Journal Samstag, 25. März 2023 – Harz 1: Samstags ist es nach Goslar weiter als nach Paris
Sonntag, 26. März 2023 um 8:33Eine gute, erholsame Nacht.
Wir machten uns zeitig auf den Weg zum Hauptbahnhof: Nach Goslar braucht man zumindest samstags von München aus mit dem Zug länger als nach Paris, nämlich mehr als sieben Stunden.
Im ICE (wieder einen Fensterplatz fast ohne Fenster erwischt) las ich die Wochenend-Süddeutsche, das Magazin vom Freitag (Herbert Grönemeyer war mir im Interview über seine Liedtexte sehr sympatisch – € – “‘Die Selbstzweifel, die uns ausmachen – die hat die Maschine nicht'”), dann las ich Theresa Hannig, Pantopia aus, gefiel mir bis zum Ende gut.
Umsteigen in Halle an der Saale. Herr Kaltmamsell hatte hier vorsichtshalber genügend Zeit eingeplant, selbst mit etwas verspäteter Ankunft konnten wir im Bahnhof noch gemütlich Mittags-Cappuccino trinken.
In der weiterführenden Regionalbahn nach Goslar frühstückte ich gegen zwei Äpfel und Hüttenkäse.
Am Nordrand des Harzes sehr dekorativ blühende Schlehen – und immer wieder Regenschauer.
Ganz nach Goslar brachte die Bahn uns dann doch nicht: In Vienenburg überraschte uns eine Durchsage, der Zug ende heute hier, in 20 Minuten gebe es eine Verbindung nach Goslar. Nach Start unserer Reise um halb neun kamen wir also viertel nach vier in Goslar an – und wurden von dem dorthin ausgewanderten Freund in die Arme geschlossen. Gleich mal eine Runde durch die wirklich bezaubernde und lebendige Innenstadt zu unserer Ferienwohnung.
Reichsadler im Wienerwaldhendl-Format.
Wir bezogen unsere kleine Ferienwohnung um die Ecke vom Marktplatz: Sauber, gemütlich, gut heizbar, einzig die Internetverbindung war extrem schnarchig – ich ging irgendwann lieber über mein Smartphone als Hotspot online.
Fürs Abendessen hatten wir auf Empfehlung in einer Wirtschaft ums Eck reserviert. Umgeben von ausgestopften Tieren (Füchse, Hexen, Auerhähne, Osterhasen) aßen wir Harzer Cordon bleu (sieh an: Harzer Käse eignet sich zum Füllen und Schmelzen) mit ausgezeichnetem Kl. gem. Salat. Dazu ein dunkles Bier vom Fass, danach von der Schnapskarte ein “Grubenlicht” zu Ehren der hiesigen Bergbautradition – das sich als Kräuterlikör entpuppte.
Speisenkarte ebenso wie die Anleitungen in der Ferienwohnung auf Deutsch, Englisch und Dänisch – dass Dänen im Harz gern Urlaub machen, kannte ich von meiner einstigen beruflichen Kopenhagen-Verbindung. Aber weiß jemand, warum?
§
Theresa Hannig, Pantopia.
Ich hatte zu diesem Roman von 2022 auf Empfehlung gegriffen, weil es hier um eine KI geht, die die Welt gründlich verbessert, also um eine Technik-optimistische Utopie: Welch erleichternde Alternative zu den üblichen Szenarien in der Fiktion, ob literarisch oder mit bewegten Bildern, in denen Technik, Roboter und vor allem künstliche Intelligenz selbstverständlich und notwendigerweise in den Weltuntergang führen, mindestens aber in die Unterjochung der Menschheit.
Die Geschichte fängt mit dem Ende an: Im Prolog spricht die KI und berichtet von der Welt, die sie ermöglicht hat. Menschenrechte sind Wirklichkeit geworden, alle Preise rechnen die realen Kosten mit ein, also auch Belastung von Umwelt, Menschen und Zukunft, Nationalstaaten sind aufgelöst, die Menschen haben begriffen, was gut für sie ist. Die Spannung der jetzt einsetzenden Handlung entsteht durch die Frage, wie das möglich wurde. Gleichzeitig etabliert dieser Prolog die Prämisse, die eine Leserin als suspension of disblief schlucken muss: Menschen sind vernunftgetriebene Wesen, sie müssen nur erklärt bekommen, was wirklich gut für sie und die Menschheit ist, dann handeln sie entsprechend.1
Die eigentliche Handlung: Die beiden jungen Programmierer*innen Patricia Jung und Henry Shevek beteiligen sich mit ihrer rudimentären KI am Wettbewerb einer Investment-Firma, die nach Software für Börsenhandel sucht. Unbeabsichtig schaffen sie die erste wirklich starke künstliche Intelligenz – Einbug.
Einbug begreift schnell, dass er, um zu überleben, nicht nur die Menschen besser kennenlernen, sondern auch die Welt verändern muss. Zusammen mit Patricia und Henry gründet er deshalb die Weltrepublik Pantopia. Diese Idee und der Plan ihrer Umsetzung sind nach der ersten Hälfte des Buchs etabliert – ich war darauf gefasst, mich ab jetzt zu langweilen. Doch Hannig schafft es, jetzt den eigentlichen Spannungsbogen zu beginnen, durch Hindernisse bei der Umsetzung, Feinde, Missverständnisse, ganz klassisch. Dabei wechseln sich wie von Anfang an immer wieder personale Perspektiven von handelnden Figuren mit Kapiteln ab, in denen die KI spricht. Sprachlich und erzähltechnisch insgesamt konventionell, doch bei mir funktionierte das.
Abzug gibt es für die Charakterzeichnungen der Hauptfiguren: Sie bekommen keinen Hintergrund, sie werden erzählt, nicht gezeigt.
§
Lars Reineke erzählt in seinem Blog eine Begegnung mit einer greisen Frau – nachts, an seiner Wohnungstür.
“‘nen weichen Keks”.
- BUAHAHAHAHA! [↩]
9 Kommentare zu „Journal Samstag, 25. März 2023 – Harz 1: Samstags ist es nach Goslar weiter als nach Paris“
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26. März 2023 um 9:01
“…dass Dänen im Harz gern Urlaub machen, kannte ich von meiner einstigen beruflichen Kopenhagen-Verbindung. Aber weiß jemand, warum?”
Vermutlich, weil der Harz, von Dänemark aus gesehen, das nächste (Mittel-)Gebirge ist. So wie für die Holländer das Sauerland.
Einen schönen Urlaub!
26. März 2023 um 9:06
Ich vermute das es mit den Dänen im Harz wohl die gleiche Bewandtnis hat wie mit den Niederländern im Sauerland (eine Bewandtnis die sich durch den Klimawandel inzwischen erledigt hat, aber die ganzen Schilder hängen halt noch), es ist bzw. war in vergangenen Jahrzehnten für sie das geographisch am günstigsten erreichbare Mittelgebirge zum Skifahren.
PS: „Samstags ist es nach Goslar weiter als nach Paris“ klingt wie der Titel eines Popliteratur-Romans aus den frühen 2000ern.
26. März 2023 um 9:09
Auf Mastodon bekam ich diese Erklärung für die Dänen im Harz angeboten (große Welle in den 1960ern mit Wohnwagen zu einem Campingplatz, lebendige Blocksberg-Erzählungen):
https://nordicwannabe.com/2022/07/harz-und-die-daenen/
Vergleichbar mit dem selbstverstärkenden Strom von italienischen Touristen auf deutsche Christkindl-Märkte?
26. März 2023 um 10:49
„Ein kleines, etwas abseitiges Skigebiet voller Norddeutscher, Dänen und Holländer, die nicht alle schon auf Brettern auf die Welt gekommen sind und entsprechend wenig Gewese darum veranstalten.“
Frau Diener über Braunlage, sehr anschaulicher Selbsttest 2015 https://m.faz.net/aktuell/reise/deutscher-schnee-1-weisser-rausch-am-wurmberg-13381708.amp.html
Auch in ihrem Buch „Ab vom Schuss“ ist dem Harz ein Kapitel gewidmet.
Gute Zeit dort!
26. März 2023 um 15:23
Eine schöne Geschichte mit dem Keks.
Wir hatten im Dorf eine demente ältere Dame, die immer wieder entwischte und Ausflüge über Feld und Flur machte. Jeder, der sie erkannte, sammelte sie auf und brachte sie heim.
Sie erzählte immer, sie müsse zum Arzt. So kam es vor, dass Leute, die sie aufgabelten und nicht kannten, sie in diversen Arztpraxen ablieferten.
26. März 2023 um 19:13
Aus eigener Erfahrung (Ferienarbeit) bei meiner Tante, die von den 50gern bis 80gern im Südharz eine Pension betrieb: Pipilotta, Frau Zimt und Anne liegen richtig. Für Dänen war der Harz damals ein richtiges Bergland mit dunklen Wäldern und Schnee im Winter. Die Gäste kamen in grossen Reisebussen (Tantes Pension war eher nicht high end), wurden von meiner Tante mit Hausmannskost schlesischen Ursprungs versorgt und wohnten in einem in Eigenregie erbauten Anbau des ursprünglichen Fachwerkhauses.
27. März 2023 um 7:58
Ich hätte gerne ein Foto von den ausgestopften Hexen gesehen. Geht ihr beide da nochmal hin? ;-)
27. März 2023 um 8:30
Wir waren erschüttert, Joël! Ganz sicher nicht.
28. März 2023 um 8:58
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Genau!
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