Journal Samstag, 16. Juni 2018 – Auf den Spuren meiner Kindheit
Sonntag, 17. Juni 2018 um 8:32Ausgeschlafen, Morgenkaffee im wunderbaren Garten meiner Eltern, mit Eltern und Herrn Kaltmamsell.
Ich schickte Herrn Kaltmamsell zum Arbeiten nach München, selbst hatte ich geplant, mich vormittags in der Gegend Ingolstadts umzusehen, in der ich Kind gewesen war.
Ich spaziert über die Adresse meiner vor elf Jahren verstorbenen polnischen Großmutter: Brucknerstraße 3 (die einzige Anschrift, die ich als kleines Kind neben der eigenen auswendig wusste). Noch zu ihren Lebzeiten war die ganze Wohnblocksiedlung, nach dem Krieg und in meiner Kindheit “Polackenviertel” genannt, aufwendig saniert worden.
So sah der Eingang 1966 am Hochzeitstag meiner Eltern aus.
Genossenschaftswandkunst ein paar Häuser weiter (unter anderem mit der Information, dass die Siedlung 1951-56 gebaut wurde). Auch am Kindergarten St. Johannes sah ich vorbei: Meine eigentlich katholisch-engagierte Mutter hatte mich nicht zu den Nonnen des Pius-Kindergartens geben wollen und mich lieber ein Stück weiter in den evangelischen gebracht.
Mein eigentliches Ziel war die Pfarreikirche St. Pius, die dem ganzen Viertel zwischen Ettinger-, Richard-Wagner- und Waldeysenstraße den Namen gegeben hat: dem Piusviertel. Dazu gibt es aber einen eigenen Post.
Lange blieb ich an diesem für mich zentralen Ort stehen:
Die Pfarrbibliothek (links), die zweimal in der Woche geöffnet war: Ich las die Kinderabteilung leer, viele Bücher mehrmals, bis ich in die damals frisch im Herzogskasten eröffnete Stadtbücherei wechselte.
Innen scheint sich in den vergangenen über 40 Jahren nichts verändert zu haben: Links die Kinderbücher, kein Computer weit und breit.
Am Nordbahnhof kaufte ich mir für die Rückfahrt Frühstück, doch ich kam nicht dazu: Am Bahnsteig sprach mich ein entfernter Arbeitskollege an und grüßte begeistert. Ich erkannte ihn erst nicht, weil ich Ingolstadt nicht mit dieser völlig anderen Welt in Verbindung brachte, freute mich dann aber sehr über die Begegnung – bislang hatten wir einander immer nur von Ferne gegrüßt. Und so unterhielten wir uns auf dem Weg nach München unter anderem über Gambia, Geschwister, Neffen und Nichten, über Ingolstadt, München, Bayern, Festivals mit afrikanischer Musik, Waisenheime und über Großmütter, die die neun Kinder ihrer verstorbenen Tochter großziehen, hart arbeiten, um ihnen eine gute Ausbildung zu ermöglichen, und wie diese Kinder sie stolz machen wollen.
Das Frühstück holte ich daheim nach, bevor ich meiner Erschöpfung nachgab und nochmal ins Bett ging. Zwei Stunden schlief ich tief und fest. Ich wachte etwas benommen auf und mit der Enttäuschung, diesen wundervollen warmen Sommertag nicht zu etwas GENUTZT zu haben.
Beim Abendessen (“Reste”, wie Herr Kaltmamsell den Teller Käse, den Gurkensalat und gebratenen Mangold aus Ernteanteil nannte, zum Nachtisch Erdbeeren mit Sahne) fiel mir draußen das ausdauernde Alarmgeschrei aus drei verschiedenen Amselkehlen auf. Ich sah vom Balkon aus nach der Ursache und entdeckte in der Kastanie ein Sperbermännchen (über taubengroß, die Weibchen sind fast doppelt so groß), das offensichtlich Beute gemacht hatte. Mit dem Fernglas sah ich, dass der Sperber einen Buntspecht geschlagen hatte; er fraß mindestens eine Stunde daran, wechselte dabei immer wieder den Ast in der Kastanie.
§
Diese Geschichten kannte ich bislang nur aus Spanien und Irland. Doch es stellt sich heraus: Auch in Deutschland wurden Säuglinge unverheirateten Müttern weggenommen und verkauft.
“Entbindungsheime
Die gefallenen Mädchen”.
In den bayerischen Heimverzeichnissen steht, dass es bis Mitte der siebziger Jahre 27 solcher Einrichtungen gegeben hat. Mütter- oder Entbindungsheime nannte man diese Einrichtungen. Hausschwangere oder “gefallene Mädchen” die Frauen, die sich in ihnen versteckten und ihre Kinder dort gebaren.
Oh ja, Schwangerschaft außerhalb der Ehe als die so ziemlich schlimmste Schande für eine Frau (und natürlich nur für sie): Damit bin auch ich noch groß geworden, das ist wirklich noch nicht lange her.
die Kaltmamsell3 Kommentare zu „Journal Samstag, 16. Juni 2018 – Auf den Spuren meiner Kindheit“
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17. Juni 2018 um 10:33
All diese Erinnerungen lesen sich, als seien sie von mir geschrieben – bis hin zur Ledigen-Schwangerschaft. Danke. Einen schönen Sonntag wünsche ich.
17. Juni 2018 um 10:34
P.S. Der Garten ist wunderschön.
17. Juni 2018 um 11:20
Zum Artikel “Die gefallenen Mädchen“ im ZEIT Magazin dieser Woche: Ganz schlimm schmerzt es zu lesen, wie Frauen mit Frauen umgegangen sind. Statt Solidarität zu zeigen wurde ihre Not noch ausgebeutet. Und wie in anderen Bereichen, sh. auch Prostitution, mussten immer die Frauen allein alle Last, Strafen, Ächtung, auf sich nehmen. Von den beteiligten Männern war nie die Rede.
Meine Abneigung gegen Religionen aller Art resultiert u.a.
aus deren Positionen, in der Frau grundsätzlich die “Sünderin“ zu erkennen.
Wie wichtig war doch die Frauenbewegung, die allmählich den Beton in den Köpfen aufweichte.