Journal Dienstag, 10. Mai 2022 – Mein erster Einkauf beim Käfer

Mittwoch, 11. Mai 2022 um 6:34

Ich hatte morgens ein wenig mehr Zeit, weil ich zur Terminbewältigung des Tages mit dem Fahrrad unterwegs sein würde. Also sandelte ich ein wenig überm Bloggen, ließ es zu, dass ich mich in der einen oder anderen Richtung festlas.

Weg in die Arbeit durch einen Frühsommermorgen, aber vom Radl aus keine Gelegenheit, am Himmel überm Westend nach Mauerseglern zu suchen.

Im Büro nochmal zwei Blöcke Online-Schulung, diesmal schon nicht mehr so faszinierend, restliche Arbeit dazwischen und darunter geschoben.

Eigentlich hätte ich am Donnerstag meinen nächsten Friseurtermin (ich vereinbare den immer schon beim Besuch, Abstand derzeit gut zwei Monate), doch selbst unfreundliche Betrachtung meines Spiegelbilds ergab: Alles super. Ich verschob den Termin auf Ende Mai, damit es auch wirklich etwas zu schneiden gibt.

Zum Mittagessen Pumpernickel mit Butter, Apfel, Orange.

Draußen entwickelte sich ein Frühsommertag. In diesem stieg ich mitten am Nachmittag aufs Rad in die Innenstadt: Termin bei einer neuen Gynäkologin. Ich war aufgeregt ob der Hoffnung, dass sie mich ernst nehmen, sich mit Wechseljahrhormonen auskennen, mir helfen würde.

Der Blick aus dem Wartezimmer war schon mal nicht schlecht.

Und ja: Diese Frauenärztin machte einen sehr guten Eindruck. Ich verließ die Praxis nach ausführlichem Gespräch mit echtem beiderseitigen Kennenlernen, nach Untersuchung, Blutabnahme zur Hormonbestimmung (und musste wieder auf die Waage, nachdem mir die MTA versicherte, dass mein Gewicht ein notwendiger Parameter bei der Blutanalyse sei) mit Überweisung zur Mammografie (und eindringlicher Anweisung, sie auch einzulösen), einem Termin zur Telefonsprechstunde nächste Woche für die Durchsprache der Blutuntersuchung und mit einem Rezept für ein Gel mit bioidentischen Hormonen. Ich fühlte mich euphorisch: Gute Aussichten!

Das hatte alles länger gedauert als veranschlagt (in diesem Fall ein gutes Zeichen, weil die Ärztin nach einer Bemerkung von mir spontan umgeplant hatte), daheim wartete schon Herr Kaltmamsell auf mich: Wir waren verabredet, um beim Käfer in Bogenhausen für einen sehr großzügigen Gutschein einzukaufen.

Dazu radelten wir durch einen sensationellen sonnigen und warmen Maientag – und in dichten Pulken weiterer Radler*innen, denn wir hatten auf meine Bitte die scenic route entlang der Isar gewählt. Uns pressierte es ja nicht, wir konnten einfach mit dem Radlschwarm schwimmen, die Luft und das herrliche Licht genießen.

Beim Käfer sahen wir uns ausgiebig um, durchstreiften die engen, verwinkelten Gänge des Ladens auf zweieinhalb Ebenen im Altbau in der Prinzregentenstraße (immer den Dallmayr zum Vergleich im Kopf – größter offensichtlicher Unterschied neben Enge und Verwinkelung statt Großzügigkeit: keine Touristen!). Wir kauften Fleisch, Käse, Fisch, Süßigkeiten, Aperitif und fürs gestrige Abendessen Feinkostsalate, Brot und Erdbeeren. Mit all diesen Köstlichkeiten in Rucksack und Fahrradkorb schaukelten wir die Isar entlang nach Hause.

Ich schnippelte die ersten Erdbeeren der Saison (superaromatisch), Herr Kaltmamsell richtete das Nachtmahl an.

Von oben: Geflügelsalat, Pilzsalat (mit riechbarem Trüffelöl), Artischockensalat, Krabbencocktail. Das schmeckte alles sehr, sehr gut. Nach den Erdbeeren passte nicht mehr viel Schokolade hinterher.

§

Kontrastprogramm zum Einkauf beim Käfer (mir ist sehr bewusst, wie reich und privilegiert ich lebe): Ein Artikel in der gestrigen Süddeutschen zum Thema Armut aktuell (mir gefällt u.a., dass hier mal ein Vater im Mittelpunkt steht) als Aufklärung für die Fraktion “Also wenn ICH arm wäre, wäre ich nicht lange arm” (€ – ironischerweise, denn damit können sich die Menschen, um die es in diesem Artikel geht, die Lektüre nicht leisten):
“Fünf Euro, drei Mahlzeiten – und jetzt die Inflation”.

Ende 2013 wird er offiziell erwerbsunfähig. Er bekommt seitdem eine Rente, gerade liegt sie bei 899 Euro. Seine Frau arbeitet in der Pflege, in Teilzeit, mehr geht nicht, der Rücken ist kaputt. Der älteste Sohn verdient als Auszubildender noch etwas dazu. Alles in allem aber reicht das Geld nicht zum Leben, die Familie muss aufstocken, sie bekommt Hartz IV. Knapp gewesen sei es damit immer, sagt Wasilewski, aber in den letzten Monaten habe sich etwas verändert.

(…)

Ein halbes Jahr ist es jetzt her, seit Wasilewski das erste Mal zur Tafel ging. Er ziehe sich dann eine Mütze tief ins Gesicht, sagt er, er will nicht erkannt werden. Seine Söhne wissen nicht, woher das Essen kommt, das bei ihnen zu Hause manchmal auf dem Tisch steht. Seit sechs Monaten macht Wasilewski auch seine Fahrradtouren von Discounter zu Discounter.

(…)

Für Menschen mit etwas mehr Geld mag die Inflation ein abstraktes Konstrukt sein. Für Thomas Wasilewski bedeutet sie, dass die billigsten Haferflocken jetzt nicht mehr 39, sondern 60 Cent kosten. Das Toastbrot nicht mehr 99 Cent, sondern 1,19 Euro. Hamburger, der Dreierpack, nicht mehr 3,49, sondern 4,80 Euro. Wasilewski muss bei den Preisen nicht überlegen. Er hat sie alle im Kopf, und das muss er auch. Der Hartz-IV-Regelsatz sieht pro Person monatlich 155,82 Euro für Essen und alkoholfreie Getränke vor. Das ergibt etwas mehr als fünf Euro am Tag, und es bedeutet, dass er seine Familie von weniger als 30 Euro satt kriegen muss. Das schafft er einfach nicht mehr, sagt er.

(…)

Da ist zum Beispiel die Geschichte mit den Schulbüchern. Vor einiger Zeit sollte er seinen Kindern welche für das laufende Schuljahr kaufen, er legt ein Schreiben auf den Tisch, da steht der Betrag schwarz auf weiß: für 96,94 Euro. Der Hartz-IV-Regelsatz sieht pro Kind für Bildung 1,62 Euro pro Monat vor, für alle drei zusammen also 4,86 Euro. Sie hätten darauf fast zwei Jahre sparen müssen. Am Ende erstritt Wasilewski das Geld vor Gericht. Er sagt: „Wenn es so weit ist, dass die Kinder am Unterricht nicht mehr teilnehmen können, ohne vor Gericht gehen zu müssen – ich glaube, dann ist das Ende der Fahnenstange erreicht.“

die Kaltmamsell

2 Kommentare zu „Journal Dienstag, 10. Mai 2022 – Mein erster Einkauf beim Käfer“

  1. Sabine meint:

    Der Artikel über die Armut macht wirklich wütend. Es ist mir absolut unbegreiflich, warum wir als Gesellschaft uns eine Umverteilung hin zu den Ärmeren nicht leisten wollen. Aber E-Autos noch höher bezuschussen.

    1,62 pro Kind für Bildung. Davon kann man ja nicht mal Stifte und Hefte bestreiten. Es ist beschämend für unser Land.

  2. Thea meint:

    (€ – ironischerweise, denn damit können sich die Menschen, um die es in diesem Artikel geht, die Lektüre nicht leisten).

    Immer mehr Zeitungen im Netz handhaben es genau so, und es ist mir immer wieder und immer mehr ein Ärgernis.

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