Journal Mittwoch, 26. September 2018 – Neuer Koffer und wahlhilfegeschult

Donnerstag, 27. September 2018 um 8:54

Unruhiges Ausschlafen, ich erwachte mit dumpfem Hirn (und sollte wohl ab sofort wieder das abendliche Glas Wein meiden, das ich in den vergangenen zwei Wochen so problemlos vertragen hatte).

Ausführliches und emotionales Bloggen. Ich habe da eine Idee, wen ich fragen könnte, ob er nach meiner polnischen Großmutter recherchieren möchte – er interessiert sich für Ahnenforschung, steht mir nahe, hat aber keine direkte Verbindung zu ihr.

Erst nach drei Stunden knickte ich ein und drehte erstmals in der Saison die Heizung auf – statt einen zweiten Wollpullover überzuziehen.

Dann war es bereits so spät, dass ich alle Sportpläne strich: Urlaubsprogramm für Nachmittag war nämlich die Wahlhilfeschulung für die Landtagswahl. (Nur deshalb in den Urlaub gerutscht, weil ich versäumt hatte, mich rechtzeitig um einen der Samstagstermine für die Schulung zu bemühen und sehr froh war, dass Urlaub und passender Schulungstermin noch zusammenfielen.)

Statt desse Einkaufsrunde in kühler Sonne: Zum einen kaufte ich nun doch einen mittelgroßen Koffer. Da ich wusste, was ich wollte (die Nummer kleiner aus der Serie, aus der ich einen großen Koffer habe und sehr schätze), ging ich in einen kleinen Nachbarschaftsladen statt in das Kaufhaus, in dem ich vor acht Jahren den großen erwarb. Mein Ideal “Support your local dealer” hatte diesmal einen unangenehmen Preis: In dem schraddligen, vollgestellten Laden wurde ich erst mal ignoriert, als man mich endlich mit einem freundlichen “Kann ich Ihnen helfen?” ansprach, wandte sich der Frager mitten in meinem ersten Antwortsatz zu seiner vorherigen Gesprächspartnerin und sagte etwas zu ihr. Ich bin stolz darauf, dass ich trotz Blitzwut nicht wortlos den Laden verließ,1 sondern nur den Satz mitten im Wort abbrach. Den Koffer kaufte ich dort (im vollgestapelten Schaufenster hatte ich eine Sonderfarbe reduziert gesehen), bekam allerdings außer “10 Jahre Garantie” keine weiteren Informationen und werde den Laden sicher nicht empfehlen.

Fürs Abendessen besorgte ich zum anderen Zutaten in der Lebensmitteabteilung des Kaufhof.
Daheim gab’s Frühstück. Als ich dabei die Route zum Wahlschulungsort recherchierte, geriet ich in Hektik: Ich hatte auf der Einladung die Adresse vor Monaten nur überflogen, “Ruppertstraße” gelesen und mit “Ah, im KVR wie letztes Mal” abgehakt. Jetzt stellte ich fest, dass da tatsächlich “Rupert-Mayer-Straße” stand – und schlagartig wurden aus 20 Minuten Fußweg in der Nachbarschaft 30 Minuten Radeln in fremde Gegenden.

Ich kürzte das Frühstück ab, packte hastig und stieg aufs Rad. Ganz hatte ich mir den langen Weg nicht merken können, hielt also immer wieder an, um auf dem Smartphone die Route zu checken. Registrierte aber sehr wohl, dass ich durch die Tumblingerstraße radelte: Am Vortag hatte ich im NS-Dokumentationszentrum einen Zeitzeugen gehört, der als junger Bursche vom Fenster der Elternwohnung in dieser Straße gesehen hatte, wie nach der Niederschlagung der Räterepublik gegenüber am Schlachthof an der Viehrampe Anhänger der Republik erschossen wurden.

Außer Atem gelangte ich an das Firmengelände, in dem die Schulung stattfand – und musste herausfinden, in welchem der vielen Gebäude dort, die Einladung hatte nur den Namen des Schulungsraums aufgeführt. Zum Glück stieß ich auf weitere Wahlhelfenden, die einen Plan dabei hatten (war wohl an städtische Angestellte ausgeteilt worden).

Hochinteressante und informationsdichte dreieinhalb Stunden Schulung.

(Mit diesem Ausblick, im Original inklusive deutlichem Alpenpanorama.)

Es wurden nochmal Gesetze und Verordnungen durchgenommen, außerdem der genaue Ablauf der Auszählung, an den auch das Programm des Computerkoffers zur Eingabe und Übertragung der Ergebnisse angepasst worden war. Hier sind die Unterlagen der Schulung für den engeren Wahlvorstand im Wahllokal einsehbar. Neuer Inhalt unter anderem: “Umgang mit Wahlbeaobachtern” – zu dieser “Wahlbeobachtung” fordern rechte Kräfte seit einiger Zeit auf (kein Link, leicht zu finden).

Diesmal bestand die Gruppe nur aus sachorientierten Menschen (also keine Geschichtenerzähler und G’schaftlhuberinnen wie bei der letzten Runde), es ging flott durch, so dass wir nur wenig überzogen. Es löste Erstaunen (und ein wenig Unglauben) aus, dass ich weder städtische noch staatliche Angestellte bin, somit das Wahlhelfen wirklich echt ehrlich freiwillig mache und nicht mal einen freien Tag dafür bekomme.

Behindert wurde meine Aufnahmefähigkeit durch Schwindel und eine lange Müdigkeitsattacke, ich werde die Unterlagen vor dem 14. Oktober nochmal gründlich durchgehen.

Heimradeln auf einfacherem Weg ohne Anweisungen – heim finde ich in München immer. (Für eine Innenstadtbewohnerin nicht schwierig.)

Zum Nachtmahl versuchte ich die köstlichen Muscheln von vergangenem Freitagabend in Oldenburg nachzubauen. Ganz so frisch waren sie nicht (vielleicht sollte man in München Muscheln den Profis überlassen), aber die Kombination mit Zwiebel-Speck-Sahne-Petersiliensoße schmeckte.

Jetzt ist aber mal Zeit für Ruhe – am Abend fühlte ich mich richtig urlaubsreif.

§

Stella Hindemith schreibt für die Zeit:
“Rechtspopulismus:Es begann nicht auf der Straße”.

Ihre These:

Im Umgang mit der deutschen Nazivergangenheit markierte Martin Walsers Rede in der Paulskirche eine Wende: Vor 20 Jahren verschob er die Grenzen des Sagbaren nach rechts.

Denn:

Die Rede suggeriert den Bruch eines Tabus, welches von einem mächtigen Gegner geschützt wird. Einzig Walser, der mutige Einzelkämpfer, bringt die Kraft auf, sich dem vermeintlichen Erwartungsdruck der Mächtigen zu widersetzen und die unbequeme Wahrheit auszusprechen. Mit dieser Selbstinszenierung gerät jede/r KritikerIn seiner Aussagen in die Position der UnterdrückerIn ebenjener Wahrheit – eine rhetorische Finesse, der sich RechtspopulistInnen auch heute gern bedienen.

(…)

Der Rechtspopulismus wurde nicht auf der Straße erfunden, auch nicht von den viel zitierten Wutbürgern. Er kommt auch nicht allein aus dem Osten oder von den Wendeverlierern, auch wenn er hier vielleicht besonders viel Resonanz erfährt. Der Rechtspopulismus ist lange und hartnäckig erdacht, nicht zuletzt von Intellektuellen und Politikern aus dem Westen. Seine bürgerlichen ArchitektInnen heißen Walser, Hohmann, Möllemann, Sarrazin oder Steinbach. Und er ist verwurzelt in der Abwehr der Verantwortung für den Nationalsozialismus und dem damit einhergehenden Antisemitismus. Der Erfolg des Rechtspopulismus – auf der Straße wie in den Parlamenten – wird nicht verstehbar werden, wenn seine Entstehung nicht beachtet wird.
Im Gegenteil: Solange die Debatte auf das Jahr 2015 fokussiert ist, geht sie dem rechtspopulistischen Mythos auf den Leim, der behauptet, das “Volk” würde sich wehren.

  1. Ich fürchte, ich bin generell am stolzesten auf Taten und Worte, die ich mir verkneife – ziemlich armselig. []
die Kaltmamsell

1 Kommentar zu „Journal Mittwoch, 26. September 2018 – Neuer Koffer und wahlhilfegeschult“

  1. iris meint:

    Meiner Ansicht nach ist es gar nicht armselig, sondern sehr bewundernswert, wenn man in der Lage ist, aufkeimende Emotionen zu erkennen und gegebenenfalls zu unterdrücken. Gerade bei Wut ist es ja sehr wichtig, sie zu erkennen und auf die richtige Weise zu kanalisieren. Wenn es überhaupt eine Fähigkeit gibt, die den Menschen von den Tieren unterscheidet, dann ist es meiner Ansicht nach diese.

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