Nachbarn
Mittwoch, 8. September 2004 um 12:50Die Unterhaltung bei pepa über seelenheilende Musik brachte mich drauf: Meine Nachbarn hätten mich um meine Magisterprüfungen herum wegen der Dauerbeplärrung durch die Bachmotette Jesu meine Freude vermutlich erwürgt – wären das nicht zwei Kontrabassisten über mir gewesen und eine meist menschenleere Kunstgalerie sowie ein Weinlokal unter mir.
Dabei stand ich nie eng mit Nachbarn; I am a very private person after all. Obwohl es über alle Nachbarn meines Alleinlebens Geschichten zu erzählen gäbe.
Zunächst in Eichstätt, meinem ersten Zimmer nach dem Auszug aus dem Elternhaus. Die Küche benutzte ich zusammen mit einer Krankenschwester, die ich praktisch nie sah. Doch das Bad teilte ich mir zudem mit dem Fräulein Anni. Sie war die alte, kleine, halslos dicke Schwägerin eines ebenfalls alten Schreiners, dem das Haus gehörte. So manchen Abend klopfte sie vorsichtig an die Tür meiner Wohnküche unterm Dach, um unter einem Vorwand ein Gespräch zu beginnen. Nie ließ sie sich dazu bewegen, Platz zu nehmen. Doch weil sie es mit der Hüfte hatte, stützte sie sich immer mit den Unterarmen auf eine Stuhllehne und drückte dadurch den Busen so weit hoch, dass er mit ihrem Kinn zu verschmelzen schien.
Es stellte sich heraus, dass das Fräulein Anni seit ihrer Kindheit hatte ins Kloster der ortsansässigen Benediktinerinnen (St. Walburg) gehen wollen. Nur kam sie aus armen Verhältnissen und brachte deshalb die damals noch für den Eintritt nötige Mitgift nicht zusammen. (Ich habe seinerzeit mal wegen einer Oster-Geschichte im Kloster St. Walburg recherchiert: Die alten Ordensschwestern stammten tatsächlich alle aus besten Häusern.) So arbeitete das Fräulein Anni bis ins hohe Alter in der Klosterküche, um wenigstens auf diese Weise ihrem Lebenstraum nahe zu kommen. Sie ist schon vor vielen Jahren gestorben, meine Mutter schickte mir die Todesanzeige (hm, ich glaube, Heimat ist, wo einen die Todesanzeigen der Lokalzeitung interessieren).
Zurück in meiner Geburtsstadt lebte ich in einem älteren baugenossenschaftlichen Wohnblock; um mich herum fast ausschließlich türkische Einwanderer. Viel Kontakt hatte ich nicht, allein schon wegen meiner Arbeitszeiten beim Radio. Doch ich fand es beruhigend, dass ich zu jeder Nachtzeit heimkommen konnte und irgendwo noch Licht brannte. Oder im Sommer die Frauen nachts draußen saßen, eine Handarbeit auf dem Schoß, die Kinder um sie herum spielend. Als die Familien von ihren Sommeraufenthalten in der Türkei zurückkamen, holte ich mir den Raki-Rausch meines Lebens: Alle Wohnungstüren standen offen, auf dem Laubengang davor ging es fröhlich zu, ich wurde von allen Seiten auf mitgebrachte Köstlichkeiten eingeladen. Und beging den Fehler, den ekligen Raki möglichst schnell runterzukippen, um den unangenehmen Geschmack weg zu bekommen. Meine Nachbarn missdeuteten die Geschwindigkeit als Begeisterung und schenkten ebenso schnell nach.
Bevor ich die Studentenwohnung im ältesten Teil von Augsburg bekam, musste ich sie mir anhören. Eine befreundete Cellistin hatte sie mir vermittelt, sie kannte die beiden Kontrabassisten im Stockwerk darüber. Musiker tun sich eh schwer mit Nachbarn, also musste ich versprechen können, mich nie über das Üben der beiden Überwohner zu beschweren. Dazu musste ich wissen, was auf mich zukam. Ich stellte mich in mein zukünftiges Wohnzimmer, die beiden Bassisten stiegen die dreihundert Jahre alte schmale Holztreppe hoch und begannen zu spielen. Den einen direkt über mir, ein großer und klobiger junger Mann, hörte ich sehr deutlich, jede einzelne Note. Den anderen nur mit Anstrengung. So oder so war mir sofort klar, dass ich mich nie beschweren würde: Ein Profi holt aus dem ungetümen Möbel Kontrabass die wundervollsten Töne. Mit viel Wehmut erinnere ich mich an die Tage, an denen der Nachbar für ein Vorspielen die Bass-Fuge aus der 5. Symphonie von Beethoven übte (3. Satz?), die ich ohnehin immer besonders geliebt hatte.
Er zog Jahre später nach Spanien. Ihm war klar geworden, dass er es nie in ein A-Orchester bringen würde – schon gar nicht, wenn er sein Hobby Eishockeyspielen weiterverfolgen wollte. Also suchte er sich ein gepflegtes Orchester in einer wärmeren Gegend, dessen Standort über ein Eisstadion mit Mannschaft verfügte. Zuletzt hörte ich aus Granada von ihm.
Mein heutiger Mitbewohner war der erste Mensch, mit dem ich zusammenzog. Wieder in eine zentrale Altstadtwohnung, über einer Metzgerei und zwei Stockwerken Arztpraxis. Von der herzlichen Filialleiterin der Metzgerei habe ich viel über Fleischsorten und ihre Zubereitung gelernt. Der ziemlich abgeerntete und kettenrauchende Lungenfacharzt aus Ostdeutschland, der jeden Morgen mit Kippe im Mundwinkel und BILD-Zeitung unterm Arm in die Arbeit kam, hat maßgeblich zur Vernichtung letzter Reste meines hehren Medizinerbildes beigetragen.
Jetzt wohne ich in einem durch und durch ehrenwerten Haus. Hier gibt es nicht mal Hausmitteilungen an der Wand; statt dessen bekommt jede Partei ein vervielfältigtes Exemplar in den Briefkasten. Dass um uns herum vor allem Chirurgenwitwen wohnen, wissen wir vom uralten Hausmeister und seiner Frau. Meine Arbeitszeiten und der Aufzug sorgen dafür, dass ich höchstens einmal die Woche überhaupt jemandem im Haus begegne. Die Leute aus der Wohnung gegenüber sind vielleicht mal eine Geschichte wert, wenn ich ein Beispiel für Beziehungsalbträume brauche.
die Kaltmamsell5 Kommentare zu „Nachbarn“
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8. September 2004 um 15:21
Den “abgeernteten und kettenrauchenden Lungenfacharzt aus Ostdeutschland” hätte ich ja zu gern einmal gesehen.
Eine Patientin erzählte mir einmal, dass, als sie irgendwann Anfang der 70ziger in einem kleinen Kreiskrankenhaus, eine Narkose bekommen sollte, der Anästhesist mit einer Kippe im Mundwinkel im Op erschien und sie mit einem gegrunzten “ich bin der Gasmann” ins Land der Träume schickte.
Ihre Affinität zu Ärzten, speziell zu denen meiner Zunft, hatte dadurch schon ein wenig gelitten.
Und das mit den orchestralen Nachbarn, das kennen ich auch.
Im Studium habe ich neben einer angehenden Fagottistin gewohnt. Das ging ja noch, ein Fagott ist ja nicht sooo wahnsinning durchdringend. Als aber ihre oboistische Kollegin bei ihr einzog, war es mit dem Anatomiepauken in den eigenen vier Wänder erst einmal vorbei. Gegen diese Tröte war einfach nicht anzukommen!
8. September 2004 um 15:33
Ich sag Dir, der Typ sah aus, als gehörte er eigentlich in einen kunstseidenen Trainingsanzug und vor den Fernseher, aber garantiert nicht auf die Täterseite einer Arztpraxis.
8. September 2004 um 16:05
*pruuust*
Ein solches Kollegen-Exemplar soll es hier auch irgendwo geben (munkelt man!).
Als ich mit dem Bereitschaftsdienstfahren anfing, war ich zunächst bezüglich meines Outfits etwas unsicher (wir fahren ja in Zivil!) Deshalb fragte ich meinen Fahrer, ob das, was ich da an hätte, auch okay sei.
Der musterte mich von oben bis unten, fing an zu grinsen und meinte nur: “Na also, da müssen sie sich aba keene Sorgen machen! HamSe ma die komische graue Windjacke von den Dokta XY jesehn?”
8. September 2004 um 17:23
bei uns im studentenwohnheim wohnte ein verquerer holländer, der uns mitbewohner gerne sonntagsmorgens mit ausgiebigen Hornübungen aus den betten gejagt hat. wir haben dann zur rache parallel unsere zimmer gesaugt. ein schwacher trost…
[obwohl in diesem falle galt: lieber ein gedämpft dröhnendes Horn, als ein redender holländer. spiel weiter, hemmo, spiel weiter…]
9. September 2004 um 9:17
Mein erstes Zimmer war in einem Internat in dem ich untergebracht war während meines Zivildienstes. Soweit so gut, nur leider waren es alles ostdeutsche rechtsradikale Gerüstbauer. Hübsch zum angucken, aber hätte ich zu lange gestarrt wäre ich wohl brei. Inzwischen eine schnuffelige 3-er WG im schönsten Stadtteils Darmstadt mit meinem besten Freund und einem Komilitonen. Über uns lärmt der Sohn der Vermieterin mit Usher (!!) und mein Zimmer wird über den Balkon mit dem Hinterhof (Spielplatz und Gartenlauben multiethnischer Drumherumwohner). Zudem noch ein Hifi Enthusiast der Jazz liebt. Nichts schlägt Billie Holiday morgends um 3 Uhr wirklich vor sich stehen zu haben… wundervoll.