Journal Freitag, 11. Oktober 2019 – Schutz des Sabbatgebets
Samstag, 12. Oktober 2019 um 8:58Ein bunter, sonniger Oktobertag, morgens noch so frisch, dass die zum Bürofenster hereinwehende Luft eine salzige Note von See hatte.
Beim mittäglichen Zeitunglesen (zu Brot, Tomate, Quark mit Maracuja) stieß ich im Lokalteil auf die Erwähnung einer Menschenkette um die Synagoge am Jakobsplatz, zu der sich um 17.30 Uhr versammelt werden sollte. Nach dem Attentat auf die Synagoge in Halle hatte ich das sehr große Bedürfnis, etwas zu tun, hier sah ich eine Chance: Mich am Schutz des Sabbatgebets zu beteiligen.
Gleichzeitig immer die Angst, doch bloß mich zu meinen, mich in den Vordergrund zu schieben. Grübeln, wie ich es anstellen könnte, dass es wirklich nicht um mich geht, sondern um Jüdinnen und Juden, die auch in Deutschland einfach nur ihren Alltag ohne Anfeindungen und Bedrohung leben können sollen. Ich kam zu dem Schluss, dass es das Mindeste war, den Antisemiten durch möglichst zahlreiche Anwesenheit zu zeigen, dass sie der destruktive Rand sind und keineswegs die Mehrheit. Denn gleichzeitig mache ich mir keine Illusionen über meinen Mut, sollte ich bei meinem regelmäßigen Passieren der Synagoge (das kommt ja dazu: die dort aktiven Müncher Juden sind praktisch Nachbarn) einem Attentäter begegnen, der gerade das jüdische Gemeindezentrum angreift.
Ich machte also früh Feierabend, hielt auf dem Heimweg mein Radl am Vollcorner für ein paar Einkäufe an, ruhte daheim kurz aus (Kreislaufprobleme) und ging dann mit Herrn Kaltmamsell rüber zum Jakobsplatz. Dort hatte sich die Menschenkette um die Synagoge bereits geschlossen, es wurden auf einem improvisierten Podest Reden gehalten: Es sprachen Vertreterinnen und Vertreter der evangelischen Landeskirche, die die Aktion organisiert hatten, bayerische Landtagspräsidentin Ilse Aigner (sehr wohlgesetzte Worte – ich vermisse ihre Sichtbarkeit in der bayerischen Politik), bayerischer Justizminister Georg Eisenreich. Alle verwiesen sie darauf, dass Menschenfeindlichkeit, Antisemitismus und Rassismus bei Sprache beginnt. Applaus gab es auch für die Münchner Polizei, die laut Organisatorin zu dieser Aktion ausdrücklich ermutigt hatte.
Eine Schweigeminute um 18 Uhr – in der nicht nur die immer goldenere Sonne den oberen Teil der Synagoge beschien, sondern in der auch die umliegenden Kirchen (wie jeden Abend um die Zeit) läuteten. Dass zum Beginn des Sabbatgottesdienstes hebräische Lieder gesungen wurde, bereitete mir dann wieder Unbehagen – ich empfand das als Störung und ein wenig aufdringlich. Doch dann war Ruhe, wir standen und spazierten bis nach sieben auf dem Jakobsplatz.
Daheim wartete schon das Abendessen: Herr Kaltmamsell hatte Rinderwade in Rotwein geschmort, die gab es mit Ernteanteilsalat. Ich riskierte Alkohol, es gab Prosecco-Spritz mit Zitronen-Basilikum-Sirup (Geschenk aus Freiburg).
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Marina Weisband schreibt bei der Zeit Kluges über die Hintergründe und Wurzeln des gewalttätigen Antisemitismus – nicht nur aus ihrer privaten Perspektive, sondern aus der einer Psychologin und Politikerin:
“Ich will auch ohne Polizei sicher beten können”.
Die Gesellschaft hat es sich lange bequem gemacht, behauptend, Antisemitismus sei ein muslimisches Problem. Es sei mit den Flüchtlingen importiert worden. Ich habe nie größeren Quatsch gehört. Es gibt muslimischen Antisemitismus. Aber der deutsche lebt und gedeiht ebenfalls heiter. Und wenn wir uns den Nahostkonflikt nach Deutschland importieren, gewinnt niemand. Wir spielen nur eine Minderheit gegen die andere aus. Es ist auch völlig unnötig. Denn nach Anschlägen wie diesen zeigen Juden und Muslime jeweils auch große Solidarität zueinander. Hier ist eine Chance auf Frieden. Von rechtem Terror sind beide bedroht. Selbst wenn einige jüdische AfD-Anhänger es anders sehen – wo im Westen gegen Muslime gehetzt wird, geht es irgendwann auch gegen Juden. Denn die Gemeinsamkeit ist Menschenverachtung. Wer bereit ist, einer Gruppe Menschen Gleichberechtigung abzusprechen, ist auch bereit, es gegenüber jeder anderen zu tun.
(…)
In Onlinecommunitys wie 8chan, in Chats von Spielen, aber auch auf Facebook und Twitter, in Blogs und auf YouTube gibt es eine Menge Gruppen, in denen sich desillusionierte, manchmal gelangweilte, manchmal frustrierte und deprimierte junge Männer sammeln und ihren eigenen Hass auf alle marginalisierten Gruppen nicht nur ausleben, sondern sich gegenseitig darin bestärken. Sie haben eine eigene Sprache entwickelt, eigene Memes, Geheimzeichen und Codes. Dort sozialisieren sie sich. Und dort werden sie aggressiv von Rechtsradikalen rekrutiert. Und einige machen mit. Und einige töten Menschen. Und filmen sich dabei. Weil sie jetzt endlich die Anerkennung kriegen, die die Gesellschaft ihnen verwehrt habe. Weil die Gesellschaft, die Kommunen, die Schulen gerade jungen Männern keine ausreichenden Sozialstrukturen und Wirkungsräume zur Verfügung stellen. Das ist keine Entschuldigung für Mord. Aber es ist der Ort, wo Radikalisierung beginnt. Eigentlich müssten wir hier ansetzen.
die Kaltmamsell
1 Kommentar zu „Journal Freitag, 11. Oktober 2019 – Schutz des Sabbatgebets“
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12. Oktober 2019 um 17:59
H. ist gestern nicht zum Jakobsplatz gegangen.
Ist aber, was Faschismus angeht, immer verstörter.
War heute dort, mit Z.
Keine Polizei. Die vielleicht versteckt.