Alexandra Tobor, Sitzen vier Polen im Auto

Montag, 25. Juni 2012 um 8:14

Für den Titel des Buches (im Interview mit Kotzendes Einhorn1 verrät die Autorin, dass sie nichts damit zu tun hatte) gehört der Ullstein-Verlag ordentlich durchgeschüttelt. Da war er schon schlau genug zu erkennen, dass in Alexandra Tobor, die ich seit Jahren bei Twitter als silenttiffy lese, ein wundervolles Buch steckt – und dann das. Nein, meine Damen und Herren, zwischen den Pappdeckeln verbirgt sich keineswegs, was der Titel androht. Keine Schenkelklopfer, keine Stereotypen, sondern ein Stück menschliche europäische Geschichte. (Auf der Rückseite des Buches steht groß „Goodbye, Polen!“ – das wäre ein deutlich weniger peinlicher Titel gewesen.)

Schon nach der Lektüre von Pia Ziefles Suna war mir aufgefallen, dass es höchste Zeit für deutsche Migrationsliteratur ist. Auch Alexandra Tobor füllt diese Lücke ein wenig, aber ganz anders als Suna. Zwar lädt auch ihre sehr personale Perspektive mehr zum Miterleben einer Migrationsgeschichte ein als zum Lernen darüber. Doch der kleinere zeitliche Ausschnitt, die geradlinige Erzählung, die Sicht des Kindes Ola machen sie leicht zugänglich. Im Nachwort erklärt Tobor, dass das Buch keine Autobigrafie ist, sondern die Erlebnisse vieler Menschen kombiniert – das macht die Geschichte repräsentativ für viele Menschen, während Suna von der Einzigartigkeit der Geschichte geprägt ist.

Ich selbst habe schon wieder ein bisschen über meine eigene Familiengeschichte gelernt. Während in Suna die Gastarbeitervergangenheit meines spanischen Vaters durchklang, hörte ich durch Sitzen vier Polen im Auto Echos der Geschichte meiner polnischen Mutterfamilie. Zwar wurde meine polnische Großmutter bereits Anfang der 1940er als Zwangsarbeiterin nach Deutschland verschleppt und kehrte nie wieder nach Polen zurück (komplizierte Geschichte – was Psychologisches), doch ich erkannte viele ihrer Werte und Ideale in der beschriebenen polnischen Familie der 1980er wieder. (Und meiner Mutter war als Schulkind selbstverständlich noch „Polackenzipfe“ nachgerufen worden. Während viel später ein Schulfreund meines Bruders aus unserer speziellen Familienmischung liebevoll „Spanacken“ machte.)

In Sitzen vier Polen im Auto erleben wir Alexandra, Ola genannt, als kleines und als Schulkind in ihrem polnischen Heimatdorf. Wie sie sich nach den bunten Spielzeugen und Kleidungsstücken aus dem Westen verzehrt, wie die industriell hergestellten Lebensmittel von dort einen solchen Zauber haben, dass selbst leere Verpackungen als Tauschwährung taugen.
Da ich 1987 zehn Tage in Danzig auf Chorreise war, untergebracht mit zwei weiteren Sopränern in einer Privatfamilie im Plattenbau, hatte ich viele innere Bilder zu ihren Beschreibungen. Unter anderem zu der Verherrlichung westlicher Körperpflegeprodukte: Wir waren von den Organisatoren der Reise gebeten worden, so viel wie möglich von diesen Waren mitzubringen. Wie war es mir peinlich gewesen, von meinem mageren Einkommen nur billigstes Haargel, Großpackungen Zahnpasta und Shampoo vom Discounter als Gastgeschenke überreichen zu können – und wie verlegen machte mich der enthusiastische Dank meiner Gastfamilie dafür.
Im Jahr darauf besuchte uns der damals gastgebende Danziger Knabenchor in Bayern. Ich organisierte das Freizeitprogramm, brachte einige Buben bei meinen Eltern und meiner Oma unter. Und ich musste mit all den jungen Burschen fertigwerden, die nach einem Besuch im Provinzkaufhaus mit leerem Blick fast zusammenbrachen. Oder den Orangensaft zum Frühstück horteten, um ihn ihren Eltern daheim mitzubringen. Nein, ich konnte damals kein bisschen darüber lachen, ich kann es auch heute nicht. Das alles nahm mir einige Unbefangenheit im Leben mit dem hiesigen Überfluss.

Und so konnte ich auch über Alexandras Sehnsüchte und Nöte nicht lachen; ich wusste einfach zu genau, wie schmerzvoll sie waren. Ihr Buch machte mir zudem die vielen Konsequenzen nachvollziehbar, die diese Haltung bei der Einwanderung nach Deutschland hatte. Hier waren in den 80ern zerrissene Jeans schick, wo die polnischen Einwanderer gewohnt waren, Wohlstand durch gepflegte Kleidung zu zeigen – und damit fing das Lernen der Migranten erst an. Tobor nutzt geschickt die Perspektiven ihrer Hauptpersonen, um das Aufeinanderprallen der Kulturen zu beschreiben: Hauptsächlich ist das die Wahrnehmung ihres achtjährigen Alter Ego Ola, doch einige Lücken füllt die Erwachsenensicht aus den Augen ihrer Eltern oder der vulgären Nachbarn („Lux!“), auf die die Familie schon bei der Ausreise aus Polen getroffen war. Über allem thront göttinnengleich der Blick der weisen und durchsetzungsstarken Oma: Sie hatte sich schon weder durch die Sterbensanfälle der kleinen Ola noch durch die sozialistische Propagandabürokratie täuschen lassen, sie fällt auch nicht auf die Großkotzigkeit und die Glitzerwelt des Westens herein. Und in ihrer Mischung aus Pochen auf gutes Benehmen und dröhnendem Auftreten hat sie mich durchaus an meine polnische Oma erinnert (die nie das Haus verlassen hätte, ohne sich sorgfältig herzurichten, unter ihrem feinen Hut aber der verhassten polnischen Nachbarin – alle polnischen Nachbarinnen waren ihr verhasst – Unflätigkeiten zurief).

Der Tonfall von Sitzen vier Polen im Auto ist durchaus liebevoll heiter, aber das überlässt Alexandra Tobor den Inhalten und legt nicht auch noch sprachlich drauf. Eine unbedingte Leseempfehlung.

Wer mal reinlesen möchte in das Buch, kann es in diesem Probekapitel.

Und gestern veröffentlichte die Autorin auch noch das Foto eines Gegenstands aus dem Buch, den ich für hoffentlich erfunden gehalten hatte.

Übrigens kommt in Sitzen vier Polen im Auto eine polnische Negerpuppe vor, die genau so genannt wird. In ihrem Blog erklärt Tobor, warum kein anderes Wort für sie in Frage kam. Eine kluge Bereicherung der Debatte, die sich seit Wochen durch mein Internet zieht.

  1. Ich hoffe, die Blogphase der bescheuerten Pseudonyme geht niemals zu Ende. gez. die Kaltmamsell []
die Kaltmamsell

24 Kommentare zu „Alexandra Tobor, Sitzen vier Polen im Auto

  1. Kai meint:

    Zur Fliege: also das ist leider nicht erfunden. Ich erinnere mich, in den 80ern im Elternhaus einen ähnlichen Aschenbecher gehabt zu haben. Dabei hat bei uns niemand jemals geraucht. :)

    Als Nicht-Migrant kommt mir meine Kindheit manchmal geradezu langweilig vor (im Odenwald passiert(e) nicht wirklich viel). Ich bin Abkömmling eines Ost-Flüchtlings, zählt das auch?

  2. Sus meint:

    Auch ich muß es leider sage: diese Fliege gibt/gab es wirklich! (Obwohl ich sie als Kind ganz witzig fand.)

    Liebe Grüße, Sus

  3. iv meint:

    Danke für die Leseempfehlung. Ich hätte das Buch vermutlich niemals in die Hand genommen, weil es so Jan-Weiler-mäßig aussieht.
    Sprechen Sie eigentlich auch Polnisch?

  4. lihabiboun meint:

    DANKE, die empfehlung kommt perfekt richtig. @iv:genau, wäre mir auch so gegangen!

  5. Ladyjane meint:

    Die Fliege stand im Raucherhaushalt meiner Großeltern herum, allerdings doch unbenutzt + deshalb nicht stinkend.

  6. kid37 meint:

    Ich besitze in meinem kleinen Hausmuseum der Unglaublichkeiten eine solche Fliege (fünfbeinig) und dazu einen Krebs gleicher Machart.

  7. silenttiffy meint:

    Danke für die wunderbare Besprechung. :°)
    Es freut mich jedes Mal, persönliche Geschichten zu lesen, das ist Feedback, wie ich es mir wünsche.

  8. die Kaltmamsell meint:

    Ach Kai, gute Geschichten passieren Menschen, die sie erzählen können. Ich bin sicher, Sie gehören dazu.

    Ich bin erschüttert, Sus, Ladyjane, kid37: Diese Internetpeoples sind ja noch verworfener, als Ihnen ohnehin unterstellt wird.

    Polnisch spreche ich leider nicht, iv. Meine Eltern hatten Sorge, mich mit einer dritten Sprache neben Deutsch und Spanisch zu überfordern (pah!). Dass meine Oma Niederträchtiges sagte, bemerkte ich deshalb am erschrocken indignierten Gesicht meiner Mutter. Und dass “kurwa” etwas Schlimmes sein musste, erschloss ich schnell.

    Ich hoffe, lihabiboun, der Verlag bekommt unseren Zorn mit – und macht den Fehler wenigstens nicht nochmal.

    Ich habe zu danken, silenttiffy, für diese bereichernde Lektüre!

  9. karine meint:

    ich liebe ihre buchbesprechungen und habe mir schon so manchen lesetip geholt, zuletzt Suna, danke

  10. frauziefle meint:

    Ich kann Erinnerungen an eine Chorreise 1988 nach Potsdam beisteuern, mit ebensolchen Situationen, aber auch mit unserem Neid darauf, dass man in der DDR für 80 Mark ein ganzes Haus mieten konnte. Ein ganzes!
    Und Stationen auf dem Land, Mittagessen in Pfarrhäusern (wir waren eine evangelische Schule), bestes Geschirr, Salzkartoffeln und Braten, und Schüsseln neben dem Tisch, weil die alten Gutshäuser undichte Dächer hatten und auch die Wohnstuben nicht regensicher waren.
    Es war eine Reise wie in eine andere Welt gewesen.

  11. philine meint:

    Diese Deckeldosen stammen ursprünglich aus der Jugendstilzeit und waren aus edlen Materialien gemacht, u.a. auch aus Glas von René Lalique und dienten der Aufbewahrung von u.a. kandierten Veilchen, Tabletten und v.m. bzw. auch nur als Tischschmuck.

  12. die Kaltmamsell meint:

    Eben fällt mir ein, dass ich das Abschiedsgeschenk meiner danziger Gastfamilie ja bis heute verwende:

    In diesem Ledertäschchen transportiere ich seit 25 Jahren auf Reisen meine Schmink-Utensilien – man sieht es dem Leder inzwischen ziemlich an.

  13. Indica meint:

    Oh nein, die Fliege! Irgendwo in einem der angeschlossenen familiären Haushalte gab es die bei uns auch – Oma Oege? Oma Stadt? Eltern? Eine Tante? Ja, die lebten, die Messingfliegen.

  14. Micha meint:

    Deine Buch-Besprechung hat mir heute ein wunderbares Gespräch eingebracht: über die lange Tradition der Gastarbeiter in Deutschland, über das Elend des 2.WKs (und Krieg im Allgemeine), die traumatisierten Männer die ihn überlebt haben, vergewaltigte Frauen, das unglaubliche Leid dieser Zeit, das dann als Trauma durch die geschädigten Menschen in die Familien einzog, das Verdrängen dieses Elends, Familienaufstellungen, Familienkarma, das sich fortsetzt…
    und am Ende dieses schwierigen Themas haben wir gelacht über dieses herzige Wort *Spanaken*
    Danke für deine Anregung und deine Offenheit!

  15. kubelick meint:

    die pflegeproduktbegeisterung kann ich hiermit bestättigen: meine mutter (udssr) bewarte jahrelang ein stück seife, sorgfältig verpackt (wie im buch wohl vermerkt – eine vom produkt völlig losgelöste verpackungsdesignbegeisterung) der marke camay, welche ich ab und an beschnuppern dürfte, mit danach auftretender entzückung und bezauberung. obschon in der udssr an parfüms oder seifen, etc. nicht fehlte (“Moskva”, auch zur innerlichen anwendung), war der duft dieser seife jenseitig. nach unserer auswanderung in die usa blieben wir der marke treu.

    auch die sache mit dem o-saft ist war. zwar lernte ich ihn erst in new york kennen, konnte aber nicht genug davon haben – gallonweise schüttete ich das zeug rein.

    zwar verlief meine gewöhnung oder das vergessen rasant, hat meine oma, auch nach jahrzehnten im westen, die politische witze über soviet union nur pflüsternd erzählen.

    ich hoffe jedoch, dass das buch nicht in ein verklärerisch/romantischen ton verfällt – zwar ist die kindheit stets sehnsüchtig süss, das leben dort war alles anderes als angenehm.

  16. Modeste meint:

    Danke für den Tipp – wegen des Einbands hätte ich das Buch ansonsten niemals gekauft.

  17. die Kaltmamsell meint:

    Keine Angst, kubelick, vor irgendeiner Süßigkeit – ich musste lachen bei Ihrem Ansinnen. Wenn Sie siltenttiffy auf Twitter kennten, fürchteten Sie sich eher vor beißendem Sarkasmus im Ton. Doch auch der bleibt aus.

  18. Sebastian meint:

    Das war unser Haushalt, der mit der stinkenden Fliege. Wir sind verwandt, Indica?

  19. Sewwi meint:

    Bei uns steht -obwohl Nichtraucher- auch so eine Fliege als Aschenbecker auf unserer Terrasse.

    Jeder, aber auch jeder, der zum ersten Mal bei uns ist, spricht uns darauf an.

    Jetzt hol ich mir ganz schnell das Buch – dann habe ich auch eine Geschichte dazu.

    Danke für die Anregung!

  20. Sewwi meint:

    Hurra! Lehmkuhl hat gleich 5 Exemplare vorrätig – ich radle jetzt gleich hin und hol mir eines!

  21. kid37 meint:

    Hier noch der Fotobeweis, sonst glaubt es ja wieder keiner.

    Cineasten können einfach auf Mystery Train von Jim Jarmusch verweisen.

  22. Indica meint:

    Sebastian, ich werde recherchieren, ob wir hessische Verwandtschaft haben! (Sind Sie sonst mit dem Sauerland verbandelt?)

  23. antje meint:

    Liebe Frau Kaltmamsell,
    kennen Sie “Tauben fliegen auf” – sozusagen das (deutsch)schweizer Pendant an (im)Migrationsgeschichte.
    MlG
    Antje

  24. chick meint:

    Unter dem Titel hätte ich angestrengt Witziges im Stil von Tommy Jaud vermutet.

    Herzlichen Dank für den Tip.

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