Belehrung
Donnerstag, 7. Oktober 2004 um 9:15Lyssa dokumentiert eine Beobachtung, die so wunderbar typisch deutsch ist, wie sie in England nie passieren könnte (zur britischen Abneigung gegen „making a fuss“ bitte bei Eurotrash lesen).
Das erinnerte mich zum einen an den Patienten gestern im Wartezimmer meines Orthopäden, der mit Argusaugen (und Argos hatte mindestens 100 am ganzen Leib) darüber wachte, dass die Reihenfolge der Patienten an der Anmeldung eingehalten wurde. Der jeden Neuankömmling anbellte: „Wir warten auch!“ und jeden Versuch, das unbesetzte Anmeldezimmer zu betreten, verhinderte – lautstark und notfalls mit Hilfe seiner Krücken. Dabei war er gar nicht mal alt. Genauso typisch deutsch ist natürlich, dass ich diesen Aufpasser geheuchelt freundlich fragte, ob er in der Arztpraxis als Hausmeister angestellt sei und damit einen Wutanfall auslöste. Ebenfalls „making a fuss“.
Zum anderen fiel mir eine Geschichte aus meiner Volontärszeit ein. Mein hagerer Verleger führte Zeitung und Druckhaus gnadenlos und diktatorisch („patriarchisch“ hätte zu viel Fürsorge für seine Angestellten impliziert). Eines Tages hing in beiden Aufzügen des Verlagshauses ein gedruckter A4-Zettel in Klarsichtfolie:
Rauchen
im Aufzug
verboten
Am zweiten Tag stand darunter – sauber, klein und handgeschrieben:
(die Internatsleitung)
Am dritten Tag waren die Zettel weg. Ich und die meisten Kollegen waren sich sicher, dass der ebenso hagere aber kettenrauchende Feuilleton-Chef dahinter stand. Der kurz darauf wegen Renitenz ohnehin rausflog, Redaktionsverbot bekam und fürderhin seine Theaterbesprechungen in der Technik ein Geschoß unter dem Redaktionsstockwerk verfasste. (Jajaja, irgendwann packe ich die Redaktionsgeschichten schon noch aus.)
die Kaltmamsell5 Kommentare zu „Belehrung“
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7. Oktober 2004 um 10:09
Manchmal habe ich auch den Verdacht, dass den Aufpasser spielen, oder »sich aufmandeln« wie man hierzulande sagt, etwas typisch deutsches ist. In anderen Ländern – die ich noch nicht so heftig lange besucht habe – sind mir noch keine Zettelschreiber und Sicheinmischer begegnet. Autoparkgeschichten wie die bei Frau Lyssa könnte ich auch stapelweise erzählen. Wobei mir beim dazugehörigen Bild doch auffällt, wie sehr der Deutsche in seiner Rage auch immer noch ordentlicher Büromensch ist: Stecken doch die Schmähzettel allen ernstes säuberlich in Klarsichthüllen. Ein Italiener würde den Text mit seinem Taschenmesser einritzen?
Obwohl: In der Schweiz, in dem Land, in dem es über der Baumgrenze auf den Bergen noch Hundekotbeutelspender gibt und man auf der Post wie bei Ämtern eine Wartemarke ziehen muss, wenn man auch nur eine Briefmarke will, kleben Zettel in den Aufzügen der Mietshäuser, die einen über die Mülltrennung belehren und fordern, die Klarsichtfenster aus den papierenen Briefumschlägen zu entfernen und getrennt zu entsorgen. Sehr undeutsch ist das auch nicht.
7. Oktober 2004 um 10:39
Es ist aber auch auffällig wie extrem unverschämt und egoistisch die Leute hierzulande die Regeln guten Benehmens missachten. Als ich neulich in einer zugegeben recht langen Schlange im Kino stand konnte ich beobachten wie sich hinter mir ein Mann extrem auffällig unauffällig nach vorne zu mogeln versuchte. Als er dann wie durch Zufall plötzlich direkt neben mir stand trat ich einen Schritt zur Seite, winkte ihn mit einer Handbewegung nach vorne und sagte “Bitte sehr, Sie scheinen es extrem nötig zu haben”. Mein Angebot nahm er nicht an sondern begab sich statt dessen mit hochrotem Kopf an das Ende der Schlange.
7. Oktober 2004 um 11:28
Ja, mir stieß mal einer beim durch-die-Reihe-drängeln das Bier im Kino um. Seinerseits keine Reaktion. Ich habe fluchend die Flasche vor weiterem auslaufen bewahrt und die Sauerei eingedämmt. Dann entspann sich folgender Dialog:
»Hallo, das war mein Bier…«
»Ja, das habe ich nicht gesehen«
»Äh, gut, aber es war voll und nun ist es eher leer.«
»Ich sagte doch: Ich habe es nicht gesehen.«
Weiter Entschuldigungsanstalten machte er nicht. Unser aller Glück, dass nun gerade das Licht ausging. Sonst hätte ich …
…mir noch schnell ein neues Bier kaufen müssen.
7. Oktober 2004 um 14:00
Das muss aber schon eine Weile zurückliegen: In welchem Aufzug darf man heutzutage noch rauchen?
Ich finde, dass Raucher ihrer Neigung ganz genau dort nachgehen sollten, wo es niemanden anders stört. Solche Räume sollte es in einem Betrieb geben, aber überall sonst muss das Rauchen tabu sein. — Und kalter Rauch im Aufzug ist nicht nur störend, sondern auch eklig und gesundheitsschädlich.
11. November 2004 um 17:47
Hm, ich bin da immer sehr skeptisch, wenn jemand etwas “typisch deutsch” findet. Zum einen ist das schon fast eine Attitüde; wenn irgendwas als unschön empfunden wird, gilt es schnell als “typisch deutsch”, ganz gleich wie es in anderen Ländern wäre, ganz gleich, wie sehr es gerade das Deutsche charakterisiert. Zum anderen wird es irgendwie immer nur auf Negatives angewendet. Ich bin ja nun nicht gerade ein Nationalist, aber dieses Selbstzerfleischung ist nun eines der ganz wenigen Dinge, die ich nun selbst wirklich “typisch deutsch” finde… herrlich paradox, dennoch wahr.