Journal Dienstag, 25. Oktober 2022 – Erinnerungen an das meiste Geld und die meiste Zeit
Mittwoch, 26. Oktober 2022 um 6:31Wieder eine Nacht lang gut geschlafen – dennoch fühlte ich mich fast den ganzen Tag über matt und müde. Meine Montag angedengelte Nase sah ein wenig nach Auseinandersetzung mit einer Hauskatze aus.
Erinnerungen auf dem Weg in die Arbeit (es wurde hell zu immer schönerem Wetter):
Das meiste Geld im Leben hatte ich im ersten Jahr meines Zeitungs- und Rundfunk-Volontariats: Ich war 19 und hatte zuvor über 50 Mark Taschengeld im Monat verfügt (plus Ferienjob), jetzt bekam ich über 1000 Mark. Und auch wenn davon Miete für ein Zimmer mit Bad- und Küchennutzung wegging (ich erinnere mich an etwa 200 Mark): Ich hatte Geld! Wie! Heu! Konnte mir JEDES Buch kaufen, das ich lesen wollte, selbst wenn es gerade herausgekommen und teures Hardback war! Konnte mir im Supermarkt JEDES Lebensmittel leisten, auf das ich Lust hatte! Konnte mit Freund*innen ausgehen und sogar ein DRITTES Getränk bestellen! So oft ich wollte! Dieses Gefühl, im Geld geradezu zu schwimmen, hatte ich erst Jahrzehnte später wieder als Managerin in der Industrie – und dann war es durch das schlechte Gewissen der kompletten Unverhältnismäßigkeit getrübt.
Die meiste Zeit im Leben hatte ich zu Beginn meines Studiums. Ich wohnte im ersten Semester in Augsburg erst mal in der Wohnung einer Studierenden, die für ein Auslandssemester in Italien war – mitten in der Stadt an der Barfüßerkirche. Eben hatte ich zwei Jahre Zeitungs- und Runfunk-Volontariat abgeschlossen, in das ich mich mit enormem Vergnügen und mit aller Energie reingehauen hatte, so viel an Terminen und Aufgaben reingepackt, wie man mich ließ. Zudem hatte ich gerade eine Kraft beanspruchende Beziehung beendet.
Und jetzt saß ich in einem liebevoll, aber nicht von mir eingerichteten Dachgeschoß, fand mich mit dem komplett fremden Phänomen “Studium” zurecht (ich war die erste in der Familie – erst vor wenigen Wochen erfuhr ich von Herrn Kaltmamsell, der ebenfalls in Augsburg studiert hat, dass es vor Vorlesungsbeginn eine Einführungswoche für Erstsemester gegeben hätte), lernte hin und wieder neue Menschen kennen, hatte aber vor allem: Zeit! Wochenenden ohne Termine, oft mit Bahnfahrt zu meinen Eltern und deren Waschmaschine, große Teile der Arbeitstage zur freien Verfügung. Zu den Seminaren und Übungen radelte ich raus an den Uni-Campus, plauderte in der Cafete, recherchierte in der Bibliothek, alles ganz gemütlich. Hin und wieder erstellte ich freiberuflich Radiobeiträge. Abende, an denen ich einfach strickte und Radio hörte, ohne dass irgendwer irgendwas von mir wollte. Zeit, in aller Ruhe Kochen und Essen zu planen, dafür nach Zutaten zu suchen. Bücher zu lesen, stundenlang. Dafür in Remittenden mehrerer Buchläden zu stöbern. Briefe an Freundinnen in anderen Studienorten zu schreiben. Freundinnen zu treffen, Freundschaften zu beginnen.
Mir ging es gut. Damals dämmerte mir die erste Ahnung von etwas, was sich über die Jahre bestätigen sollte: Allein bin ich am daheimsten.
Mittags spazierte ich wieder zu einem Cappuccino, wehende offene Mantelschöße, weil es meinen Ledermantel eigentlich gar nicht brauchte.
Mittagessen im Büro: Apfel, Granatapfelkerne, Muesli mit Joghurt.
Sonniger Nachmittag.
Auf dem Heimweg kaufte ich zum ersten Mal seit Studienjahren eine Topfpflanze (der jetzige Bestand kommt gesamt von meiner Mutter). Ich hatte mir fürs Schlafzimmer etwas großes Grünes gewünscht, und jetzt stand ein Gestell voll davon vor einem Discounter. Sie heißt Oleanderfeige und wurde als neue Mitbewohnerin herzlich willkommen geheißen.
Noch schönerer Laubbläseranblick als mittags im Westend: In einem Bürovillen-Vorgarten die stark aussehende, nicht mehr junge Frau, dicke und leuchtend roten Locken hintergebunden, im linken kräftigen Arm den lärmenden Laubbläser, in der rechten Hand eine Zigarette, die sie gerade zum Mund führte.
Mit Yoga überforderte ich mich gestern ein wenig: Mady Mittelstufe, probiere ich aber nochmal.
Nachtmahl war gebratener Chinakohl mit gestampften Kartoffeln vermischt, beides Ernteanteil. Danach reichlich Lebkuchen und Schokolade.
§
Stefan Leonhardsberger, der Comedian (und, wie ich bei passender Gelegenheit erfuhr, seit 2010 Ensemblemitglied des Stadttheaters Ingolstadt), wurde mit seinem “How presidents walk” VON STEPHEN FRY LOBEND RETWEETET! (Ja, das sind die Highlights in meinem traurigen Leben.)
Auf Leonhardsbergers Tiktok habe ich entdeckt, dass er auch alle typischen Tanzstile weißer Männer kennt.
die Kaltmamsell6 Kommentare zu „Journal Dienstag, 25. Oktober 2022 – Erinnerungen an das meiste Geld und die meiste Zeit“
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26. Oktober 2022 um 6:50
“Allein bin ich am daheimsten.”
Danke … Sie sind nicht die Einzige, der es so geht.
26. Oktober 2022 um 7:50
Liebe Beate, genau das wollte ich auch gerade schreiben. Liebe Kaltmamsell, vielen Dank für diesen wundervollen Satz!
26. Oktober 2022 um 8:38
VIELEN DANK für die Präsidenten (wer dächte dabei nicht an das ministry of silly walks) …. großartig. Jetzt beginnt mein Tag fröhlicher!
26. Oktober 2022 um 9:56
Unter der Kirche merkte ich erst im vierten Absatz: You’re not in Augsburg anymore ;-)
26. Oktober 2022 um 9:59
Glückwunsch zur neuen grünen Mitbewohnerinnen! Bei uns steht so ein Exemplar, das ich in Volontariat (wahrscheinlich 1993) mal für 3 Mark gekauft habe. Billiger, weil “Pflegefall”, wie der Verkäufer sagte. Passte damals bequem in den Fahrradkorb, wuchs und wuchs – seither sind mehrere große Büsche draus geworden, die immer mal gestutzt werden müssen, um nicht riesig zu wuchern. Also: ziemlich pflegeleicht und unkaputtbar!
27. Oktober 2022 um 20:12
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Gerne gelesen
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