Es gibt auch andere Depressionen
Dienstag, 6. Juli 2010 um 6:27Ich schlafe weiter oder tue so, während du tust, als seist du nicht da. Während du planst, wie das gehen könnte, das Weggehen, das Sich-Auflösen, das Von-der-Welt-Verschwinden, das Sich-aus-der-Welt-Befördern. Bis du mich aufweckst mit deinem Weinen, deinem Zittern, deinem Wegtreten, Abdrehen, Durchdrehen. Oder deinem Stillsein, das mich am meisten aufschreckt. Deine klaren Momente, in denen du merkst, dass das alles ein Missverständnis war: das mit dem Geborenwerden.
Dass es einfach Menschen gibt, die zu schwach sind für diese Welt. Dass man das doch alles nicht von dir verlangen kann. Dass doch
alle immer nur denken würden, dass du das alles kannst. Aber du kannst es nicht. Das ist zu groß, zu schwierig, zu schwer. Zu belastend für die anderen, zu belastend für mich. Du wärst doch auch froh, wenn ich endlich weg wäre. Sagst du. Was soll ich denn noch hier. Fragst du. Und fragst nicht rhetorisch.
Er lässt mich nicht los, Daniel Mezgers Bachmannpreiswettbewerbstext.
Lähmung, Interesselosigkeit, Apathie – sehr häufig äußern sich Depressionen in dieser Form. Die meisten Menschen haben zurecht beim Stichwort Menschen vor Augen, die nicht aus dem Bett kommen. Erst kürzlich habe ich erfahren, dass die Schwester einer Freundin wegen Depressionen drei Jahre lang arbeitsunfähig war und erst jetzt langsam wieder in ein Erwerbsleben zurück findet.
Doch jetzt gibt es wieder einen Fall, der nicht dazu passen will:
Im Beruf erlebten sie Kollegen und Gesprächspartner als lebenslustige und engagierte Richterin, doch von den Sorgen, die sie quälten, bekam kaum jemand etwas mit.
Wie können Erfolgsmenschen, oder auch nur überdurchschnittlich rührige und engagierte Menschen depressiv sein? Oder, Sie erinnern sich, erfolgreiche Spitzensportler? Doch, das geht.
Gleichzeitig überfordert zu sein von zu viel Wahrnehmung und doch die Wahrnehmungen nicht zu spüren. Wenn jeder Anblick entweder traurig macht oder Angst auslöst. Und der Sommer doch keine Chance hat, nur per Verstand wahrgenommen wird und bei verbliebener Lebensfähigkeit zur Wahl der angemessenen Kleidung und Bettdecke führt. Auf dem Weg in die Arbeit rinnen die Tränen. Doch beim Aufsperren der Bürotür reicht ein sehr tiefer Atemzug, um den Arbeitsmodus in Gang zu bringen.
Wenn diese Menschen es bis zu einem natürlichen Tod schaffen, sollte man ihnen das auf den Grabstein schreiben.
die Kaltmamsell11 Kommentare zu „Es gibt auch andere Depressionen“
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6. Juli 2010 um 8:18
liebe frau kaltmamsell,
es ist so wahr, was sie beschreiben und wie sie es beschreiben. und ich hab gerade tränen in den augen, so sehr finde ich mich darin wieder.
danke.
6. Juli 2010 um 10:14
Und man meint, man muss es aushalten.
Und man käme aus der Traurigkeit nicht mehr heraus.
Muss man aber nicht.
Kommt man aber doch irgendwann.
Ich denke dann immer an Janosch .
Er hat in einem Interview erzählt, dass es aus seinen Sachen am Ufer des Ammersees eine Haufen gemacht hat und alles angezündet.
Und dann hat er ein neues Leben begonnen.
Der Weg bleibt immer.
6. Juli 2010 um 11:18
Danke für diesen Beitrag zum Thema. Der Tweet passt hervorragend und ist so wahr, ebenso wie Ihr letzter Satz.
Übrigens: Genauso wenig, wie man alle Menschen über einen Kamm scheren kann und darf, kann man auch die Art und Weise wie sich diese Krankheit ausdrückt/ausprägt und was man zu tun oder zu lassen hat, damit sie bekämpft werden kann. Was bei dem einen funktioniert hat, muss beim anderen noch lange nicht funktionieren. Die von manchen so bejubelten neuen Antidepressions-Mittel sind längst auch nicht so hilfreich, wie vielfach behauptet. Sicher sind sie in manchen Punkten besser als die früheren Medikamente aber auch die neuen haben ihre Tücken und bei schwerst depressiven Menschen wirken sie häufig immer noch nur kurzfristig.
Diese Krankheit ist und bleibt Stigma- und Vorurteil-behaftet – leider.
Das “Aushalten” oder “Durchstehen” der schweren Phasen ist tatsächlich dann das entscheidende Moment. Da aber kommt wieder das Umfeld, die Menschen drumherum, zum Zug. Halten sie mit aus? Stehen sie mit durch und unterstützen damit diejenigen, die von dieser Krankheit geschlagen sind und sich durch jeden einzelnen Tag schlagen und kämpfen müssen oder wenden sie sich ab, weichen aus, verdrängen es? Es ist relativ einfach für die Gesunden sich, wenn sie mit Depressiven konfrontiert sind, abzuwenden und zu verweigern (und nebenbei den Erkrankten den alleinigen “Schwarzen Peter” zuzuschieben). Diejenigen aber, die es mit aushalten und durchstehen, sind aus Sicht gerade auch der erkrankten Betroffenen ein wahres Geschenk und echte Helden.
6. Juli 2010 um 16:14
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6. Juli 2010 um 17:10
Ich finde es schwierig zu glauben, dass sich diese motivierte starke Frau selbst erhängt hat. Wenn man die Anzeichen von Depression bei anderen sehen will, kann man sie sehen. Ich weiß wirklich, wovon ich spreche.
6. Juli 2010 um 17:58
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6. Juli 2010 um 18:13
„Es ist relativ einfach für die Gesunden sich, wenn sie mit Depressiven konfrontiert sind, abzuwenden und zu verweigern (und nebenbei den Erkrankten den alleinigen “Schwarzen Peter” zuzuschieben).”
Wenn konfrontiert heißt, dass man plötzlich auf sie stößt, vielleicht. Wenn man aber einem Menschen nah wird oder schon lange ist und es erst in dieser Nähe bemerkt, kann alles schwer werden, das Bleiben wie das Wenden – das gerade, wenn es wie im Text oben verlangt wird, um sich oder den anderen zu schützen. Manchmal hilft es einzusehen, dass man die Traurigkeit schon früh durchscheinen sah und vielleicht sogar von ihr gefesselt war – manchmal macht einem das aber auch Angst vor sich selbst bis zu der Frage: Habe ich mich da selbst gesehen? Oder werde ich es jetzt? Und wird damit alles nur noch schlimmer?
Ist es für die Nicht-Gesunden nicht auch sehr schwer, auf Depressive zuzugehen und sich ihnen zu öffnen?
6. Juli 2010 um 22:56
—Wie können Erfolgsmenschen, oder auch nur überdurchschnittlich rührige und engagierte Menschen depressiv sein? Oder, Sie erinnern sich, erfolgreiche Spitzensportler? Doch, das geht.—-
Weil Selbstvertrauen und Selbstwertgefühl eben nicht das Gleiche sind.
Selbstvertrauen ist das, was andere von dir sehen, Selbstwertgefühl ist das eigene Innere.
7. Juli 2010 um 8:23
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7. Juli 2010 um 19:12
Danke.
8. Juli 2010 um 15:00
Ich lese Ihren Text und den verlinkten Artikel heute nicht zum ersten Mal. Aber morgen fange ich wieder zu arbeiten an, nach 9 Tagen Urlaub, und für mich ist das … schon irgendwie nachvollziehbar.
Seit ein paar Tagen geht mir das Büro bzw. was dort auf mich wartet nach dem Urlaub nicht mehr aus dem Kopf… ausgeprägtes Katastrophendenken.
Dabei lebe ich eigentlich für die Arbeit, stehe mir aber zunehmend selbst im Weg, weil mir nie gut genug ist, was ich mache.
Es graut mir auch vor den Fragen der Kollegen: “Wie war dein Urlaub ? Was hast du gemacht ? Hast du ihn genossen ?” – Ich versuche mir schon Antworten zurecht zu legen, die nicht allzu abweisend oder bescheuert klingen. Wirkt doof, wenn ich sage, ich habe mindestens drei Urlaubstage gebraucht, um nicht mehr ans Büro zu denken, und die letzten 4 Tage meines Urlaubs habe ich dann schon wieder begonnen, ans Büro zu denken.
Dabei gelte ich im Büro überhaupt nicht als sonderlich. Vielmehr als hilfsbereit, zuverlässig, freundlich, mit offenem Ohr, kollegial, als auch im Privatleben sehr engagierte Frau. Ja, und das mit dem vollen Terminkalender, das kommt mir nur zu bekannt vor. Jede Lücke wird gestopft, um nur nicht mit mir alleine zu sein.
Auch an jedem Montag, wenn man mich fragt, was ich denn am Wochenende gemacht habe, überlege ich erst mal und lege mir eine Antwort zurecht; mein Wochenende ist zwar im Grunde oft von Freitag Abend bis Sonntag Abend durchgeplant, aber ich kann mich an nichts erinnern, was mich mit Freude erfüllt hat. Es ist alles bedeutungslos, ohne Inhalt. Ich bin für andere da, nehme aber nichts mehr für mich mit.
Man gewöhnt sich überraschend schnell und gut daran, nur zu funktionieren – aber es ist extrem schwierig, diesen Prozess umzukehren.
(Womit ich jetzt eigentlich was anderes geschrieben habe als ich schreiben wollte, aber sei’s drum.)
Danke für Ihren Text.