Journal 16. Juni 2009

Mittwoch, 17. Juni 2009 um 6:36

Die Semiotik von Arbeitshierarchien

Mit einem neuen, altgedienten Kollegen hatte ich einen höchst interessanten Austausch über die Zeichensysteme in Unternehmen, die die hierarchische Einordnung eines Mitarbeiters oder einer Mitarbeiterin markieren. Denn klar: Das Gehalt wächst mit dem Aufstieg, und ab einer bestimmten Chefigkeit gibt es einen Dienstwagen. Aber diese Dinge sieht ja nicht, wer zum Beispiel eine Abteilung betritt und möglichst schnell herausfinden will, wer das Sagen hat. Meiner Berufserfahrung nach gibt es in jedem Unternehmen eine ungeschriebene Hierarchiesemiotik, die bei dieser Einschätzung hilft. Hier einige Beispiele:

Quadratmeter
In konservativen Bürolandschaften lässt sich die Hierarchie allgemeinverständlich an der Architektur ablesen: Fußvolk teilt sich mit mehreren Kollegen und Kolleginnen einen Raum, eine Gruppenleiterin ist am Eckplatz mit etwas Luft darum zu erkennen, erheblich chefiger macht die Zuweisung eines Einzelbüros, Oberchefs sind die Menschen mit Vorzimmer, in der Topposition inklusive mehrköpfigem Vorzimmerpersonal. (Sonderregeln gelten für lärmreiche Branchen, in denen Führungskräfte auf erheblich niedrigeren Hierarchieebenen Schallschutz erhalten.) Verheerend für dieses Zeichensystem ist die konsequente Einführung von Großraumbüros; oft brechen heftige Kämpfe um gelernte Hierarchiemarker in Wandform aus. Ich kenne nur eine Oberchefin (Ebene direkt unter Vorstand) eines traditionellen Großunternehmens, die einen Platz mitten in ihrer Mannschaft bevorzugt und ihr standesgemäßes Einzelbüro zu einem Besprechungsraum umbauen hat lassen.

Fenster
Es gibt Unternehmen, die die Ranghöhe von Führungskräften durch die Anzahl der Fenster in deren Büro signalisieren. Damit wird das Privileg des Einzelbüros unabhängig von Vorzimmer weiter heruntergebrochen. Die popeligsten Einzelbüros haben zwei Fenster, die besseren drei; die höchste Stufe sind vier Fenster über Eck. Obwohl auch dies nirgendwo festgehalten ist, sind erboste Beschwerden von Menschen belegt, die sich durch Unterfensterung diskriminiert fühlten.
(Andererseits stelle ich mir vor, wie Papi abends heimkommt: „Inge, mach den Sekt auf: Ich habe ein drittes Fenster bekommen.“)

Teppich
Auch dieses Zeichensystem funktioniert nur mit Einzelbüros. Abstufungen sind, wie ich mir habe erzählen lassen: überhaupt Teppich, schlichte Auslegeware, weicher Teppich, farbiger Teppich. Es lohnt sich sicher zu recherchieren, ob dieser Aufstieg mit einer bestimmten Zusatzmöblierung des Büros einher geht, also in Form von Sofas, Beistelltischchen etc.

Schreibtischstuhl
Sie glauben doch nicht im Ernst, die Form und Ausstattung eines Schreibtischstuhls hingen von Ergonomie ab. In modernen Großraumbüros wird das Sitzmöbel zur komplexen Aussage. Sachbearbeiter lassen sich wieder auf dem schlichten Modell ohne alles nieder, ATler und erste Führungsebene können dann schon die Arme auf Lehnen ablegen, richtig chefig wird es, wenn die Rückenlehne bis zur Kopfmitte wächst, und Hackenschlagen ist angesagt, wenn man auf jemanden zugeht, der unter sich das Ganze in Leder und Chrom hat. Doch auch dieses schöne System ist zerschießbar: Bei attestierten Rückenbeschwerden kann der Betriebsrat schon mal dafür sorgen, dass auch ein kleiner Tabellenschubser das High-Tech-Gerät untern Hintern bekommt. Wenigstens auf keinen Fall mit Lederüberzug.

Arbeitsgerät
Hier dürfte man sogar mit Funktion argumentieren: Wer aufgestiegen ist, arbeitet natürlich nicht nur nine to five, sondern nimmt sich auch mal Arbeit mit nach Hause. Manche Unternehmen unterstützten das, indem sie diesen Mitarbeitern einen Laptop spendieren. Man hat allerdings auch von Leuten gehört, die dieses Gerät als reines Statussymbol einfordern, ohne es je aus seiner Stationärbuchse auf ihrem Schreibtisch zu entfernen.

Parkplatz
Ein Grenzfall im Zeichensystem der Arbeitsplatzhierarchie, da man ihn nicht beim Betreten eines Großraumbüros sehen kann. Oft sind die Parkplätze größerer Unternehmen so weit von den Bürogebäuden entfernt, dass der Weg von dort zum Arbeitsplatz eigentlich ein Wanderabzeichen wert ist. Doch manche Firmengelände haben zudem noch ein paar Parkplätze in Sichtweite der Chefbüros, gerne in einem Innenhof. Wer seinen Dienstwagen auf solch einem abstellen darf, ist ganz sicher wer.

Kennen Sie weitere solche Zeichen?

§

Nach ausgiebigen Aerobic-Hopsen war die Unterwäsche wie immer tropfnass. Dummerweise hatte ich heute die Wechselwäsche für nach dem Duschen vergessen. Hiermit kann ich vermelden: Going commando unterm Businesskostüm fühlt sich sehr unerotisch an.

Nahrung: Café con leche, Planetenpfirsiche (ui, die reifen ja nach!), Seelachs mit Asiengemüse, Rohkostsalat, Milchkaffee, Rinderbrühe, gekochtes Rindfleisch mit Meerrettich, Schokolade (Persteiner Salzmandeln in Trinidad Blend Kakao – gut!)
Wetter: buntwolkig mit heftigen Regenschauern, warm

die Kaltmamsell

16 Kommentare zu „Journal 16. Juni 2009“

  1. Alice meint:

    Mit solchen Fragen beschäftigt sich eine ganze Wissenschaftsbranche: Die Organisationssoziologie. Man muss noch unterscheiden zwischen “Mit Kundenkontakt” und “Ohne Kundenkontakt”, organisationssoziologisch “Grenzstellen” genannt. An diesen Grenzstellen ist die Kleidungsfrage z.B. von grosser Bedeutung als Distinktionsmerkmal – etwa Plicht zur einheitlichen Dienstkleidung.

    Man sollte auch den Sinn von solchen Äusserlichkeiten ansprechen. Es sind symbolische Mechanismen, die die Kooperation lenken sollen. Selbst wenn sie nicht formell als Anspruch festgeschrieben sind, was jedoch oft der Fall ist, können sie nur Bestehen, wenn sie eine im Sinne der Unternehmensziele positive Wirkung haben.

    Übrigens haben sie was vergessen: Es gibt Distinktionsmerkmale, die über die eigene Organisation heraus eine Bedeutung haben. Dazu gehört der Blackberry.

  2. Sabine meint:

    Kennen Sie die “Business Class”-Kolumnen von Martin Suter?

  3. Malte Diedrich meint:

    Weiteres Distinktionsmerkmal: In welchem Zeitraum gilt die Zugangsberechtigung: Normale Mitarbeit von 8-17 Uhr, ATler von 7 bis 20 Uhr, Geschäftsführer immer. Und wichtige Geschäftsführer können mit ihrer Zugangskarte dann noch den Fahrstuhl exklusiv belegen und nach unten ohne Stop durchfahren.

  4. die Kaltmamsell meint:

    Ui, Malte, mir fällt sofort jemand ein, der Letzteres nie erfahren darf – sonst will er es auch haben.

  5. l9 meint:

    Weitere Zeichen:

    Einzelbüro mit oder ohne Vorhang.
    Großraumbüro: Abstand zum Fenster. Je mehr Fensterplatz desto besser.

    Extrem ist das dann in USA, wo es viel viel hierarchischer zugeht als in Deutschland (glaubt man kaum). Da gibts die Cubes. Chefs bekommen einen Cube am Fenster. Falls es aus Platzgründen nicht möglich ist, einem normalen Sachbearbeiter einen Platz in der Mitte des Büros zuzuweisen, wird das Fenster zugeklebt. Ich hab dreimal nachgehakt, ob das ein Scherz sei, kein Scherz (ka Schmäh).

  6. Ultru meint:

    Im Großraum die Höhe der Stellwand und die Positionierung der Büropalmen. Und der Chef hat ein Aquarium statt eines Zimmers in meinem Büro.

  7. Malte Diedrich meint:

    Der Bonus bei den Fahrstühlen ist übrigens: Wenn der durchrauscht, dann löscht er die jeweilige Anforderung auf dem Stockwerk. Man guckt also nach einiger Zeit auf den kleinen Knopf zur Fahrstuhlanforderung und stellt fest, dass er gar nicht mehr leuchtet. Happy, happy. Joy, joy.

  8. Nathalie meint:

    Ach herrje, deswegen bin ich nicht mehr Führungskraft, sondern selbständig. Damals:

    Großes Versicherungsunternehmen – ich, mittlere Führungskraft, will mein Büro (zu groß, drei Fenster) drei Mitarbeitern geben, deren Büro für sie viel zu klein ist (Ein Fenster, zum Innenhof) -> nicht durchführbar, nicht mal mit Eigenumzug.

    Ich stelle meinen Schreibtisch nicht im 90 Grad Winkel in mein Zimmer (s.o. Büro zu groß, sieht besser aus), darf ich nicht -> dürfen nur Vorstände.

    Im selben Unternehmen:
    Stehpulte gab es nur ab Vorstandsebene – haben nur Vorstände Rückschmerzen?

  9. carvo meint:

    Auch deutlich: Büro mit großem Fenster bis zum Boden und Vorhang oder Jalousien nach Wahl, Steigerung: Büro mit Balkon oder Terrasse, Steigerung: ein Balkonbüro mit eigenem WC (Geschäftsführung).

  10. kelef meint:

    schreibtischgrösse und -tiefe: je gross desto wichtig.

    anzahl der schränke im raum: je wenig desto toll.

    material der büromöbel: kunststoff, pressspan furniert, echtholz.

    besuchersessel und anzahl der diesen. bei besonders niedrigen tieren: nur ein container mit polster drauf.

    besuchertischchen im raum: vorhandensein und grösse desselben, anzahl der besuchersessel.

    pflanzen von der firma oder nicht.

    schreibtischlampen.

    zusätzliche stehlampen.

    bilder im büro: oft aus firmeneigenen kunstförderungsprogrammen. grösse, anzahl, buntheit und sujets entscheiden ebenso wie preis, bekanntheitsgrad des künstlers und evtl. rahmen über den rang der person.

    schreibtischgarnituren.

    telefonanlagen.

    fernsehgerät im raum?

    mir fällt sicher noch was ein.

  11. Ulf meint:

    Abschließbares Schloss in der Bürotür: Das gemeine Fußvolk hat nichts zu verschließen, der Chef gehört hinter Schloss und Riegel schon.

    Kaffeeservice: Das Fußvolk besorgt sich Koffein im Pappbecher am Automaten in der Cafeteria, ab Cheflevel x gibt es täglich zweimal Porzellankännchen mit Keksen auf Kostenstelle.

    Weihnachtsgeschenke von Geschäftspartnern: Weinflasche für Projektleiter, zwei Weinflaschen für Gruppenleiter, noble Wandkalender für Abteilungsleiter, Kunst oder edles Schreibgerät für die Bereichsleitung oder den Vorstand.

    »Wenn man ganz bewußt acht Stunden täglich arbeitet, kann man es dazu bringen, Chef zu werden und vierzehn Stunden täglich zu arbeiten.«
    (Robert Lee Frost)

  12. Kommentator meint:

    Von der Ausstattung mal ab. Eine Semiotik der Meetingkultur:
    Pünktlichkeit im Meeting – untere Chargen pünktlich, dann Warten auf höhere Chargen, zehn Minuten nach Termin Eintreffen der hohen Chargen, dann Meetingbeginn.
    Telefonieren im Meeting – untere Chargen sind mobil nicht versorgt (kein Nachteil, die elektronische Fußfessel muß man nicht haben), höhere Chargen simsen und organizern unentwegt, hohe Chargen telefonieren unverforen, während der Rest zuhören und warten muss.
    Meeting verschieben oder schwänzen – gerne mal fünf Minuten nach Beginn (natürlich nur höhere Chargen), hohe Chargen Nichterscheinen trotz Terminzusage, das Fußvolk kommt immer (und wehe nicht).
    Einladung kurzfristig – Kalenderfunktion ade, private Termine ohnehin – zumindest für untere Chargen. Die haute volee lädt ein, der Rest muß springen (oder absagen, aber nicht das Meeting, sondern den privaten Termin).
    Vorbereitung aufs Meeting – Vorbereitung? Welche Vorbereitung? (Nur für höhere Chargen aufwärts geeignet).
    ——–
    Zu “Arbeitsgeräte”:
    In der Stuttgarter Zentrale eines großen Unternehmens trug sich zu meiner Zeit dort zu, dass die IT die Nutzungsrequenz der im Gebäude installierten PCs analysierte und dann anfing, reihenweise PCs aus den ganz “dicken” Büros abzuholen – Begründung: “Die schauen nur einmal in der Woche in das Intranet-Telefonbuch, das kann auch die Sekretärin erledigen”. War ganz großes Tennis, im Nachgang ergab die Analyse der ganzen Angelegenheit ein niedriges Humor- und dafür umso größeres Aggressionspotential bei Leitungskräften.

  13. croco meint:

    So gekonnt und schnell den Unterricht zu verlassen, um noch einen Sitzplatz im Lehrerzimmer zu ergattern :-))
    Bis auf die Parkplätze direkt am Gebäude für Leitung und selbsternannte Wichtigkeiten gibt es wenig, was bei uns als Belohnung gedacht ist.

    Sekretärin…nur der Chef.
    Büro…selbst bezahlt und zu Hause.
    Computer….selbst bezahlt und zu Hause
    Klassenfahrt…selbst bezahlt
    Bücher….selbst bezahlt

    Das heimatliche Arbeitszimmer kann man nicht mal mehr von der Steuer absetzen.

    Achja, Klassenleitung gibt eine Klassenleiterstunde.
    Und Extremengagement gibt eine Ermäßigungsstunde pro Woche
    (es gibt 8 davon pro Schule)

    Ein bisschen dooof sind wir schon…..

  14. schiachesuse meint:

    ein kurzer gedanklicher Ausflug zum Thema “ARBEITNEHMER” (so stehts auf meiner Linz09-RebellInnen-Tasche gedruckt):

    Die Arbeit ist das einzige, was die Nichtbesitzenden immer den Besitzenden nehmen dürfen, ohne dass die Polizei sofort einschreitet. Sie heißen dann Arbeitnehmer. Die Besitzenden aber, die die zur Erhaltung und Vermehrung ihres Besitzes unentbehrliche Arbeit abgeben, weil sie selbst nicht gerne schwitzen, heißen Arbeitgeber. (Herbert Müller-Guttenbrunn, 1931)

  15. waltraut meint:

    Going commando – hab ich noch etwas dazugelernt.

  16. outrage meint:

    Zugangsberechtigung: Chipkarten – wer darf (bei grossem Werksgelände) wo rein und raus, wer darf wo ein- und ausstempeln. Untere Chargen müssen einen bestimmten Eingang und eine bestimmte Stempeluhr benutzen (der Sinn dessen hat sich mir nie erschlossen). Schliessanlage – wessen Schlüssel öffnet welchen Raum – je höher, desto mehr Räume.
    Kleidung: Ich hab mal in einem Baumarkt ausgeholfen, da war die Hierarchie an der Farbe der Arbeitsmäntel zu erkennen. Befristete Hilfskraft – orange. Einfacher, fest angestellter Mitarbeiter – blau. Chef – weiss. Ich hatte zum Glück gleich am ersten Tag im Waschraum einen blauen Kittel gefunden und dafür meinen orangenen zurückgelassen…

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