Journal Donnerstag, 27. April 2017 – Das Atwood-Festival geht weiter

Freitag, 28. April 2017 um 9:09

Früh aufgestanden, damit ich noch eine Runde auf dem Crosstrainer strampeln konnte. Einen Augenblick lang hoffte ich, dass die weißen Schnipsel, die ich dabei vor dem Fenster in der Luft sah, Blütenblätter seien. Aber nein: Es schneite schon wieder. Den Tag über war es aber meist Regen, was ausdauernd vom Himmel fiel.

Auf dem Weg in die Arbeit am Rand der Theresienwiese ein Vögelchen gesehen, das ich später als Samtkopf-Grasmücke identifizierte.

Es hat schon etwas von Selbstverstümmelung, dass ich mich regelmäßig durch Tragen dieser klabister-blabuster Gebämselkette selbst in den Wahnsinn treibe.

Aber diese Erwerbung aus Zeiten, in denen ich noch bei H&M einkaufte, gefällt mir einfach zu gut.

Abends Treffen meiner Leserunde, wir sprachen über Lean on Pete von Willy Vlautin. Der Roman war gut bis sehr gut angekommen. Selbst konnte ich ihn nicht einschätzen: Ich hatte das Lesen gehasst und es so schnell wie möglich hinter mich gebracht. Irgendwas an der Geschichte des 15-Jährigen, der völlig verlassen und auf sich allein gestellt ist, sich irgendwie durch die Unterschicht-USA unserer Zeit zur vage verorteten Tante durchschlägt, kein Dach überm Kopf, nur die Klamotten am Leib hat, der stehlen muss, um nicht zu verhungern – irgendwas daran rührte an so tiefe Ängste in mir, dass ich die Lektüre schier nicht aushielt. Interessant, dass da offentsichtlich kein noch so wohl behütetes eigenes Aufwachsen hilft.

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Es ist nicht alles schlecht an Werbung:
“Ikea Had a Great Reaction to Balenciaga Making a $2,145 Version of Its 99-Cent Blue Bag”.

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Ich genieße sehr, dass derzeit so viel über und von Margaret Atwood zu lesen ist. Ein wenig fühle mich dieser brillanten, lustigen Frau auch persönlich nahe, da ich mal einen Arbeitskollegen hatte, der während seiner Diss. das Büro mit ihr teilte, außerdem mal eine Tischdame, die die schon mit Margaret Atwood Obst geschält hat. Was mich in Summe praktisch zu BFF von Frau Atwood macht.

Zum einen ein sehr ausführliches Portrait im New Yorker:
“Margaret Atwood, the Prophet of Dystopia”.

(Sie liest Hand! Noch eine Gemeinsamkeit.)

Ganz offensichtlich ist Atwood ein sehr selbst erfundener Mensch. Und eine manische Schreiberin.

“I always wrote more than one type of thing,” she said. “Nobody told me not to.” On one occasion, over tea, she showed me her left hand: it had writing on it. “When all else fails, you do have a surface you can write on,” she said.

Ihre Technikneugier und ihr Technikoptimismus haben sicher Auswirkungen auf ihr Werk:

For years, Atwood has argued that Twitter in particular and the Internet in general have been good for literacy. “People have to actually be able to read and write to use the Internet, so it’s a great literacy driver, if kids are given the tools and the incentive to learn the skills that allow them to access it,” she said, while being interviewed at a digital-media conference in 2011.

(…)

She is fond of saying that, with all technology, there is a good side, a bad side, and a stupid side that you weren’t expecting. “Look at an axe—you can cut a tree down with it, and you can murder your neighbor with it,” she said. “And the stupid side you hadn’t considered is that you can accidentally cut your foot off with it.”

Zum anderen stand gestern in dem seltsamen Magazin “Stil Leben” der Süddeutschen ein herrliches Interview mit ihr: Patrick Bauer wollte Margaret Atwood eigentlich zu ihrem eben auf Deutsch erschienenen Roman Das Herz kommt zuletzt befragen, die Damen wollte ihm aber viel lieber etwas zeigen.
Margaret Atwood:

Hier, schauen Sie mal, das habe ich Ihnen mitgebracht habe.

Angel Catbird Volume 2: To Castle Catula.
Ja, ganz neu! Die Fortsetzung meiner Graphic Novel, die ich mit dem Illustrator Johnnie Christmas mache. Es geht weiter mit den Engelskatzenvögeln, gucken Sie doch mal, das ist doch wunderbar. Graf Dracua, das wissen wir, hatte drei Frauen, aber Graf Catula hat natürlich mehr, er ist schließlich eine Katze, er hat viel mehr Frauen. Schauen Sie, hier sind alle sieben zu sehen.

Wie hat das angefangen mit den Vogelkatzen?
Mit den Engelskatzenvögeln!

Auch hier sagt Atwood sehr viel Kluges über Trump, die Entwicklung der US-amerikanischen Gesellschaft in den vergangenen Jahrzehnten – und über Vogelschutz.
Online leider nur gegen mindestens 1,99 Euro für einen Tagespass zu den kostenpflichtigen SZ-Inhalten zu lesen:
“‘Wir Linken waren faul und selbstgerecht'”.

§

Nochmal zurück zum Plastik: Wieso sind die meisten Kunststoffe eigentlich so schlecht abbaubar?
Die Max-Planck-Gesellschaft forscht an neuen Möglichkeiten, hier der Stand:
“Fluch der Beständigkeit
Könnten Mikroorganismen gegen die Plastikflut im Meer helfen?”

die Kaltmamsell

6 Kommentare zu „Journal Donnerstag, 27. April 2017 – Das Atwood-Festival geht weiter“

  1. MissJanet meint:

    Ich würde zu gern wissen, warum Sie nicht mehr bei H&M einkaufen.

  2. die Kaltmamsell meint:

    Wegen der unmenschlichen Herstellungsbedingungen der Produkte und der verwendeten Rohstoffe, MissJanet.

  3. vered meint:

    Diese Kette ist doch bezaubernd. Was hat die denn mit Selbstverstümmelung zu tun, und wie genau treibt sie Sie in den Wahnsinn?? Können Sie sich nicht unbeschwert an ihrer Schönheit freuen?

    Frau Kaltmamsell, Sie schreiben in Chiffern, die für schlichte Gemüter wie ich einfach nicht zu entziffern sind.

  4. die Kaltmamsell meint:

    Die schwere Kette schaukelt und baumelt bei jeder Bewegung, vered, sie klappert und klirrt an den Schreibtisch, wenn ich mich setze, und wenn ich mich nach etwas auf dem Schreibtisch strecke, stranguliert sie mich, die Kette schlägt mich, wenn ich um Ecken eile, sie bleibt an Klinken und Griffen hängen – ich kann nur vermuten, dass Sie entweder nie eine solche Kette getragen haben, oder dass ich mich einfach sehr leicht in den Wahnsinn treiben lasse.

  5. MissJanet meint:

    Danke für die Auskunft, Frau Kaltmamsell, das macht natürlich maximalen Sinn.

  6. FrauZimt meint:

    Ich weiß genau, was Sie kettenmäßig meinen und genau das ist der Grund dafür, das ich seit Jahren, nein Jahrzehnten keinerlei Schmuck trage: jegliches Gebammsel an mir macht mich schlichtweg kirre.

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