Bücher 2015

Donnerstag, 31. Dezember 2015 um 17:26

Mit * versehene Bücher haben mir besonders gut gefallen, ich empfehle sie. Die anderen waren ok, außer ich schimpfe explizit.

1 – Batya Gur, Mirjam Pressler (Übers.), Am Anfang war das Wort

2 – Laura Waco, Good Girl

3 – Alistair Macleod, No great mischief

4 – Cory Doctorow & Jen Wang, In Real Life*
Graphic novel um ein Schulmädchen und ihre Abenteuer als Gamerin im fiktiven Multiplayer Role Game Coarsegold. Sie ist dort Teil einer Mädchengilde, die ein eigenes soziales System bildet, und sie lernt Figuren/Spieler in China kennen, die mit dem Spiel ihren Lebensunterhalt bestreiten – allerdings durch Regelverstöße. Mir gefiel der Zeichenstil sehr, in dem die Computerspielästhetik immer wieder eine Rolle spielte, ich mochte, dass die Protagonistin ein ganz normales dickliches Mädchen ist. Unter den Gamerinnen zeichnen sich unterschiedliche Typen ab, und die Eltern der Hauptfigur spielen auch eine Rolle (ich lernte, dass es heute wohl sowas wie digitalen Stubenarrest gibt: Internetverbot).

5 – Harry Mulisch, Annelen Habers (Übers.), Das Attentat*
Mulischs Werk hat mir eine neue literarische Welt eröffnet, sowohl in Erzählstil als auch Erzählwelt.

6 – Steven Uhly, Königreich der Dämmerung*
Hätte fürchterlich daneben gehen können: Der Weg dreier Familien nach 1945, wie sie dorthin kamen, wohin sie gingen. Doch Uhly macht das großartig, wählt meist die personale Sicht von Opfern und von Tätern, hält sich mit Wertungen fast völlig zurück. Ein besonderer Roman unter anderem, weil er einen zuvor nahezu unerzählten Handlungsstrang über überlebende Juden enthält, die nach dem Horror der KZs wieder in Lagern landeten, nämlich in denen für “displaced persons”.

7 – Nicole Stich, Reisehunger*
Großartige Bilder, attraktive Rezepte – und dazwischen Geschichten über Reisen, auf denen auch mal etwas schief geht.

8 – Granta 130, India. Another Way of Seeing*
Wieder ein Granta, das meine festgefahrenen Bilder auflöste, diesmal die von Indien. Eine Welten öffnende Mischung aus Sachtexten über gesellschaftliche Umbrüche und aus Fiktion, die ich nicht bei indischen Autorinnen und Autoren erwartet hatte.

9 – Fred Vargas, Tobias Scheffel (Übers.), Im Schatten des Palazzo Farnese

10 – Doris Dörrie, Für immer und ewig

11 – Italo Svevo, Barbara Kleiner (Übers.), Ein gelungener Streich

12 – Terry Pratchett, Men at Arms

13 – Wolfgang Herrndorf, Bilder deiner großen Liebe: Ein unvollendeter Roman.

14 – Laurie Lee, Cider with Rosie

15 – James Rebanks, The Shepherd’s Life. A Tale of the Lake District*
Hier ausführlich besprochen.

(16 – Fred Vargas, Julia Schoch (Übers.), Der vierzehnte Stein)
Noch nie habe ich einer Übersetzung so misstraut wie dieser: Es kommen zahlreiche Frankokanadier in dem Roman vor, und die sprechen wohl seltsames Französisch. Aber dass Fred Vargas sie erfundene Wörter und Verbformen sprechen lässt, bezweifle ich – dafür hat Julia Schoch sich in ihrer Übersetzung entschieden. Außerdem habe ich nun wirklich genug von psychopathischen Serienmördern. Wenn, dann will ich künftig Krimis mit banalen Verbrechen, mit den Abgründen ganz normaler Menschen.

17 – Graham Greene, Brighton Rock*
Nach acht Jahren wiedergelesen, sogar noch besser gefunden als damals.

18 – Granta 131, The map is not the territory

19 – Wolfgang Herrndorf, In Plüschgewittern

20 – Horace MacCoy, They shoot horses, don’t they?

21 – Adam Thorpe, Ulverton

(22 – Henry David Thoreau, Walden)
Habe ich nicht bis zum Ende durchgehalten, zu sehr nervte mich das selbstherrliche und unreflektierte Geschwalle von Herrn Thoreau. Sagt wahrscheinlich viel über die USA aus, dass sich die Gesellschaft über dieses Buch fast schon definiert.

23 – Bov Bjerg, Auerhaus*
Hier ausführlich besprochen.

24 – Christoph Schröder, Ich pfeife!*
Für Fußball interessiere ich mich ja ganz ausgesprochen nicht, doch als geschätzten Kollegen hatte ich einen jungen Fußballschiedsrichter kennengelernt: Eine völlig neue und im Gegensatz zu Fußball höchst interessante Welt. Christoph Schröder ist Feuilletonist und seit 27 Jahren Fußballschiedsrichter. Aus seinen Erfahrungen hat er ein hochspannendes Buch gemacht.
Hier ein Auszug daraus.

25 – Vladimir Nabokov, Lolita*
Man kann ja auch mal ein Buch der Weltliteratur empfehlen. Dieses ist auf unzähligen Ebenen ein Meisterwerk. Beim Wiederlesen fiel mir vor allem die erzähltechnische Ebene auf, wie die Erzählstimme uns den Blick vernebelt, in ihre Sicht lockt – bis wir sogar bereit sind, Mitleid mit dem Mann zu haben, der sich immer wieder ganz, ganz mies fühlt und zerfressen von schlechten Gewissen über den Umstand, dass er das Leben eines Kindes zerstört hat.

26 – Granta 132, Possession

27 – E.L. Doctorow, The Book of Daniel*
Doctorow starb vergangenes Jahr – Anstoß, endlich mal etwas von ihm zu lesen. Dieser Roman von 1971 gefiel mir ausgesprochen gut. Hintergrund ist die Verurteilung und Hinrichtung des Ehepaars Rosenberg im USA der 1950er, sie heißen im Buch Lewin. Doch die Geschichte ist technisch kunstfertig aus der Sicht des Sohnes erzählt, in zwei Zeitebenen: Gegenwart der End-60er und Rückblick auf die Kindheit. Und in zwei Erzählebenen, denn diese Daniel-Stimme wechselt zwischen Ich und Er, manchmal sogar im selben Satz. Es wird viel Stimmung und Information aus den 50ern transportiert, und das Rechtssystem der USA kommt ausgesprochen schlecht weg, daneben die menschlichen Folgen der damaligen Kommunistenhatz.

28 – Patricia Cammarata, Sehr gerne, Mama, du Arschbombe*
Die Geschichten kannte ich fast alle aus Patricias Blog – das für mich bis heute kein Muttiblog ist, dafür kenne ich es schon zu lange. Ich las darin vor Jahren, wie sie in der Arbeit irgendwen im Aufzug anschwärmte (und weiß bis heute nicht, ob das der Vater ihrer Kinder ist), wie ein Partner in ihrem Blog auftauchte, der ein Kind hatte, wie sie nach langer Blogpause als Mutter wiederauftauchte und von einer schrecklichen Schwangerschaft berichtete. Schon immer liebte ich den Surrealismus der Geschichten von dasnuf (manche davon wunderbar vertont von MC Winkel, bitte klicken Sie hier), davon werden auch Patricias Kinder- und Muttergeschichten getragen.
Im Grunde bietet Sehr gerne, Mama, du Arschbombe etwas für alle: Kinderfans finden genau die Geschichten, die sie Kinder lieben lassen, auch Kindernichtfans lachen über die Geschichten und finden sich darin bestärkt, Kinder großräumig zu meiden.

30 – Ian McEwan, The Children Act

31 – Raúl Aguayo-Krauthausen, Dachdecker wollte ich eh nicht werden
Diesem eigentlich fesselnden Buch wünschte ich von Herzen ein besseres Lektorat, das sich der vielen sprachlich unbeholfenen Passagen angenommen hätte.

32 – Dana Grigorcea, Das primäre Gefühl der Schuldlosigkeit

33 – Amos Oz, Ruth Achlama (Übers.), Black Box

34 – Neil Gaiman, Coraline*
Düsterer Roman um ein Mädchen, das sich nach einem Umzug in ein altes Haus mit wirklich grusligen Erscheinungen beschäftigen muss. Ihre vorherigen Probleme werden unwichtig – unter anderem ein Vater, der immer wieder statt etwas Anständigem ein recipe kocht, das man nicht essen kann. (“Hast du etwa wieder ein recipe gekocht?” ist in unserem Haushalt stehende Wendung, seit Herr Kaltmamsell das Buch vor Jahren las.)

35 – Julie Schumacher, Dear Committee Members

36 – Jean-Yves Ferri, Didier Conrad, Der Papyrus des Cäsar*
Schönes Geschichte, schöne zeichnerische Gags, schöne Anspielungen auf heutige Kommunikation.

37 – Louise Fitzhugh, Harriet the Spy*
Hatte mir Herr Kaltmamsell schon länger empfohlen, und das zurecht. Ein Klassiker der amerikanischen Jugendliteratur, der, wie alle gute Jugendliteratur, gute Literatur ist. Harriet ist eine sehr gewöhnungsbedürftige Heldin: Sie schreibt unentwegt auf, was ihr passiert und wer ihr begegnet – das allerdings mit abschreckendem Mangel an Empathie, dafür umso kälterer Abschätzigkeit. Dafür muss sie einen Preis zahlen (so weit, so konventionell), aus dem sie aber nicht etwa das lernt, was man erwartet.

38 – Oskar Maria Graf, Das bayrische Dekameron*
Ein weiteres Highlight des Jahres: Graf sammelt anzügliche bayrische Geschichten und schreibt sie sehr original mündlich auf. So genau habe ich mein heimisches Bayerisch noch nie getroffen gesehen – ohne dass es für nicht-Muttersprachler unverständlich wäre.

39 – Jane Gardam, Old Filth*
Der Roman um einen alten britischen Juristen vor dem Hintergrund des verschwindenden Commonwealth, des britischen Klassensystems und des heutigen Großbritanniens erzählt scheinbar leichtfüßig – und doch stecken in diesem gar nicht so dicken Buch ungemein viele Geschichten, Perspektiven, Einblicke. Gardam ist eine Meisterin des significant detail: Auch ohne ausführliche Beschreibungen von Räumen und Umgebungen ist die visuelle Seite der Geschichte jederzeit detailliert und lebhaft. Die anderen beiden Bände der Trilogie will ich unbedingt lesen, schon um mehr über die Zeit in Hongkong zu erfahren und über die Ehefrau der Hauptfigur, Betty, die aus seiner Perspektive als wenig bemerkenswerte „Frau an seiner Seite“ geschildert wird, doch zu seiner großen Überraschung nach ihrem Tod einen ausführlichen Nachruf in den Zeitungen bekommt – sie scheint außerhalb seiner Wahrnehmung eine bedeutende gesellschaftliche Rolle gespielt zu haben.

40 – Granta 133, What have we done

41 – James Rebanks, The illustrated Herdwick Shepherd*
Mit demselben Humor und denselben tiefen Einblicken hat Rebanks nun auch ein Buch mit Bildern aus seinem Hirtenleben veröffentlicht.

42 – John Irving, Avenue of Myteries
Leider auch diesmal keine positive Überraschung. Geradezu mechanisch sind die erwartbaren Irving-Versatzstücke zusammengestellt: Zirkus (Son of the Circus), Kind mit komischer Stimme (Owen Meany), Abtreibungsdiskussion (Cider House Rules), Transgender (Garp, In One Person). All diese Irving-Romane tauchen auch selbst wenig verbrämt auf, im Mittelpunkt des Romans steht der gealteter Romanautor Juan Diego, der sie geschrieben hat. Womit auf einer weiteren Ebene der Bogen zu Irvings Romanen geschlagen wird: Wo wir im Meisterwerk The World According to Garp die Anfangsjahrzehnte eines Schriftstellers bekamen, haben wir jetzt die Endphase eines Schriftstellerlebens. Inklusive – ich frage mich, ob die alten Schriftsteller Roth, Rushdie, McEwen, Irving und Konsorten da einfach eine zotige Männerwette laufen haben – fond memories of vagina: Der alte Juan Diego hat Sex mit einer sehr jungen Frau. Das ist zwar gebrochen dadurch, dass er auch mit ihrer Mutter schläft und das ebenso gerne, lässt mich dennoch Augen rollen. Die beide Frauen sind mystische Wesen, tauchen wie Erscheinungen auf und verschwinden, haben kein Spiegelbild (ein Nicken in Richtung des magic realism von García Márquez?). Als exotischen nicht-US-amerikanischen Hintergrund haben wir diesmal Mexiko, in dem die Kindheit und Jugend des Schriftstellers spielen.

Das Element der Groteske, das Irving früher so leichtfingrig und humorvoll beherrschte, hat mittlerweile etwas sehr Angestrengtes bekommen. Und wo seine Sexszenen früher von ihrer liebevoll sachlichen Schilderung profitierten, lesen sie sich jetzt wie pflichtgemäße Trainingseinheiten beim Gewichtheben – bar jeder Sinnenfreude.

Auch diesmal wedelt ein erhobener Zeigefinger vor der Nase der Leserin, wieder und wieder:
1. Literatur spiegelt nicht die persönlichen Erlebnisse des Autors.
2. Katholizismus ist unlogisch und voller innerer Widersprüche.

Der Spiegel war begeistert von dem Roman.
The daily beast mochte den Roman sehr.
Vielleicht sind John Irvings Bücher ja gar nicht schlechter geworden. Vielleicht haben seine Romane und ich uns einfach auseinander entwickelt.

43 – Flix, Schöne Töchter*
Eines meiner Lieblingsbücher des Jahres, graphic short stories über die Liebe. Flix nutzt die Erzählmittel des Zeichnens ganz wunderbar, so manche Geschichte musste ich zweimal lesen, weil die Pointe zeichnerisch am Ende auf den Anfang verwies.

44 – Alison Bechdel, Are You My Mother?

die Kaltmamsell

4 Kommentare zu „Bücher 2015“

  1. Anke meint:

    ******************KOMMENTAROMAT**********************

    Gerne gelesen

    *******************************************************

  2. Pamela meint:

    den thoreau hab ich damals als junges mädchen (TM) gelesen, natürlich wegen “der club der toten dichter”. es wurde ein wichtiges buch für mich, denn ich war am land und sehr allein, da passte das gut. wahrscheinlich ist das eine lektüre wie hesse oder castaneda, die nur in einem bestimmten alter sinn ergibt und später nicht nachholbar ist. das würde auch ihre kritische sicht von thoreaus bedeutung für die usa bestätigen. – ich sollte mal wieder reinschauen. danke für die erinnerung.

  3. Susann meint:

    Ich bin mir sicher, die meisten Amerikaner haben Thoreau nicht gelesen – der hinterfragt ja sämtlichen Kapitalismuskram recht durchgängig. Die kennen sicher alle nur eine Twittervariante des Textes.

  4. Julia meint:

    der beurteilung des neuen irvings kann ich nur uneingeschränkt zustimmen. ich quäle mich gerade durch die 2. hälfte und ärgere mich über die stereotypen, die mittlerweile nicht mehr liebenswerten versatzstücke, den altmänner-blick auf frauen. es wirkt teilweise schon unfreiwillig komisch, wie irving sich selbst zitiert. musste er laut vertrag einen neuen roman abwerfen und hat einfach ein programm schreiben lassen, das er mit stichworten aus alten romanen fütterte? der m.e. liebloseste roman seiner laufbahn. wie schade…

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