Bücher 2018

Sonntag, 30. Dezember 2018 um 17:24

Ich werde mich wohl damit abfinden müssen, dass ich immer weniger Bücher lese. Sehr wahrscheinlich ist diese Lesezeit von Internetlesen übernommen worden: Ich lese mehr Artikel, auch lange Artikel in Online-Medien, meist auf Twitterverweise hin. Außerdem schaffe ich es nicht mehr, meine Tageszeitung ungelesen zu lassen: Während des Studiums stapelte sich die Süddeutsche auch mal ein paar Tage ungelesen, wenn ich gerade in einem fesselnden Buch steckte – das habe ich verlernt.

* markiert meine Empfehlungen
() In Klammern gesetzt habe ich aktives Abraten.
Unmarkiert sind Bücher, die mir genug zum freiwilligen Auslesen gefielen.

1 – Leo Perutz, Der Meister des Jüngsten Tages

2 – Stephen Fry, Mythos

3 – Zoë Beck, Die Lieferantin*
Ein richtig gut gemachter Krimi („Thriller“ wie auf dem Buchtitel hätte ich den Roman nicht genannt), Handlung und Sprache sauber gearbeitet. Die Geschichte (kein who done it, wir wissen immer, wer was gemacht hat – vielleicht deshalb die Einordnung als Thriller?) handelt in einer nahen Zukunft in London, es geht um Drogengeschäfte und -politik, um Nationalismus, organisierte Kriminalität und wunderbar viel Technik. Angenehmerweise stören keine Liebesgeschichten. Die Charaktere sind genau genug gezeichnet, dass ich sie glaubte und mich hineindenken konnte.

4 – Deborah Feldman, Unorthodox
Sehr gemischte Gefühle dem Buch gegenüber. Ich habe durch diese Autobiografie zwar viel über die Ideologie und Ursprünge der Hassidim gelernt, auch über die konkreten und oft haarsträubenden Details der konkreten beschriebenen Spielart. Und ich erkannte das Muster, das sie mit allen radikalreligiösen Sekten und Esoteriken verbindet: Je absurder der Glauben, je weiter weg von Ratio und sonstigem gesellschaftlichem Konsens, desto inniger und richtiger fühlt er sich für die Mitglieder der Gemeinschaft an.
Doch, und jetzt kommt das große Aber: Ich fühlte mich beim Lesen unwohl. Feldman schreibt ja nicht nur intime Details über sich selbst, sondern entblößt bis ins Intimste andere Menschen von Verwandten bis Ehepartner – echte Menschen, die sich nicht wehren konnten. Das ist in meinen Augen unanständig und gemein. Ihre eigene Befreiung ist durchaus interessant und sei ihr unbenommen; schließlich zeigt sich Deborah Feldman überzeugt, dass sie von Kindesbeinen an nicht wirklich dazu passte. Doch dass sie die Privatspähre so vieler anderer Menschen für ihre Geschichte ausschlachtet, kann ich nicht gut heißen.

5 – Sue Townsend, The Secret Diary of Adrian Mole aged 13 3/4

6 – Elena Ferrante, Ann Goldstein (transl.), My brilliant friend

7 – Granta 142, Animalia

8 – Christiane Frohmann, Präraffaelitische Girls erklären das Internet

9 – Barbara Yelin, Irmina*
Die graphic novel um Irmina spielt im Europa der 30er und zeigt die politische und gesellschaftskritische Bewusstwerdung einer jungen, aufgeweckten Frau aus Deutschland während eines langen Aufenthalts in England – und wie dieselbe Frau nach ihrer Rückkehr einknickt und sich einreiht in die Mitläufer des Dritten Reichs. Bedrückend und nachvollziehbar.

10 – M.R. Carey, The girl with all the gifts*
Hier besprochen.

11 – Didier Eribon, Tobias Haberkorn (Übers.), Rückkehr nach Reims*
Hier besprochen.

12 – Stanisław Lem, Caesar Rymarowicz (Übers.), Sterntagebücher

13 – Lena Gorelik, Meine weißen Nächte

14 – John Irving, The Cider House Rules*
Der Roman hat sich sehr gut gehalten, beim wiederholten Wiederlesen war ich wieder gefesselt von der Geschichte und den Personen, lachte und weinte mit ihnen, bewunderte die implizite pro choice-Argumentation und die handwerklich meisterhafte Erzähltechnik. (Als ich vor vielen Jahren während eines Englandurlaubs vor einem Buchladen auf einen Stapel Gray’s Anatomy-Faksimiles stieß, kaufte ich selbstverständlich sofort ein Exemplar.)

15 – Michael Chabon, The Yiddish Policemen’s Union*
Ebenfalls wiedergelesen, dieses für unsere Leserunde, und ich musste mein Urteil von 2010 nicht revidieren.

16 – Granta 143, After the fact*
Eine besonders gelungene Ausgabe des einen Literaturmagazins, das ich im Abo bekomme: Geschichten und Reportagen über eben Vergangenes, darunter über sozialen Wohnungsbau in England und über Palmyra – allein diese beiden Texte und Bilder lohnten die ganze Ausgabe.

17 – Oskar Maria Graf, Das Leben meiner Mutter*
Ein unglaubliches Zeitzeugnis hat Graf mit diesem autobiografischen Roman hingelegt – und es passte perfekt in dieses Jahr, in dem hundert Jahre Räterepublik gefeiert wurden. Diese politische Zeitgeschichte bildet aber nur das letzte Drittel des dicken Buchs, davor geht es um eine ländliche Kindheit in den letzten Jahrzehnten der bayerischen Monarchie, um Herrschaftsverhältnisse, katholischen Alltag, um Wissbegier ohne Chance.

(18 – Pierre Michon, Anne Weber (Übers.), Leben der kleinen Toten)
Über dieses weit gerühmte Buch ärgerte ich mich sehr: Da interessierte sich jemand keineswegs für das Leben kleiner Leute, sondern nur für sich selbst, seine romantische Herkunft, seine tsetsetse wilde und verkommene Drogenjugend – und brauchte ein paar Leute als interessante Staffage dafür, notfalls halb erfunden. Die Sprache vor lauter konstruierter Vergleiche und unter Schmerzenslauten an den Haaren herbeigezogenen Bildern nahezu undurchdringlich – kein Torbogen, kein Baum ist vor Michons Metapherorhoe sicher. (Beispielsatz: „Welches alte Familiendrama lebt weiter in der Kehle der Hähne?“) Wenn das die Krone französischsprachiger Erzählkunst ist, kann sie mir gestohlen bleiben.

19 – The Stinging Fly, Issue 38/Volume Two, Summer 2018

20 – Robert Galbraith, The Cuckoo’s Calling*
Ich hatte Lust gehabt auf leicht verdauliches, aber gut gemachtes Lesefutter und mich an die Empfehlung dieser Krimiserie von J.K. Rowling unter Pseudonym erinnert: Volltreffer. Eine wunderbare Mischung aus bekannten private eye-Topoi und Abweichung davon. Die Stadt London spielt eine große Rolle, der ermittelnde Cormoran Strike ist ein Kriegsveteran mit ausreichend gebrochener Persönlichkeit, um spannend zu bleiben, und dann haben wir seine Assistentin Robin, die von Anfang an deutlich interessanter ist als die Stehlampen-Ersatzfiguren, die ich an dieser Stelle von Film und Roman gewohnt bin.

21 – Chimamanda Ngozi Adichie, Americanah*
Eine intellektuelle Nigerianerin in USA, die sich dort zum ersten Mal wie eine Schwarze fühlt, steht im Mittelpunkt dieses Romans. Ich lernte viel über Nigeria samt seiner jüngeren Geschichte und ließ mir von der Erzählerin meine eigenen Vorurteile und Unkenntnisse unter die Nase reiben. Gleichzeitig fand ich die Geschichte ganz hervorragend erzählt: Nicht chronologisch und doch zeitlich voranschreitend, immer wieder dazwischengeschoben provokante Blogposts der Erzählerin zu Rassismus.

22 – Heinrich Böll, Irisches Tagebuch

23 – Neil Gaiman, American Gods*
Allein schon die Prämisse mochte ich: All die Einwanderer in die USA haben mit ihrer Folklore auch die mythischen Figuren ihrer Herkunftskulturen mitgebracht – und die haben sich in den Staaten ebenso verändert wie alle anderen Einwanderer. Es machte gar nichts, dass ich nicht alle handelnden Figuren einem Mythos zuordnen konnte: Die Geschichte überraschte mich immer wieder und hielt mich bei der Stange.

24 – Granta 144, Generic love story

25 – Richard Matheson, I am Legend

26 – Michael Chabon, Summerland
Das letzte Fünftel ließ ich ungelesen: Der Kinder-/Jugendroman war wirklich nicht schlecht gemacht, aber die thematische Mischung aus Baseball und dem kleinen Hobbit ging komplett an mir vorbei.

27 – Michael Ondaatje, Warlight*
Hier besprochen.

28 – Alan Bradley, The Sweetness at the Bottom of the Pie

29 – Robert Galbraith, The Silkworm

30 – J.G. Farrell, Troubles*
Der Roman spielt im Irland kurz nach dem Ersten Weltkrieg, vordergründig geht es um ein riesiges, altes und von Engländern geführtes Hotel in der Nähe von Dublin, das Majestic, das langsam aber energisch verfällt. Im Mittelpunkt steht vordergründig der britische Major Brendan Archer, nach dem Krieg und Aufenthalt im Sanatorium frisch aus dem Militär entlassen. Hintergrund aber sind die vielen kleinen und mittelgroßen gewalttätigen Auseinandersetzungen der britischen Kolonialmacht mit den einheimischen Iren, die sich erst aus historischer Entfernung als Unabhängigkeitskrieg herausstellen.
Ich war sehr angetan von der dichten und detailreichen Handlung, in der sich das steigende Chaos im und am Hotel mit dem Verfall des britischen Empire verwebt, von den grotesken Einzelheiten, mit denen sich die Hotelbewohner abfinden und von der Erzählstimme, die indirekt die überhebliche Haltung der Briten und nur wenig Hellsicht spiegelt – unter anderem haben zwar alle britischen Bewohnerinnen und Besucher des Hotels Namen, aber aus dem zahlreichen einheimischen Personal des Komplexes nur zwei Personen.
Der Roman (der erste aus Farells „Empire Trilogy“) ist ein großartiges Stück Commonwealth Literature aus unerwarteter Richtung,

31 – Elizabeth Strout, My name is Lucy Barton*
Ein kleines, seltsames Buch, das mir nahe ging. In Episoden wird das Leben der Titelfigur Lucy Barton beschrieben. Ausgangspunkt ist ein langer Krankenhausaufenthalt, auf den die Ich-Erzählerin immer wieder zurück kommt. Doch die Episoden reichen zum einen bis in ihre bitterarme früheste Kindheit zurück, zum anderen in eine weite Zukunft. Es bleibt bis zum Schluss unklar, wo gerade „Jetzt“ ist, die Erzählstimme scheint sich beim Erzählen ebenso zu suchen wie wir sie beim Lesen.

32 – Granta 145, Ghosts

33 – Birte Alber, Carsten Cording, Eichhörnchen entdecken!*
Genau dieses Buch hatte mir bislang gefehlt, um mir viele Fragen zu beantworten, die während der vergangenen Jahre meines Lebens Haus an Baum mit zahlreichen Eichhörnchen entstanden waren. Und es enthält ganz viele niedliche Eichhörnchenfotos!

34 – A.L. Kennedy, Serious Sweet
Für meinen Geschmack wollte der Roman zu viel. Ein Symptom: Er muss mit drei Schrifttypen arbeiten, um die Leserin mit der extrem verflochtenen Struktur nicht komplett zu überfordern.

35 – Meta Bene, Es gibt mehr Sterne als Idioten.*
Ich kannte die Cartoons von Meta Bene von seinem Twitter-Account, dieses schöne Buch gibt ihnen die angemessene Wertigkeit.

die Kaltmamsell

6 Kommentare zu „Bücher 2018“

  1. Mareike meint:

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    Gerne gelesen

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  2. Hauptschulblues meint:

    @6 Ferrante: Ihre Bücher haben H. nicht so gut gefallen, er hat sie aber brav gelesen.
    Er empfiehlt: Francesca Melandri.

  3. Ka meint:

    Vielen Dank für diese Liste – es sind einige Ihrer Empfehlungen auf meine Leseliste gewandert. Freue mich schon drauf.
    Ihnen ebenfalls vielen Dank für viele Inspirationen in 2018 die ich aus Ihrem Blog mitgenommen habe.

  4. Sabine meint:

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    Gerne gelesen

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  5. MissJanet meint:

    Ich lese auch immer weniger Bücher, schön zu wissen, dass das mit dem Lesen im Internet nicht nur mir so geht.

  6. Georg meint:

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    Gerne gelesen

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