältester Sohn der elfköpfigen muslimischen Familie Husain. Er ist fleißig, ehrgeizig und besonnen, setzt alles daran, den langsamen Aufstieg seiner Familie fortzusetzen. Zum anderen sind da die Kindergärtnerin mittleren Alters Asha und ihre Familie. Asha engagiert sich politisch, um so schnell wie möglich slumlord zu werden, außerdem soll ihre jugendliche Tochter Manju als erste Slumbewohnerin einen College-Abschluss machen.

Nichts an Behind the Beautiful Forevers ist reißerisch oder zynisch, auch wenn viele Details der Lebensumstände emotional berühren. Die Ausweglosigkeit des Systems wird klar, das in jedem Aspekt auf Korruption basiert, auch die ungewollten Folgen westlicher Hilfsprojekte werden gründlich und in all ihrer Komplexität beschrieben. Und doch prangert Boo nicht an, sondern konstatiert lediglich. Das aber tief und sorgfältig. Sie eröffnet dadurch die Chance, das Leben in diesem Slum zu verstehen, in Höhen und Tiefen und in seiner ganzen Vielfalt. Denn selbstverständlich gibt es auch hier Starke und Schwache, Fleißige und Faule, Ehrgeizige und Beharrende, Verschlagene und Aufrechte, Verzweifelte und Ausgeglichene. Boo gibt ihnen mit ihrem Buch ihre einzigartigen Gesichter, zeigt sie als Individuen mit individueller Würde, richtet ein Mikroskop auf die sonst anonyme Masse „Slumbewohner“. Lösungen bietet sie keine an – auch das macht den Tonfall des Buches besonders.

Dicke Leseempfehlung – hoffentlich wird das Buch auch ins Deutsche übersetzt.

Eine empfehlenswerte Besprechung bietet die New York Times.

Ebenfalls gut, wenn auch etwas reißerisch ist die Besprechung in der Washington Post.

die Kaltmamsell

5 Kommentare zu „Katherine Boo, Behind the Beautiful Forevers

  1. christiane meint:

    Danke für den Tipp! Vielleicht interessiert Sie dann auch “India Becoming”, ein Buch von Akash Kapur, in dem der Strukturwandel Indiens anhand einzelner Personen beschrieben wird (auch non fiction). Ich fand es sehr interessant und durch die ungekünstelten Dialoge auch sehr berührend. Ich war 1986 etwas länger in Indien und fragte mich damals schon, wie der Wandel besonders die ländlichen Gegenden treffen würde. (Recht verheerend; aber es gibt auch Positives.) Große Literatur ist es nicht, aber auf jeden Fall sehr interessant.

  2. eeek meint:

    Amazon kündigt die deutsche Ausgabe unter dem Titel “Annawadi oder der Traum von einem anderen Leben” für Oktober 2012 an.

  3. ebyp meint:

    lebte von 72 bis 80 in bombay, unter sämtlichen umständen , total poor or werry rich..freue mich von einem buch zu hören welches mein interessen gebiet betrifft.. meiner seits sehr zu empfehlen wäre ; Gregory Dave Robert´s,.. Shantaram ..oder aber , Vikram Chandra …der Pate von Bomby …regards and kep on reading …P.J

  4. ebyp meint:

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    Made my day

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  5. Julia meint:

    großartige empfehlung. ich bin in mumbai nur zwischengelandet im januar, war aber tief berührt davon, vom rollfeld aus auf die slums zu schauen. ein anblick, der einen so schnell nicht los lässt. das buch klingt extrem interessant.

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