Journal Donnerstag, 23. Juni 2022 – Bachmannpreislesen, Tag 1, Bürgermeisterempfang auf Maria Loretto
Freitag, 24. Juni 2022 um 8:46Guter und ausreichender Schlaf in der Klagenfurter Ferienwohnung. Nach Duschen, Anziehen und nötigsten Reha-Übungen setzte ich mich mit Milchkaffee auf den Balkon (die Mitbewohnerin war so aufmerksam gewesen, eine Ferienwohnung mit dieser Möglichkeit auszuwählen) und machte den Blogpost fertig, las noch ein wenig Twitter nach. Auf der Tonspur ein Gemisch aus Spatzen-Tschilpen und Mauersegler-Schrillen.
Die Ferienwohnung rumpelt und klappert. Was auch immer man anfasst, vor allem Türen und Möbel, macht Lärm. Erst dadurch wurde mir bewusst, wie sorgfältig wohl alles in meiner eigenen Wohnung mit Dichtungen und Stoppern etc. gedämpft ist.
Zum ORF-Theater brach ich früh durch den milden Morgen auf, um mir durch eine vordere Position in der Schlange vorm Fernsehstudio möglichst einen Platz darin zu sichern. Doch alles war anders: Vor dem Eingang zum ORF-Theater wartete gar keine Schlange, und als wir paar Leute eingelassen wurden, musste ich mir zum ersten Mal unter vielen freien Stühlen einen aussuchen.
Beim Start der Lesungen war immer noch ein Viertel leer, ich nutzte die Sitzfläche neben mir zur Ablagen von Zeugs.
Die erste Geschichte von Hannes Stein, “Die königliche Republik”, war für mich eine New Yorker Matt-Ruff-Fanfiction, vielleicht ein wenig Michael Chabon drin – insgesamt aber ein müder Abklatsch.
Die Jury, aus der ich live bislang nur Klaus Kastberger kannte, urteilte wohlwollender, sah “Schrägheit” (Mara Delius), außereuropäische Nuancen (Kastberger), die Flucht eines einsamen in Ausgedachtes (Vea Kaiser), bemängelte aber dramaturgische Ungenauigkeit (Insa Wilke), störende Informationsvermittlung (Brigitte Schwens-Harrant), die alt-onklig bräsige Erzählstimme mit angestaubten Wörtern (Philipp Tingler – auch mich hatte der Ausdruck “Anno Schnee” in KuhlemkampKulenkampff-Zeiten versetzt, auf unangenehme Weise).
Es folgte mein Tages-Favorit: “Der Körper meiner Großmutter” von Eva Sichelschmidt. Ein präziser, durchkomponiert rhythmischer Text aus der Sicht einer Enkelin über das Sterben ihrer über 100-jährigen Großmutter und gleichzeitig über ein einfaches Frauenleben.
Die Diskussion der Jury drehte sich viel um die Strukturiertheit des Textes, das Michael Wiederstein allerdings als “hohles Konstrukt” sah. Auch die Rolle des Körpers als rotem Faden des Texts wurde viel Raum gegeben. Längere Uneinigkeit über die Funktion der Plattitüden übers Sterben, die immer wieder auftauchen.
Leon Engler las “Liste der Dinge, die nicht so sind, wie sie sein sollten”, den Gedankenstrom eines jungen Schauspielers, der nur aus Unsicherheit besteht und sich an der Enttäuschung über sich selbst entlang hangelt (ich konnte Vieles nachvollziehen). Wilke sah einen “furchtbar simplen Text”, der gleichzeitig aber eine ganze Sprachlandschaft an Anspielungen transportiere, die folgende Diskussion war uneins, was überwog – und ob die Selbstironie des Texts manche Themen verschone.
In der Mittagspause hatte ich keinen Appetit auf das mitgebrachte Brot, also gab’s nur einen Cappuccino (den ich nicht wiederholen werde, uiuiui).
Zu den Nachmittagslesungen waren die Publikumsstühle im Studio dann nur noch zur Hälfte besetzt. Ich ließ mich auf der anderen Seite der Jury nieder.
Es startete Alexandru Bulucz mit “Einige Landesgrenzen weiter östlich, von hier aus gesehen”, praktisch ohne jede Handlung, aber dicht und poetisch mit Erinnerungen. Nebengedanke: Wie lange wird es wohl dauern, bis Eingewanderte erster Generation in Klagenfurt mit anderen Themen als ihrem Eingewandertsein auftauchen? Und bei denen nicht als erstes über die “Sprachgenauigkeit” gesprochen wird, vor allem für jemanden, dessen Muttersprache nicht Deutsch sei?
Kastberger erwähnte, dass für die Rezeption des Textes ein “Sinn für Lyrik” förderlich sei, Wiederstein arbeitete als roten Faden die “Kreismetapher” heraus, Tingler mäkelte, dass sich ihm nicht erschlossen habe, warum in dieser Innerlichkeit immer noch eine Ebene hinzugekommen sei, Schwens-Harrant mochte die ständigen Schwingungen des Nachdenkens.
Den Abschluss bildete “Der Silberriese” von Andreas Moster, die Geschichte eines alleinerziehenden Baby-Vaters und Leistungssportlers. In der Diskussion fragte sich die Jury von Anfang an, wie dieselbe Geschichte aus Muttersicht rezipiert worden wäre, und war sich (mit Ausnahme der Einreicherin Vea Kaiser: “Große politische Bedeutung!”) einig: Dann wäre sie konventionell, platt und an vielen Stellen kitschig (Wilke: “Holzschnittartig.”). Uneinigkeit herrschte aber über die Glaubwürdigkeit der Leistungssportlerfigur (Kastberger: “Ich glaub dem Text kein Wort.”).
Fragen, die der erste Lesetag unter anderem offen ließ: Warum waren so wenige Menschen ins (schön kühle) TV-Studio gekommen, wo doch die Magic happens? Waren mehr der Ansicht, dass die Magic draußen bei den Lesenden happens? Sind tatsächlich einfach so viel weniger Bachmannpreisinteressierte angereist? Und: Wird das seit zweieinhalb Jahren real dominierende Thema Corona in irgendeinem Text auftauchen?
Ich spazierte durch trübe, schwüle Sonne rüber zum Lendhafen, wo die Internet-Leute meiner Bekanntschaft Lesungen und Jury-Diskussion verfolgt hatten, traf auf einen besonders lieben Internet-Menschen, den ich seit vielen Jahren nicht mehr gesehen hatte.
Nun brauchte ich aber wirklich etwas zu essen. Ich holte mir in der Innenstadt ein großes Eis.
Und schob die Brotzeit-Scheibe Brot hinterher.
Ausruhen in der Ferienwohnung, Aufarbeitung des Gesehenen mit der Mitbewohnerin (die am Lendhafen gesessen hatte), Zusammenfassung hier im Blog. In meinem Internet überwog Enttäuschung über den ersten Tag der Lesungen – wie immer, an dieser Stelle war alles in Ordnung. Vor dem Fertigmachen für die abendliche Einladung (ich trug reichlich Mückenspray statt Parfum auf) war sogar noch Zeit für eine Einheit Yoga.
Klagenfurts Bürgermeister Christian Scheider hatte ins Schloss Maria Loretto zum Empfang eingeladen. Ich nutzte den Shuttle-Service vom Neuen Platz und ließ mich im Sonderbus rausfahren.
Die traumhafte Kulisse kannte ich ja schon, und es waren wohl wirklich weniger Menschen angereist. Bürgermeister Scheider reagierte in seiner Begrüßung ausführlich auf die Rede zur Literatur von Anna Baar vom Eröffnungsabend und zählte auf, welche Initiativen Klagenfurt in den vergangenen Jahrzehnten zur Verarbeitung von grausamer Vergangenheit ergriffen habe inklusive dem Umgang mit Straßenbenennungen nach Nazi-Größen.
Reichliches warmes Buffet, ich aß große Mengen Braten, Serviettenknödel, Beilagengemüse, dann einen ausführlichen Teller vom Dessertbuffet (Kaiserschmarrn, Apfelkuchen, Eaton Mess mit roten Johannisbeeren – letzteres schmeckte so gut, dass ich es nachbauen möchte). Dazu Hugo, Weißweinschorle, Plaudern mit lang nicht getroffenen Internetmenschen.
Als sich der Garten leerte, ging ich gegen elf wie geplant zu Fuß zurück: Auf dieses Stündchen entlang dem nächtlichen Lendkanal hatte ich mich nach dem Bewegungsmangel des Tages sehr gefreut. Es war dann auch sehr schön; am Hotel Seepark blieb ich mit einer eben per Rad überholenden Internetfreundin stehen und lauschte eine Weile einem überraschend vielstimmigen Froschkonzert.
die Kaltmamsell4 Kommentare zu „Journal Donnerstag, 23. Juni 2022 – Bachmannpreislesen, Tag 1, Bürgermeisterempfang auf Maria Loretto“
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24. Juni 2022 um 11:04
Im Seepark-Hotel bin ich beruflich immer wieder gerne (Kärntner Reindling beim Frühstücksbuffet), neben den Fröschen gehören da wohl auch die recht frechen Krähen (Dohlen?), die einem ungschaut das Essen vom Teller schnappen, zur Belegschaft.
24. Juni 2022 um 11:18
Ku
hlenkampFFhttps://de.wikipedia.org/wiki/Hans-Joachim_Kulenkampff
…falls das Urgestein Hans-Joachim Kulenkampff gemeint sein sollte :-)
24. Juni 2022 um 20:52
Huch, Gaga Nielsen, selbstverständlich.
24. Juni 2022 um 22:13
Ja, der Name ist schwierig…!
K u l e n k a m p f f
(also nicht KuHleMkampff)
Wobei es noch nicht als Rechtschreibschwäche gilt, extravagante Eigennamen historischer Fernsehprominenz nicht in Perfektion zu schreiben. Copypasten wäre da natürlich eine sichere Nummer gewesen, aber der ehrgeizige Versuch, den Namen eigenständig hinzukriegen, spricht für einen doch irgendwie originären Bezug und ist durchaus löblich :-)
(Frankenfeld wäre entschieden einfacher gewesen! Allerdings wiederum Stolperpotenzial Richtung Franckenfeldt.)