Journal Dienstag, 22. März 2022 – Die geliehene Figur

Mittwoch, 23. März 2022 um 6:34

Trotz dreimal Aufwachen fühlte sich der Schlaf tief und erholsam an, ich genoss ihn.

Draußen war’s wieder Raureif-frostig, derzeit schwanken die Temperaturen 16 Grad über den Tag. Und ich bin endgültig klimakaputt: Der Blick auf die weiterhin durchwegs sonnige Vorhersage freut mich nicht, weil es viel, viel zu trocken ist.

Was schön ist: Wenn’s mir gut geht, ich wie gestern morgens in der Arbeit den Turbo zuschalte und bis zur ersten Besprechung um 9.30 Uhr bereits das Pensum eines ganzen Arbeitstags weggewirbelt habe. (Nachdem ich am Vortag morgens vor einem ähnlichen Pensum gestanden war, aber vor lauter Überforderungsgefühl fast geweint hätte. Weil’s mir halt nicht gut ging.)

Mittags Banane, Orangen, Vollkornbrot mit Butter.

Nach Feierabend marschierte ich direkt heim, Herr Kaltmamsell hatte schon alles von unserer Einkaufslisten-App (Remember the milk RTM) eingekauft.

Beim Heimkommen überraschte ich Herrn Specht (männl. weil roter Fleck im Nacken) auf dem Balkon, der sich ordentlich reinhängte.

Eine Runde Yoga mit vielen Rumpfübungen (und vielen Lebensermahnungen, hmpf). Das Abendessen servierte wieder Herr Kaltmamsell, ich bekam LINSEN! mit Karotten und gebratenem Chorizo. Außerdem hatte er ein Rezept für gebratene Bulgurbällchen ausprobiert: Waren knusprig und locker, verlangten aber geschmacklich nach einer Sauce.

Confession Time: Ich muss mich davon abhalten, viel zu viel Geld für unnötige Kleidung auszugeben. Durch meine Appetitarmut seit fast einem Jahr habe ich seit ein paar Monaten eine Konfektionsgröße, in der mir sehr viele Kleidungsstücke stehen, die ich schön finde. Und die seit ca. 2002 an mir nie so ausgesehen hatten, wie ich das gerne gehabt hätte. Während ich diese Kleidungsstücke also 20 Jahre lang lediglich bewundert hatte, will ich sie jetzt auch haben und tragen. Wo ich doch sonst gar nicht gerne Sachen habe. Und obwohl ich doch weiß, dass diese Konfektionsgröße lediglich eine kurzlebige und vorrübergehende Angelegenheit ist. Es ist, als hätte man mir einen Figur ausgeliehen, die der gesellschaftlichen Norm-Schönheit für Frauen meines Alters nahe kommt, und ich wollte so viel wie möglich aus ihr rausholen, bevor ich sie wieder zurückgeben muss. Zum Beispiel bin ich SO kurz davor, in den Levis-Laden in der Sendlinger Straße zu gehen und nach einer 501 zu fragen – für 80er closure. Auch deshalb ist Body-Egalness ein erstrebenswertes Ziel.

Im Bett las ich weiter in Gunters Menopause Manifesto. Interessanterweise hält die Autorin den englischen Ausdruck hot flushes für genauso unpassend wie ich die deutsche Entsprechung “Hitzewallung” (oder das bayerische “fliagate Hitz'”, also fliegende Hitze).

§

Nach (!) der Lektüre hatte ich gestern nach Rezensionen und Material zu Hanya Yanagihara, A little life recherchiert. Unter anderem war ich auf ein ausführliches Interview mit Yanagihara im Guardian von 2015 gestoßen:
“Hanya Yanagihara: ‘I wanted everything turned up a little too high’”.

Ein interessanter Abgleich meiner Lese-Erfahrung mit der Autorinnen-Absicht: Ja, dieses Von-allem-ein-bisschen-zu-viel war genau Yanagiharas Ziel, um das sie eigenen Aussagen zufolge auch gegen ihren Lektor kämpfte. Spannend fand ich auch, was sie sonst über den erzähltechnischen Hintergrund des Romanschreibens sagt, sie ist eine sehr reflektierte Schriftstellerin. (Und sehr viel spannender als das Bohren von Interviewer Tim Adams nach biografischen Wurzeln ihrer Kunst.)

Hier eine weniger wohlwollende Besprechung in der New York Times, die den Roman als “voyeuristic” bezeichnet (was für eine erfundene Geschichte ein seltsamer Vorwurf ist):
“Review: ‘A Little Life,’ Hanya Yanagihara’s Traumatic Tale of Male Friendship”.

die Kaltmamsell

11 Kommentare zu „Journal Dienstag, 22. März 2022 – Die geliehene Figur“

  1. FrauC meint:

    Und wenn Sie bei Sellpy o. ä. nach einer 501 schauen? Oder, falls Sie aus der “geliehenen”Größe wieder rauswachsen, entsprechende Kleidung dort wieder loswerden? Es muss ja keine komplette Garderobe sein, aber freuen Sie sich daran, dass das eine oder andere Traum-Teil an Ihnen so aussieht, wie Sie es sich wünschen!

  2. Poupou meint:

    Genau! Genießen Sie die Möglichkeiten der neuen Figur mit neuen Sachen und falls Sie die Figur wieder abgeben müssen, freut sich jemand anderes an den Sachen weiter, die sich das vielleicht neu weniger leisten kann?

    Ich freue mich tatsächlich immer sehr, wenn meine nicht mehr passenden Teile über vinted o.ä. weitergenutzt werden.

  3. marthe meint:

    Fehlender Appetit ist ein krankheitswertiges Symptom, ich hoffe Sie haben das im Blick neben dem Kuddelmuddel von dem was damit plötzlich verbunden, denn eigentlich gar nicht erwünscht aber schon immer mit Problemen bepackt war.

  4. Ninona meint:

    Die schlanke Phase ist vielleicht kurz, das Leben aber auch. Also nicht rumtun und die Jeans kaufen.

  5. Rina meint:

    Diese Kleidergroesse begleitet sie doch jetzt schon eine Weile. Warum betrachten Sie sie als “geliehen” und sind sich so sicher, dass Sie sie wieder zurueckgeben muessen? Und selbst wenn, warum sollten Sie sie nicht geniessen doch solange sie dauert? Wie die suendhaft teure Flasche Wein aus Frau Nufs YOLO Artikel.

  6. Gaga Nielsen meint:

    Was sind das denn zum Beispiel für Kleidungsstücke/Schnitte, die jetzt optimal aussehen würden (und vorher weniger…)?

  7. Croco meint:

    Man darf sich schon selbst was schenken und Freude an schwingenden Röcken und Kleidern haben.
    „Lass es zu, dass jeder sieht wie Dir die Freude steht
    und lass es zu, dass jede gute Zeit vergeht“.
    Dieses Lied von Erika Pluhar begleitet mich schon lange.

  8. die Kaltmamsell meint:

    Hiermit geht’s schon los, Gaga Nielsen, Gaucho-Hosen:
    https://www.vorspeisenplatte.de/speisen/archiv/220304_609060.jpg
    Und alles, was mit wenig Oberweite besser fällt.

  9. Lempel meint:

    Meiner Meinung nach sieht die Gauchohose gerade auch bei etwas fülligerer Figur super aus. Die passt doch eigentlich immer.

  10. die Kaltmamsell meint:

    Deshalb schrieb ich ja, Lempel, aussehen “wie ich das gerne gehabt hätte”.

  11. Gaga Nielsen meint:

    “…alles was mit wenig Oberweite besser fällt…”
    Muss gerade daran denken, dass viele Frauen, die abnehmen, bedauern, dass das Fett dann überall weniger wird, auch bei der Körbchengröße. Und dann mit Silikon nachhelfen. Insta-Ideal: dicke Lippen, dicke Wimpern, dicke Titten, schmale Taille, schmale Schenkel, schmale Fesseln. Beim Hintern gibts ja mittlerweile zwei Fraktionen: prominent ausladender Kardashian-Popo, aber bretthart versteht sich, oder knabenhaft schmal und knackig.

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