Azar Nafisi, Reading Lolita in Tehran
Mittwoch, 21. Mai 2008 um 8:01“Living in the Islamic Republic is like having sex with a man you loathe” beginnt Kapitel 22 von Azar Nafisis umwerfendem Buch Reading Lolita in Tehran. Im darauffolgenden Absatz erklärt sie diesen Vergleich:
Well, it’s like this: if you’re forced into having sex with someone you dislike, you make your mind blank – you pretend to be somewhere else, you tend to forget your body, you hate your body. That’s what we do over here. We are constantly pretending to be somewhere else – we either plan or dream it.
Das ist nur eine Stelle, von der ich mir sehr sicher bin, dass sie in dem Hörbuch der deutschen Übersetzung nicht vorkommt (ist mir zu anstrengend zu verifizieren). Ich schätze, dass mindestens die Hälfte des Buches für die deutsche Hörbuchfassung gestrichen wurde – man bekommt also ein Listener’s Digest. Nein, das ist definitiv nicht das Buch, nur halt vorgelesen. Ebenso fehlt am Hörbuch der Untertitel “A memoir in books”, aus dem hervorgeht, dass es sich nicht um Fiktion handelt. Ja, das ist wichtig. Oder die Kapitelüberschriften “Lolita”, “Gatsby”, “James”, “Austen”, die den Untertitel berechtigen.
Dabei will ich mich gar nicht in erster Linie über die verlogene Hörbuchfassung beschweren, sondern lieber vom Buch schwärmen. Azar Nafisi ist eine aus Iran stammende Literaturwissenschaftlerin, die nach ihrem Studium in den USA in ihre eben vom Schah befreite Heimat Tehran zurückkehrte, um dort an der Universität zu unterrichten. Das Buch erzählt ihre Jahre dort bis 1997, als sie wieder wegging.
Den Rahmen und roten Faden bildet ein Seminar, das Nafisi in den letzten beiden Jahren bei sich zu Hause gab und für das sie einige besonders literaturwissenschaftlich engagierte Studentinnen ausgewählt hatte. Sie beginnt mit einer Beschreibung der beiden Abschiedsfotos des Kurses – einmal in voller Verschleierung, einmal von den unverschleierten Teilnehmerinnen. Sie beschreibt detailliert jede ihrer Seminaristinnen – und wo mich sonst in Geschichten zu genaue Personenbeschreibungen nerven, haben sie in diesem Fall eine klare Funktion: Nafisi gibt den Frauen damit die Individualität zurück, die der Tschador ihnen nimmt.
An den wöchentlichen Seminartreffen entlang erzählt Azar Nafisi ihre eigene Entwicklung als Dozentin, Bürgerin, Person und die des Iran. Mit den sehr klugen Überlegungen zu den behandelten Romanen sind politische Beobachtungen verwoben, Analysen der erst immer radikaleren Islamisierung, des irak-iranischen Krieges, der ersten Reformen, links und rechts begleitet von Alltag. Dabei verlässt Nafisi nie den leichten und gleichzeitig spannenden Plauderstil, der sie einem direkt gegenüber an den Kaffeehaustisch setzt.
Das Buch, das alle Qualitäten eines hervorragend geschriebenen Romans hat, lebt von dem Kontrast zwischen der Welt der westlichen Romane, die Nafisis Forschungsgebiet darststellen, und dem postrevolutionären Iran / Tehran (ich bleibe mal bei der englischen Schreibweise). Sie hat viel Gespür für die maßlose Komik, die aus der islamischen Diktatur entsteht. Da ist zum Beispiel die Geschichte von der Psychologieprofessorin, die sich der Verschleierung entzieht und sich mit einem eifrigen, dicken Sittenwächter ein Wettrennen quer über den Uni-Campus liefert (noch vor der Zeit, in der die neuen Gesetze mit Gewalt, Folter und Gefängnis durchgesetzt wurden – weshalb ich beim Lesen noch lachen konnte). Oder die wundervolle Seminarstunde während Nafisis Lehrtätigkeit an der Universtität, als sie die Interaktion der Charaktere aus Austens Pride and Prejudice mit einem Tanz der damaligen Zeit vergleicht. Die persischen Studentinnen können sich darunter nichts vorstellen, und so lässt ihre Dozentin sie nach ihren Anweisungen tanzen – elegante englische Tänze vom Anfang des 19. Jahrhunderts, ausgeführt von tief verschleierten Studentinnen in einem Seminarraum der Universität Tehran.
Auch wenn die Geschichten linear vorgeht, sind die verschiedenen Zeitebenen miteinander verflochten; die Tanz-Episode wird zum Beispiel als Erinnerung erzählt – eine der Studentinnen in Nafisis Privatseminar war sich nicht sicher gewesen, ob sie sich mit ihrem fernen Verlobten verstehen würde, und so hatte eine ihrer Kommilitoninnen gemeint, vielleicht sollte sie mit ihm tanzen, um das herauszufinden. Wir erfahren viel über diese sehr verschiedenen Frauen, so, wie Azar Nafisi in den beiden Jahren dieses besonderen Seminars viel über sie erfahren hat. Gleichzeitig entsteht ein sehr lebendiges Bild von Tehran, davon, welch wundervolles Land Iran einmal gewesen sein muss – und es außerhalb des Zugriffs der Machthaber wohl immer noch ist. An vielen Details werden die Auswirkungen einer in Diktatur geendeten Revolution auf unterdrückte Bevölkerungsgruppen geschildert, in diesem Fall vor allem auf Frauen. Und auch wenn die Frauen in diesem Buch es über weite Strecken versuchen – irgendwann hilft ihnen auch das Lachen nicht mehr.
Die englische Buchhandelskette Waterstone’s ist mir unter anderem deshalb sympathisch, weil die Mitarbeiter jeder Filiale ihre eigenen Favoriten präsentieren (mit handschriftlichen Begründungen am Regal). Zudem gibt es Schildchen “life-changing book”. An Reading Lolita in Tehran befestige ich hiermit ein solches.
die Kaltmamsell8 Kommentare zu „Azar Nafisi, Reading Lolita in Tehran“
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21. Mai 2008 um 10:05
Wieder einmal eine sehr gelungene Schwärmerei, der ich mich völlig anschliessen kann.
Es ist ein Unding, wie oft Kundinnen (und Buchhändlerinnen!) nicht erfahren, dass Hörbücher gekürzt sind. Aber offenbar gibt es einfach zu wenige (Kundinnen und Buchhändlerinnen) die sich so richtig darüber beschweren. Die deutsche Originalausgabe dieses Buches von DVA finde ich gut. Die Hörbuchlizenz ging an Eichborn, die TB-Lizenz an Goldmann – das TB ist auch ok.
Angst vor Qualitätsverlust ist übrigens der Grund, weshalb sich manche Verlage entschliessen, alles selber zu machen, wie z.B. Diogenes (auch wenn es sich nicht immer rechnet, weil die Ausgabebereitschaft für Hörbücher unter 100 Euro liegt, aber eine möglichst berühmte, beliebte Stimme erwartet wird). Der neuste Irving “Bis ich dich finde” umfasst 20 CDs und ist klar deklariert gekürzt.
21. Mai 2008 um 10:17
Persönliche Sperrfrist bis Dienstag!
21. Mai 2008 um 11:36
Womit dieses Buch, mit dem ich nach Ihrer ersten, kurzen Rezension schon zu sympathisieren begonnen habe, endgültig auf meiner Leseliste landet.
22. Mai 2008 um 14:01
>>Ebenso fehlt am Hörbuch der Untertitel “A memoir in books”, aus dem hervorgeht,
>>dass es sich nicht um Fiktion handelt. Ja, das ist wichtig.
Nein, ist es nicht. Hingeschrieben ist immer neu erfunden, auch und gerade wenn aus dem Gedaechtnis und der persoenlichen Erfahrung. Demnaechst wird hier noch behauptet, dass Memoir = hoeherer “Wahrheitsgehalt” = besseres Buch. Nein nein nein… Grummel.
22. Mai 2008 um 20:00
Aber, aber, Herr Gonzo – ganz im Gegenteil: Wenn ich herausfinde, dass eine Geschichte autobiografisch ist (z.B. A Short History of Tractors in Ukrainian), bin ich enttäuscht; Schriftstellen braucht dann doch erheblich mehr.
Zu den Passagen, die in der deutschen Hörbuchfassung nicht vorkommen, gehört die gesamte Reflexion über die Unzuverlässigkeit von Erinnerungen, über die absichtlichen Veränderungen von Geschehnissen, über den Einfluss von Lektüre auf das Erleben. Das alles ist wichtig für das Buch.
22. Mai 2008 um 22:50
Bin bei dem Thema leider mittlerweile sehr von der Arbeit im amerikanischen Buchhandel gepraegt und genervt, wo Kunde wie auch Kritik zumeist die obersimple Schiene fahren, dass im “Memoir” (wuerg!) alles echt und wahr sein muss, sonst isses gelogen, und somit Fiction und nicht lesenswert. (Siehe Debatte um James Frey, um nur einen zu nennen.) Im Gegenzug gewinnt Fiction durch autobiographische Elemente noch eine zusaetzliche Qualitaetsebene, die bei “bloss erfunden” nicht vorhanden sein soll. Ist fuer mich alles Unsinn – wer sich erinnert, erfindet, wer erfindet, erinnert sich, und letztlich kommt’s doch nur drauf an, welche schriftstellerischen Qualitaeten das Buch hat.
Ausserdem bin ich gerade immer noch stinkig, weil KINGDOM OF THE CRYSTAL SKULL bei weitem nicht so gut war, wie er haette sein koennen… hat mir den ganzen Tag versaut …
23. Mai 2008 um 14:58
am morgen noch gelesen – am nachmittag zum ersten Mal in der neueröffneten Filiale einer Buchhandelskette in der kleinen Stadt ebenfalls handschriftliche Favoritenbegründungen an den Regalen gesehen…
18. Juli 2008 um 20:10
Gerade ausgelesen. Vielen Dank für die Empfehlung!