Paramedizin als Elitenmerkmal
Montag, 17. Juli 2017 um 14:40Kopfschüttelanlass am Wochenende beim Lesen der Süddeutschen Zeitung:
“Murnau – Hauptstadt der Impfgegner”.
Lassen Sie mich dazu ein wenig feuilletonisieren:1 Kann es sein, dass Paramedizin zum Distinktionsmerkmal der Eliten geworden ist? Ich frage mich schon lange, warum ausgerechnet Akademikerinnen und Wohlhabende besonders empfänglich zu sein scheinen für einen antiwissenschaftlichen Zugang zu Gesundheit. Gestern erwachte der Verdacht in mir, dass das mit der Demokratisierung der medizinischen Versorgung zu tun haben könnte.
Unsere Gesellschaft gewährt allen Zugang zu medizinischer Versorgung: Wir haben eine Versicherungspflicht und ein Gesundheitssystem, von dem fast alle anderen Gegenden der Welt nur träumen können.2 Der eine Fabrikarbeiter in Rente bekommt ein künstliches Kniegelenk, der andere kann nach einer Laser-OP ohne Brille klar sehen, die Friseurin in Rente bekommt bereits die zweite neue Hüfte, die depressive Schulabrecherin kann in Psychotherapie, der Hilfsarbeiter darf genauso auf eine Spenderniere hoffen wie die Professorin, die Kasse zahlt einfache Kariesbehandlung genauso wie monatelange Chemotherapie bei Krebserkrankung – jeder und jedem. Das ist eine monumentale zivilisatorische Errungenschaft, die viele Generationen Kampf gekostet hat. Bloß: Jetzt kann man sich durch gute Zähne und fundierte ärztliche Behandlung nicht mehr als zur besseren Schicht gehörig absetzen.
Das ist bei Paramedizin anders: Die Heilpraktikerin und ihre Chakren-Analyse, den Osteopathen, der den Rhythmus des Körpers wiederherstellt – die muss man selbst zahlen, die kann sich nicht jeder leisten. An Medizin kommen alle, an die höhere Erkenntnis, auf der Paramedizin fußt, reichen nur die Besonderen.
Ein Hinweis auf diesen Wunsch nach Abgrenzung zur niederen Masse findet sich im oben verlinkten Artikel:
Der Spot der jüngsten Masernepidemie sei klar die Montessorischule im nahen Peißenberg gewesen, deutet er an, was etwa für den früheren Gesundheitsamtsleiter im Nachbarlandkreis Bad Tölz-Wolfratshausen offenkundig war: Das Problem konzentriere sich in den Waldorf- und Montessorischulen, das hat der in seinem ebenfalls vergeblichen Kampf mit den Impfskeptikern einmal freimütig festgestellt.
Dass die Eltern damit de facto das Leben ihrer Kinder gefährden, wird vor diesem Abgrenzungswunsch nebensächlich.
- Feuilletonisieren, das: Eine Meinung, die in persönlichen Befindlichkeiten wurzelt, zur validen These erklären und zugespitzt mit ausschließlich confirmation bias-gefilterten Fakten belegen. [↩]
- Dass beides mangelbehaftet und verbesserbar ist, widerlegt das nicht grundsätzlich. [↩]
12 Kommentare zu „Paramedizin als Elitenmerkmal“
Sie möchten gerne einen Kommentar hinterlassen, scheuen aber die Mühe einer Formulierung? Dann nutzen Sie doch den KOMMENTAROMAT! Ein Klick auf einen der Buttons unten trägt automatisch die gewählte Reaktion in das Kommentarfeld ein, Sternchen darüber und darunter kennzeichnen den Text als KOMMENTAROMAT-generiert. Sie müssen nur noch die Pflichtfelder "Name" und "E-Mail" ausfüllen und den Kommentar abschicken.
17. Juli 2017 um 16:25
Ich habe da fast das Beduerfnis noch viel weiter auszuholen und mich zu fragen, warum offensichtlich so viele Leute den Drang haben sich aus Fakten auszuklinken und unbewiesenen Unsinn glauben nur weil sie sich damit in ihrer Knee-jerk-aus-dem-Bauch-Reaktion bestaetigt sehen koennen. The world is big and scary, und wir ziehen uns zurueck in die Kuschelecke unserer unreflektierten Vorurteile und Urinstinkte?
Wie man solche Leute aus ihrem Wohlfuehlaberglauben herausholt weiss ich aber leider ueberhaupt nicht. Nur mit den Augen rollen und gelegentlich ausschimpfen hilft ja nicht, aber was hilft?
tl;dr: SEUFZ
17. Juli 2017 um 16:48
Mich haut das immer wieder weg. Wieviele Frauen in meinem Alter mir Vorträge halten, über die wertvolle Homöopathie. Und besonders gerne über Globuli, Bachblüten und die Gefahren der modernen Medizin. Und wie schockiert sie sich sofort von mir kleinem Proll abgrenzen, wenn ich mein übliches: “Das ist Humbug! Geh’ zum Arzt” einwerfe. Konversationskiller, der mich augenblicklich zu den ungebildeten armen Dummen rüberschiebt.
Aber – auch gut, wenigstens glaube ich nicht, dass ein Wirkstoff stärker wird, wenn man ihn verdünnt.
Meine (durchgeknallte) ehemalige Hausärztin hat mir übrigens damals Schüsslersalze empfohlen, gegen meine Depression. Nach dem daraufhin sofort erfolgten Arztwechsel hat der mich dann doch gleich ins Krankenhaus eingewiesen, wo ich 10 Wochen lang blieb.
Homöopathie ist nicht immer harmlos.
17. Juli 2017 um 21:32
Es geht, glaube ich, auch unterschwellig darum zu zeigen, wie sensibel man ist, wie sehr man auf feinere Energien anspricht – wie eine Prinzessin auf der Erbse im Vergleich zum derben Prollmädel, das einfach viel zu sehr vom Leben gebeutelt ist, um eine Erbse unterm Federbett erspüren zu können. Wir erinnern uns vage an die Magda Schneider in einem der unsäglichen “Sissi”-Filme, die der kränkelnden Tochter (so ungefähr) erklärt: “Weißt du, die Bürgersfraue haben gar keine Zeit, um sich krank zu fühlen,…” und machen einfach ihr Ding weiter. Reiß dich zusammen, Sissi! Im Vergleich zu den Bürgersfrauen hat Sissi hingegen Zeit, Gelegenheit und Ressourcen, um filmschön zu leiden. Und die Waldorfmama aus dem Münchner Speckgürtel hat Zeit, Gelegenheit und Ressourcen, um mit dem Osteopathen der Lese-Rechtschreib-Schwäche (beruhend auf einemGeburtstrauma) des kleinen Theodor-Albrecht zu Leibe zu rücken.
18. Juli 2017 um 2:08
Wussten sie, dass der Begriff Paramedizin im französischen etwas völlig anderes bedeutet? Ich war nämlich am Anfang Ihres Beitrages etwas verwirrt.
Ich habe nämlich eine Weile Paramedizin studiert!
Im französischen heißt es “paramédical” und beinhaltet sämtliche Berufe die parallel neben dem Medizinstudium laufen; bzw. Krankenpfleger, Altenpfleger, Masseur, Physiotherapeut, Hebamme usw.
Im Deutschen bedeutet es aber: Gesamtheit der medizinischen Systeme und Auffassungen, die sich von der Schulmedizin in Bezug auf diagnostische und therapeutische Methoden abheben.
18. Juli 2017 um 5:44
Ein wichtiger Hinweis, Joël, deswegen sind Deutschsprechende gerne auch vom englischen paramedic für Sanitäter verwirrt. Für mich ist Paramedizin noch die neutralste Bezeichnung für etwas, was man auch Pseudomedizin oder esoterische Medizin bezeichnen könnte.
18. Juli 2017 um 11:27
Wenn Akademiker/innen auf so einen Unfug abfahren, zeigt das, daß Gymnasien und Universitäten versagt haben und anscheinend zu reinen Berufsausbildungstätten degeneriert sind. Zumindest in großen Bereichen. Da werden Abschlüsse vergeben an Leute, denen anscheinend die simpelsten Grundlagen wissenschaftlichen Denkens fehlen.
18. Juli 2017 um 13:29
Als Medizinethnologin halte ich das für eine durchaus plausible These (die sicherlich irgendwo in der Literatur bereits formuliert wurde, müsste ich mal recherchieren…).
18. Juli 2017 um 17:44
Distinktionsmerkmal gepaart mit der Abnahme der Akzeptanz der ehemaligen Götter in Weiß, denen man nicht mehr vertrauen kann (mag, darf) bei gleichzeitiger Zunahme weicher, gefühlter Diagnosen (Impfschäden, Geburtstrauma, KISS Syndrom undsoweiter) die dann ja ihrerseits auch nur von Alternativtherapistinnen behandelt werden können.
Einen akademischen Abschluss zu haben widerspricht meiner Meinung nach nicht dem Empfänglichsein für diese Art Ausweitung und Lauschen auf körperliche Symptome. Ich sehe eine Entwicklung zum hier beschriebenen Status Quo, der auch mit dem gewachsenen Körperkult und der Optimierung des eigenen Körpers zusammenhängen kann – und auch den muss man sich leisten können.
18. Juli 2017 um 18:01
Ich bin Controllerin und habe Studienkollegen, die im Krankenhauscontrolling arbeiten und da geht es dann um Fallpauschalen, Liegezeiten etc. zur Kostendeckung von Behandlungen.
Da frage ich mich immer öfter, was die Diagnose damit zu tun hat.
Ich habe einen Zahn, der wurzelbehandelt ist und schmerzt. Kann und sollte nicht sein. Drei verschiedene Zahnärzte aufgesucht. Zwei Mal Diagnose Zahn ziehen und Implantat, das die Kasse nicht zahlt. Einmal der Versuch, die Wurzel erneut und nach heutigen Stand der Technik zu füllen. Zwei kurze Sitzungen, 85 Euro. Und es ist Ruhe.
Ich habe bereits eine Krebserkrankung hinter mir und sehr viele Medikamente genommen. Ich habe eine gewisse Schiss vor Antibiotikaresistenz. Darf ich da das sofortige Verschreiben von Antibiotika bei Bronchities, Mittelohrentzündung, Blasenentzündung (dann komme ich nämlich mit einem Arzttermin hin) etc. in Frage stellen?
Meine Kinder sind geimpft. Und ich würde mir wünschen, dass alle Erwachsenen ihre Impfungen auch auf dem Laufenden halten.
18. Juli 2017 um 18:08
Liebe Kaltmamsell! Herzlichen Dank für dieses Statement. Ich habe den Artikel auch gelesen und habe mich sehr gefreut, dass die SZ sich dieses Themas angenommen hat. Ich selber war in diesem Jahr eine der Gymnasiallehrerinnen mit einer 6. Klass-Klassleitung. Erst vorletzte Woche musste ich die Impfbücher einsammeln und durfte schockiert feststellen, dass zwei meiner Schüler überhaupt nicht geimpft waren, einige haben ihr Impfbuch nicht mehr gefunden und bei einem weiteren Teil war der Impfschutz nicht ausreichend.
Noch ein Satz zu Herrn Roland: Nein, es sind nicht nur Akademikerinnen, die feste an die Schädlichkeit des Impfens glauben und fleißig ihren Kindern die Globoli-Kügerl in die Schule mitgeben.
Ich persönlich finde die Einstellung vieler “Impfgegnerinnen” mehr als haarsträubend und fahrlässig, musste aber in den vielen Jahren meiner Berufstätigkeit lernen, dass diesbezügliche Diskussionen mühsam sind. Das Verhältnis zu entsprechenden Müttern war danach merklich schlechter.
Meine 13-jährige Tochter hat übrigens jede empfohlene Impfung. Und sie ist ziemlich stolz darauf. :)
18. Juli 2017 um 19:29
An der zunehmenden Homöopathie-Gläubigkeit sind aber auch die Krankenkassen nicht ganz unschuldig. Meine Hausärztin hat mir aufgrund eines Mangels kürzlich ein hochdosiertes Vitamin D Präparat verschrieben. In unseren Breiten ist ja ein Vitamin D Mangel nichts ungewöhnliches und, bedingt durch unser Wetter und leider auch die täglichen 8-10 Stunden im Büro ohne Sonnenlicht vom Körper nicht so einfach selber zu bilden.
Ich habe also von meiner Ärztin ein Privatrezept bekommen und habe für das Medikament € 30,- bezahlt.
Dann dachte ich, ich ruf doch mal die Krankenkasse an, ob dafür die Kosten bei einem festgestellten Mangel übernommen werden.
Die Dame bei der Krankenkasse meinte, sie schaut gern mal in der Liste der homöopathischen Medikamente, für die man eine Zuzahlung bekommt nach, ob das Medikament darauf zu finden ist – aber nein, es ist ja ein Vitaminpräparat und dafür bekommt man keine Zuzahlung. …ich bekomme also für ein Präparat, was einen festgestellten Mangel ausgleichen soll keine Zuzahlung, aber für Homöopathie schon…hmmm
20. Juli 2017 um 15:39
Mein Kinderarzt war immer der Meinung, Homöopathie sei Ersatzglauben für Leute, die heutzutage nicht mehr an Gott glauben. Also so eine Art Opium fürs Volk. Ich glaube, da ist was dran. Der Mensch braucht anscheinend etwas, das rational nicht zu erklären ist, auch wenn er sich für noch so aufgeklärt hält